70 • Ciana
Warmes Blut fließt über meine Finger und tropft in einem gleichmäßigen Takt auf den Boden. Viel zu viel. Ich versuche die Tränen zurückzuhalten, doch ich kann nicht. Da sind die Erinnerungen an Fenix, an meine Eltern, an zu viel Leid und Tod. Selbst wenn ich jetzt stark sein will, ich kann es nicht mehr.
"Scheiße, nein!" Cosmo stolpert zurück, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und fasst das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen auf. Angst glänzt in seinen Iriden, nichts als die blanke Angst ein Mörder zu werden. Er ist also wieder er selbst - und damit habe ich offensichtlich mein Ziel getroffen. Es erfüllt mich nicht ansatzweise mit so viel Erleichterung wie ich dachte. "Ich..."
Er war manipuliert. Bis vor wenigen Sekunden noch, dabei hatten wir geglaubt, dass Xavians Vater die Kontrolle über ihn hatte. Jetzt trägt Janus das Ergebnis unseres Irrtums auf seinem Körper und Cosmo den Schock in seinen Adern.
"Cosmo, hilf mir", flehe ich ihn an, während Janus' Hand nach meiner sucht, als wolle er sich am Leben festklammern. "Bitte."
Ich schaffe das nicht alleine. Ich kann keine Leben retten, das konnte ich noch nie. Ein unverständliches Murmeln dringt zu mir, während ich meine Finger fester auf die Wunde presse, doch dann ist Cosmo bei mir.
Hektisch schubst er mich zur Seite, verschafft sich Platz. Ich lasse ihn. Er ist der Experte, nicht ich. Er weiß, wie fatal die Schusswunde nur knapp unterhalb der Brust sein kann. Wie es um den Mann steht, der sich in letzter Sekunde vor mich geworfen hat, weil er Xavian sein Wort darauf gab, mich zu beschützen. In diesem Moment frage ich mich, ob ich Xavian jemals wieder in die Augen schauen kann, sollte Janus das hier nicht durchstehen. Denn auch wenn ich dankbar dafür bin, dass da Menschen in meinem Leben sind, die sich tatsächlich um mein Wohlergehen scheren, ist dies nicht der Preis, den ich zahlen will. Mein Leben, sein Tod - auch wenn Xavian es vielleicht nicht so benannt haben mag, weiß er, dass Janus zu seinem Wort steht, selbst wenn dies sein letztes Versprechen bedeuten könnte.
"Erste Maßnahme: Blutstillung", faselt Cosmo vor sich hin. Verstanden. Blutung stoppen. Ich springe auf, renne blindlings den Flur entlang und schnappe mir den gesamten Kasten, den Cosmo im Bad zurückgelassen hat. Das muss doch helfen. Irgendwie. Cosmo wühlt darin herum, sodass verschiedenste Utensilien wild durch die Luft geschleudert werden. "Das nicht, das auch nicht ... hier."
Während er sich vertieft in die Arbeit stürzt, widme ich mich Janus. Er ist noch bei Bewusstsein, wirkt so ruhig wie sonst auch immer, wären seine Augenbrauen nicht vor Schmerzen zusammengezogen.
"Ich sollte Geld dafür verlangen, Zielscheibe zu werden."
Es mag die scheinbar komischste Situation sein, um zu erleben, wie er sich an ein wenig Humor probiert, doch es entlockt mir eine Mischung aus Schluchzen und Kichern.
"Du würdest gutes Geld damit machen", stimme ich ihm zu und streiche ihm seine verschwitzten Locken aus der Stirn. Die Berührung ist viel zu vertraut, erinnert mich augenblicklich an Fenix' Haare. "Aber am liebsten wäre es mir, wenn du bald wieder mit mir in der Manege stehst."
Meinetwegen auch wieder als Kollegen, die vortäuschen, sich nur flüchtig zu kennen, als würden sie nicht nachts gemeinsam gegen Gesetze verstoßen. Zurück zu der strikten Trennung, wie sie Snow Creeks Fundament ohnehin aufweist.
"Da wäre ich sofort wieder dabei."
Er drückt meine Hand, verzieht die Lippen zu einem zuversichtlichen Lächeln. Die Unmenge an Blut auf Cosmos Pullover widerspricht ihm schweigend. Es hört nicht auf. Sehnsüchtig blicke ich zur Tür. Komm schon, Xavian. Wir brauchen dich. Dabei weiß ich nur zu gut, dass er bereits hier helfen würde, gäbe es nicht ein schwerwiegenderes Problem. Wer verhindert noch immer den Abzug der Armee? "Als Diebin..."
Janus stockt, presst die Lippen zusammen und sperrt den Schrei dahinter ein, also Cosmo eine ruckartige Bewegung macht.
"Als Diebin?", hake ich nach, um ihn bei mir zu behalten. Weg von Cosmo und seinem Werk, weg von den Schmerzen.
"Als Diebin riskierst du bitte nie wieder dein Leben, Ciana." Er stöhnt, krallt seine Fingernägel in meine Handfläche. "Du brauchst es nicht mehr."
So sehr seine Worte auf Fenix' Tod verweisen, muss ich ihm zustimmen. Dieses riskante Unterfangen war aus der Not heraus, Medizin auftreiben zu müssen. Diese Not hat ein Ende, auch wenn ich viel lieber jede Nacht mein Leben aufs Spiel setzen würde, als mich der Stille seiner ewigen Abwesenheit aussetzen zu müssen.
"Versprich es mir", fordert er.
Ich nicke, beiße mir auf die Zunge. Für diese Worte bin ich noch nicht bereit, denn sie werden Fenix endgültig aus meinem alltäglichen Treiben verbannen.
"Versprich du mir, dass wir gemeinsam die Ansagen des Direktors durchstehen. Oder dass du diese gigantischen Feuerwolken ausspuckst, als wolltest du das ganze Zelt abfackeln."
"Wollte ich ja auch immer."
Cosmo flucht. Laut. Lange. Gar nicht gut. Ich wage keinen Blick zu ihm, um die Hoffnungslosigkeit nicht bestätigt zu bekommen.
"Hör mir zu, Ciana", röchelt Janus. Mir wird schlecht vor Angst. Jede Wette, dass dies seine letzten Worte einleitet. "In meiner Wohnung ist noch Diebesgut. Unter der losen Diele-"
"Ich will das nicht hören", platzt es aus mir heraus. Ich möchte nicht wissen, wie ich mich im Notfall über den restlichen Winter bringen könnte, bis meine Hand verheilt ist und ich wieder in den Zirkus kann. Wenn wir an diesem Punkt sind, hat Janus selbst schon mit seinem Leben abgeschlossen.
"Aber du wirst." Widerwillig schließe ich den Mund. Ich werde ihm nicht mehr seiner Energie abverlangen als unbedingt notwendig. "Nimm dir alles. Jede Münze. Du hast ein sorgenfreies Leben verdient."
"So beginnt kein sorgenfreies Leben", flüstere ich, verfolge gebannt jede Regung. Er schließt die Augen, die Lider zucken, seine Gesichtszüge werden weicher. Bitte. Nicht. "Ich will unser Diebesgut nicht, Janus. Ich will doch nur..." Dass du überlebst. Eine Konstante. Dass jemand endlich mal bleibt. In meinem Kopf klingen die Worte so verzweifelt wie ich mich fühle. Wieder einmal. Weil der Tod mein schlimmster Feind ist, der mir kaltblütig jeden nimmt.
Janus sagt nichts mehr, sein Brustkorb hebt und senkt sich noch immer und vermischt sich mit dem Schmatzen von Fleisch und Blut. Ich weiß nicht, was Cosmo da gerade genau macht, aber es sieht aus, als wolle er die Eingeweide hervorholen. Wie lange wird das Herz in Janus' Brust noch schlagen? Wie lange noch, bis sein Körper dem nicht mehr trotzen kann? Leidet er noch, wie es Fenix tat, oder birgt die Ohnmacht Erlösung?
"Danke, dass du mir eine treue Seele warst."
Seit meiner Kindheit. Seit ich das erste Mal den Vorhang zur Seite schlug und diesem riesigen Jungen gegenüber stand, der mich hinter seinen Locken aufmerksam musterte. Erst recht, als er mich in die Bande aufnahm, ohne von Fenix' Not wissen zu müssen. Man merkt erst, wie schön selbst die bittersten Momente waren, wenn der Tod bereits über uns schwebt. Ich kann nicht mit ansehen, wie dieser Kampf ausgeht. Ich kann es einfach nicht mehr.
Ob meine leise Entschuldigung Janus oder Cosmo gilt, kann ich nicht einmal selbst beurteilen, aber ich stürze davon, als mich die Wände des Raumes von allen Seiten einkesseln und mir die Luft rauben. Als meine Finger zittern, als wollten sie ganz Snow Creek zum Beben bringen. Ich bin ein Feigling, weil ich ihn jetzt alleine lasse. Selbstsüchtig und schwach.
Tränen verschleiern mir die Sicht, lassen mich die Treppe hinabstolpern. Raus hier, einfach raus aus dieser Enge, die mir die Brust verschnürt. Atemlos wähle ich den Seiteneingang, fange mich am Geländer ab und ersticke den Schrei im Ärmel meines Kleides. Wieso zum Henker? Wieso wird die Liste der Namen und Erinnerungen in meinem Leben immer länger, während die Zukunft immer leerer wird? Wieso?
Akribisch zerreibe ich den Schnee zwischen meinen Fingern, befreie jede noch so kleine Falte von seinem Blut. Zu der roten Pfütze auf den Stufen schieben sich viel zu feine Schuhe, um von jemanden zu sein, den ich gerne sehen würde. Dabei muss ich noch nicht einmal den Blick anheben, um die beigefarbenen Stiefeln mit halsbrecherisch hohen Absätzen Naomi zuordnen zu können. Ist ein Moment Ruhe denn zu viel verlangt?
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