68 • Ciana
"Du machst mich wahnsinnig", tadelt mich Janus, dennoch blickt er auf die Meute unter uns. Entlang der schneebedeckten Allee vor dem Rathaus tummeln sich gewiss hunderte Adler. Ein paar von ihnen kenne ich vom Sehen, aus der Bar, aus dem Zirkus, von der Gedenkfeier. Rogan kenne ich mehr, als mir lieb ist. Daneben steht eine zierliche Frau, völlig in Schwarz. Das Gesicht ist unter dem mit Tüll und Schleife versehenen Hut nur zu erahnen und doch bin ich mir sicher, dass es Xavians Mutter ist, so lange, wie sie einander anschauen.
Hibbelig trommeln meine Finger auf das Fensterbrett, immer wieder. Warum sagt er nichts? Habe ich ihn mit der kurzen Nachricht auf seinem Zettel aus der Spur gebracht? Fürchtet er sich davor, dass er die noch kürzlich manipulierten Adler in ihrer Verwirrung nicht überzeugen kann? Oder trägt jedes Wort auf seiner Zunge den widerlichen Geschmack des Verrats am eigenen Blut?
"Kann mich nicht daran erinnern, dass er nicht nur seine Erinnerungen, sondern auch seine Worte verloren hat", nuschelt Janus und reibt über seine Bartstoppeln, von links nach rechts und wieder zurück. Er ist nervös - fast noch mehr als ich.
"Wenn dann hätte er nun beides wieder."
"Na, komm schon, Ashford, beweise es uns doch."
Ich schlucke das ungute Gefühl hinab und beuge mich weiter vor, als würde das etwas an der schon viel zu langen Stille ändern. Wann ich Janus das letzte Mal unangefochten zustimmen musste, weiß ich nicht einmal mehr, doch dieses Mal hat er recht - ich will Xavians Stimme hören, um zu wissen, was gerade hinter der regungslosen Miene vor sich geht.
Als hätte er meine stummen Gebete erhört, setzte er zum Sprechen an. Endlich. Die Erleichterung hält jedoch nur solange an, bis ich schon am ersten Wort bemerke, dass er von seiner Rede abweicht. Kein gutes Zeichen. Wozu hat er sich denn sonst ein paar Notizen gemacht?
"Eigentlich wollte ich eine Menge überzeugende Argumente aufführen, damit wir gemeinsam den Einmarsch der Armee abwenden. Angefangen bei der Pflicht um Gerechtigkeit, die uns schon die Legende der Adleraugen zuspricht, bis hin zum Leben in Reue und Schuld - und glauben Sie mir, ich weiß seit acht Jahren ganz genau, wie sich das anfühlt."
Ein erstauntes Raunen folgt Xavians Worten wie ein Echo. Nur zu gerne würde ich in das Gesicht seiner Mutter blicken, nachdem er die Morde selbst zu einer Tatsache bekennt und damit all die Verleugnungsarbeit zunichte macht. Aber sie steht da, fest an Ort und Stelle, als hätte die Kälte Besitz von ihr ergriffen und jede Bewegung unmöglich gemacht. Ist das der Schock oder hängt dies mit Xavians Abweichung von seinem Konzept ab?
"Noch so viele Gründe können das Leben tausender Menschen jedoch nicht retten, wenn in uns etwas Essentielles fehlt - und das ist Nächstenliebe."
Janus wendet mir seine Aufmerksamkeit zu, doch ich zerbarste sie gnadenlos, indem ich auf das Geschehen unter uns weise. "Konzentriere dich."
Dass ich ihn damit an seinen Grundsatz erinnere, entlockt ihm ein kurzes Murren. Für alles, was er sagen will, ist noch reichlich Zeit - später, gewiss nicht jetzt, während Xavian sein Leben auf das Spiel setzt.
"Nicht nur eine Sucht nach warmen Speisen, kuscheligen Decken und prächtigen Häusern, sondern eine Liebe, wie wir sie auch mit unserer Familie teilen, nur über die Grenzen unseres Heimes hinweg. Denn ein jeder hat Gefühle, Wünsche und Träume, selbst unsere Freunde, Nachbarn und ja, auch die Menschen der Sub Town. Wenn wir diese Nächstenliebe zu unserer Stärke nutzen, kann nichts und niemand Snow Creek spalten. Es wäre wie ein Seil, dass sich durch alle Gassen schlängeln würde und an das sich jeder für ein wenig Halt knoten kann. Irrsinnig lang, nein, noch länger, mit endlos vielen Endpunkten."
"Jetzt dreht er komplett durch", wispert Janus. Dafür ist Xavian zu raffiniert. Jedes Wort ist mit äußerstem Bedacht gewählt. Keines davon ein Zufall und damit sicherlich auch nicht, dass mir ein paar der Worte viel zu bekannt vorkommen.
Eilig lasse ich das Gewehr sinken und male mit dem Finger die Buchstaben auf das Fensterbrett. Das Erste, was mich hellhörig machte, war das schlängelnde Seil - unsere lautliche und optische Eselsbrücke für das S. Irrsinnig lang ist der Strich des I. Nein, noch länger, hatte Xavian mir lächelnd erklärt und meinen Finger im Schnee damals noch weiter in die Vertikale geführt. Jetzt benutzt er selbst diese kleinen Details, um seine Botschaft erkennbar zu machen. Das Herz hämmert aufgeregt in meiner Brust. Eine Botschaft nur für mich - was muss so dringend sein, dass es nicht warten kann?
Endlos viele Endpunkte - nur ein Buchstabe hat mich mit seinen ganzen Strichen fast in den Wahnsinn getrieben.
S I E. Sie.
"Er dreht nicht durch."
Ich schnappe mir wieder das Gewehr und analysiere, ob Xavian mir noch einen Hinweis darauf gibt, wen er damit meint. Just in diesem Moment streckt er die Hand zu seiner Mutter aus, als wolle er sie auf die Treppe bitten.
"Eine Liebe, wie wir sie immer in der Familie geteilt haben. Eine Liebe, auf die wir uns nicht einmal mehr ein Wort geben mussten."
Dass das eine Lüge ist, muss ich Janus nicht erklären. Dieser runzelt die Stirn, als versuche er angestrengt, Xavian folgen zu können.
"Seine Mutter", hauche ich, weil ich mich nicht traue, seine Stimme mit meiner zu übertönen. Er will uns etwas mitteilen, zweifelsohne. Was aber meint er damit, dass es nicht einmal mehr eines Wortes bedarf? Ist das für Janus, der so viel Wert auf sein gegebenes Wort legt?
"Rührend, mein Sohn, wirklich rührend."
In die so versteinerte Frau am Treppenansatz kommt Bewegung. Anmutig hebt sie ihr bodenlanges Kleid an und erklimmt Stufe für Stufe. Zu wissen, dass Xavian sie meint, ist ein Schritt weiter, aber noch einer zu wenig, jetzt, wo die Distanz zwischen ihnen jede Sekunde schrumpft.
Ich wirbele zu Janus herum. "Über was habt ihr gesprochen? Worauf hast du ihm dein Wort gegeben?"
"Dich zu beschützen."
Das kann nicht alles sein. Hier ist niemand, der mir eine Gefahr werden könnte. Außerhalb des Rathauses sieht es ganz anders aus, insbesondere bei dieser unnachgiebigen Autorität, die seine Mutter verkörpert und mich bereits von dieser Ferne den Kopf einziehen lässt. Sie weiß definitiv ihre Körpergröße zu überspielen und die Kontrolle zu übernehmen. Ruhig presse ich meinen Zeigefinger auf den Abzug, warte. Einen Schuss kann ich nicht mehr rückgängig machen, daher sollte ich ganz sicher sein. Xavian würde es mir niemals verzeihen, wenn ich seine Mutter erschieße, nur weil er mir sie mitteilte.
"Über was noch?", dränge ich, während die Beiden leise Worte miteinander wechseln. Statt einer Antwort nimmt Janus ebenfalls die Treppe ins Visier. "Was noch, Janus?"
"Das war es."
"Lüg mich nicht an!"
"Erzähl ihm das." Er schnaubt. "Du weißt nicht einmal, was er von mir verlangt."
"Wie bitte?" Ein eisiger Schauer ergreift Besitz von meinem Körper und nagt sich in meiner Brust fest. Ich ahnte, dass Xavian mir etwas verschwieg, aber es von Janus unter die Nase gerieben zu bekommen, ist ein Schlag ins Gesicht. "Rück jetzt endlich raus damit."
"Konzentriere dich, Ciana", lenkt er ab.
"Es geht um Leben und Tod!", fauche ich. Um jede verdammte Sekunde.
Janus knirscht mit den Zähnen, wägt seine Möglichkeiten ab. Dass wir beide auf dem neusten Stand sein sollten, hält er hoffentlich für den einzig richtigen Weg.
"Er wollte, dass ich es beende, falls er wieder in die falschen Hände - oder wohl eher Augen - geraten sollte."
Mir rutscht das Gewehr fast aus der Hand.
"Es beenden?" Wir werden alles geben, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, aber was, falls Xavian selbst wieder manipuliert werden sollte? Ich erinnere mich nur zu gut an die Worte, die er seinem Vater sagte. Ich will nie mehr eine andere Version als mein wahres Ich sein. Mir wird speiübel. Natürlich hat er es vor mir verheimlicht. Er weiß ganz genau, dass er alles ist, was ich noch habe. "Ihn selbst beenden?"
"Nicht meine Entscheidung, sondern seine."
Janus fixiert wieder die Treppe, als hätte er die kürzlich erst wiedergewonnene Stabilität meiner Welt nicht gerade mit einer Lawine überrollt. Mein Blick schweift zu Xavian hinunter und auf einmal verschwimmen sämtliche Schöpfe dort vor meinen Augen. Das kann nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein. Xavian würde diese Entscheidung niemals fällen und mich wissentlich alleine lassen. Oder doch?
Diesen Gedanken verdränge ich mühsam in die letzte Ecke meines Kopfes, um Raum für Klarheit zu schaffen. Denn so sehr ich auch rasend vor Wut und zugleich ohnmächtig vor Schock bin, steckt Xavian noch immer in Lebensgefahr. Erst recht, als die zierliche Frau ihn plötzlich grob an der Schulter packt - und ich schlagartig verstehe, warum die übrigen Adler nur teilnahmslos zuschauen, während eine Mutter ihren um Gerechtigkeit kämpfenden Sohn manipulieren möchte.
Nicht Xavians Vater hat die Gesellschaft manipuliert, sondern sie. Nicht er hatte die ganze Zeit das Ruder in der Hand, sondern sie. Ein ausgeklügelter Plan, so viel Anerkennung gebührt ihnen. Aber den Plan haben sie ohne zwei einfache Menschen aus der Sub Town gemacht, die zu viel Mist durchgemacht haben, um ihnen diesen Sieg zu gönnen.
Xavian hat sie durchschaut und Janus dazu aufgefordert, zu seinem Wort zu stehen. Doch als zügige Schritte im Gang hinter uns ertönen und der Mann neben mir einen Bruchteil des Augenblicks abgelenkt wird, drücke ich schon ab. Es wird keine Ewigkeit der Einsamkeit geben, wenn ich es selbst in die Hand nehmen kann. Der Rückstoß wirft meinen erschöpften Körper um, noch ehe ich sichergehen kann, dass ich mein Ziel getroffen habe.
Von der Ungewissheit getrieben, versuche ich auf die Beine zukommen, als Cosmo über die Schwelle tritt. Ein Gewehr in der Hand. Auf mich zielt. Und ich schon die Augen zusammenkneife, weil der Tod gerade in einer unsagbaren Geschwindigkeit auf mich zurast. Zum zweiten Mal an diesem Tag.
Doch dieses Mal ist kein Xavian da, der mir in letzter Sekunde das Leben rettet.
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