66 • Ciana

"Wie fühlst du dich?"

Xavian steht so nah hinter mir, dass ich die Wärme seines Körpers an meinem Rücken spüren kann. Es ist diese wohlige Wärme, die kein Feuer dieser Welt kreieren kann. Eine, für die ich meinen Vorsatz, alles jederzeit zu teilen, getrost über den Haufen werfe. Sollen sie sich doch alle verziehen, die jetzt noch versuchen wollen, ihn umzustimmen - nicht einmal falsche Erinnerungen konnten uns trennen.

"Wie neu geboren." Ich träufele erneut ein wenig Wasser auf das Handtuch, um die Überreste des Blutes auf meinem Gesicht zu beseitigen. Es ist ein Wunder, dass meine Nase nicht gebrochen ist. "Cosmo hat ganze Arbeit geleistet."

Im Spiegel bemerke ich, wie Xavian einen Blick auf das leere Flakon neben mir wirft - eine ganze Ration Schmerzmittel, um bei Bewusstsein bleiben zu können. Das gibt eine böse Realität, wenn die Wirkung abebbt. Weg von diesem Gedanken, sofort.

Viel lieber will ich ihn fragen, wie es ihm geht, nicht weil es sich gehört, sondern weil ich wirklich wissen will, was in ihm rumort. Was er denkt. Was er empfindet. Was gerade hinter diesen blauen Augen liegt, die mich so durchdringend mustern, als könnte er mich bis auf meine Knochen zerlegen.

"Xavian-"
"Bitte nicht." Er schüttelt knapp den Kopf. Ich verstehe sofort - er ist noch nicht bereit, offen über die Emotionen dieses noch so jungen Tages zu sprechen. Zwar ist ihm bewusst, dass sein Vater alles Andere als ein Vorbild war, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er selbst abdrückte. Stattdessen greift Xavian an mir vorbei und nimmt mir das Tuch ab. Jedes noch so kleines Stück, wo sich unsere Körper berühren, scheint in Flammen aufzugehen, kaum tupft er so sanft mein Kinn ab, dass ich unter seiner Berührung geradezu schmelzen könnte. "Es tut mir leid, dass du ihn auf diese Weise erleben musstest. Nicht, dass es irgendeine Weise an ihm gab, die vorzeigbar gewesen wäre. Ich wünschte, ich wäre eher da gewesen."

Mit seinem kleinen Finger streicht er hauchzart über das Würgemal mitten auf meinem Hals, als wolle er mir stumm mitteilen, dass er jede Verletzung wieder gutmache. Daran zweifele ich nicht einmal. Aber zuerst müssen wir den Überraschungsmoment für uns nutzen.

"Du bist jetzt hier. Und du bist wieder du selbst", bringe ich unter rasendem Herzschlag hervor. "Mehr möchte ich gar nicht."

Überrascht sucht er meinen Blick im Spiegel. Sämtliche Worte versiegen ihm noch auf der Zunge, als er den Mund öffnet und wieder schließt. Überrumpele ich ihn gerade damit? Er ist doch sonst nicht so. Wohin ist seine neckische Art verschwunden, die er immer auspackte, um die Situation aufzulockern, wenn ich über meine Grenzen ging?

Anstelle einer liebenswert scherzhaften Antwort beugt er sich vor und gibt mir einen sanften Kuss auf die Haare.
"Ich bin auch froh darüber, dass du hier bei mir bist."

Gedankenverloren streicht sein Daumen über meine Unterlippe, obwohl die Reste des Blutes dort schon längst beseitigt sind. Wir sehen so vertraut miteinander aus, als wäre es nie anders gewesen, dennoch schlucke ich schwer. Was betrübt ihn? Nein, vielmehr, was betrübt die Verbindung zwischen uns?

"Bist du aufgeregt?", wechsele ich schleunigst das Thema, bevor er in seinen Gedanken abtauchen kann, derweil mir ein bitterer Gedanke kommt. Haben sich seine Gefühle für mich geändert? Aber würde er dann wirklich hier stehen und mich mit genau diesem Blick ansehen, den er immer dann hatte, ehe er mich um meinen Verstand küsste? "Wegen der Rede?"

Er legt das Tuch gänzlich ab und dreht mich an der Taille zu sich herum. Sein Atem streift über meine Stirn, so nah steht er, und doch liegt irgendetwas wie eine unüberwindbare Mauer dazwischen. Ich spüre es, ich weiß es - dazu kenne ich Xavian zu gut. Ich will es einschlagen, die Reste für immer wegkehren, aber diese Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern bei dem Mann, der verdammt lange seine Antworten überdenkt. Zu lange. Zu untypisch für ihn. Über was haben Janus und er gesprochen?

"Ich hoffe nur, dass alles gut geht."
Wenn er mir etwas verheimlicht, wird er gewiss einen guten Grund dafür haben, doch ich halte dieses Spiel nicht noch einmal aus. Er glaubt aus seinen Fehlern gelernt zu haben? Dann möchte ich jetzt die ganze Wahrheit, keine weitere Lüge.

"Was hat Janus gesagt?"
"Nicht viel." Er grinst, aber es gleicht eher einer Grimasse. "Gesprächig ist er ja nicht. Aber sei dir sicher: Janus ist ein Mann seines Wortes. Er geht sicher, dass dir nichts passiert."
Dessen bin ich mir nur zu sehr bewusst. Janus hat, bis auf den Moment, in dem er manipuliert war, immer das getan, wofür er steht und worauf er sein Wort gab.
"Ich hoffe doch, nicht nur mir?"
"Er hat auch ein Augenmerk auf mich."

Zu hören, dass die beiden sich offensichtlich einigen konnten, beruhigt mich angesichts der bevorstehenden Rede ungemein. Ich bin sicherlich keine gute Schützin, aber zu wissen, dass Janus alles geben wird, um Xavian zu beschützen, ist ein Segen. Zugleich auch eine Hoffnung, dass Xavian und ich noch eine Gelegenheit bekommen werden, all das zu klären, wofür nun keine Zeit mehr ist. Denn auch wenn ich nur allzu gerne wüsste, was ihn gerade bedrückt, hat das ungeduldige Klopfen an der Türe andere Pläne. Und so atmet Xavian tief durch, streicht mir kurz über die Arme und schenkt mir ein Lächeln, das seine Augen nicht erreicht.

Was habe ich falsch gemacht?, will ich ihn fragen, doch mit diesem unterschwelligen Vorwurf, nicht einfach komplett ehrlich zu sein, werde ich ihn sicherlich nicht auf die große Bühne schicken. Vielleicht sind es wirklich nur die ganzen Emotionen, von denen er noch keine richtig fassen kann. Vielleicht ist es das Wissen, dass seine Mutter gleich in der Menge stehen wird und sich alles zusammenreimen kann, wenn ihr Mann nicht die überzeugende Rede schwingen wird.

"Leute, könnt ihr das auf nachher verschieben?", dringt Cosmos überzogen genervte Stimme zu uns. "Die ersten Adler sind da und wir finden den Schlüssel nicht, um ... ein gewisses Zimmer zu verriegeln."
"Wir kommen", ruft Xavian in Richtung der Türe, während sein Blick unablässig auf mir liegt. Für einen kurzen Moment habe ich den Eindruck, er präge sich jedes Detail nochmals ein, fast so, als fürchte er sich vor dem Nahenden und der kleinen Gefahr, dass wir einander nicht mehr wiedersehen könnten. Nein, das werde ich mit allen Mitteln verhindern und wenn ich selbst mehrere Adler außer Gefecht setzen muss, um ihn nicht zu verlieren, dann werde ich es ohne ein Wimpernzucken erledigen.

"Xavian, ..." Ich halte seine Hand fest, bevor er sich abwenden kann. Nicht auch noch ihn. Ich kann nicht auch noch ihn verlieren. "... komm mir bitte heil wieder."

Sein Finger dreht kleine Kreise auf meiner Daumenwurzel. Ich halte den Atem an. Sag etwas, nur ein paar beruhigende Worte. Doch er neigt seinen Kopf nach vorne und legt seine Lippen auf meine. Ein kurzer Moment der Flucht aus der Realität, hinein in einen Augenblick des absoluten Friedens. Kaum zu glauben, wie mein Körper ohne ihn überlebt hat, wenn schon das Wissen, ihn gleich loslassen zu müssen, mein Herz zerfetzt.

"Das Gleiche gilt für dich, Cinderella." Ein letzter Kuss auf meine Narbe. "Lass uns Fenix stolz machen."
Obwohl da so ein mulmiges Gefühl in meinem Magen schlummert, zwinge ich mich zu einem zuversichtlichen Lächeln. "Das klingt nach einer großartigen Idee."

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