61 • Xavian

Nervös fahren meine Finger die Namensliste entlang. Auf der anderen Seite der Glasfront zieht die nächste Gruppe mit Fackeln vorbei - ich habe aufgehört zu zählen, die wievielte es ist. Die Menschen der Sub Town sind dermaßen verzweifelt, dass es sie in Richtung Norden treibt, wo sie von Soldaten empfangen werden. Zugegeben, hier wieder herauszukommen, bereitet mir jetzt schon Unbehagen. Es war nicht schwer, mir mithilfe meiner Augen einen Weg in den südlicheren Teil Snow Creeks frei zu schaufeln und doch bezweifele ich, dass ich auf dem Rückweg die Chance bekommen werde, mich mit meinen Augen als Mitglied der Gesellschaft zu beweisen, bevor sich mir eine Kugel durch den Schädel bohrt. Die ständig in der Nacht hallenden Schüsse geben mir zumindest diesen Eindruck. Es war töricht, Hals über Kopf hierher zu kommen, ohne Plan, nur mit einem Namen und einem Ziel, und doch würde ich es immer wieder machen.

Weil ich wissen muss, in wen ich mich so wahnsinnig verliebt habe, dass bloß der Anblick ihres Namens auf dem Papier mein Herz zum Beben bringt.
Ciana Levine. Erleichtert atme ich durch. Naomi hat nicht irgendeinen Namen erfunden, immerhin. Zumal Fenix direkt darunter aufgelistet wurde - das kann kein Zufall sein. Zwei Personen mit dem gleichen Nachnamen sind durchgestrichen. Waren das ihre Eltern? Muss Fenix damit in jüngster Zeit verstorben sein, sodass die Daten noch nicht aktualisiert wurden? Ich schlucke schwer. Dennoch befasse ich mich nicht zu lange damit, sondern krame die Karte hervor, die ich unter dem Tresen hervorgezogen habe, und beginne, sämtliche Gassen nach ihrer Adresse abzusuchen.

Eine Fackel wird bedrohlich nah am Fenster entlang geschwenkt. Eilig ducke ich mich. Was auch immer zwischen den Stadtteilen vorgefallen sein muss, überschreitet alles, was ich mir unter Snow Creek ist gerade kein sicherer Ort vorgestellt habe. Das Pferd habe ich sofort in der Main Town zurückgelassen, da ich es mir in diesen Gassen nicht leisten kann, mich als Teil der Gesellschaft zu enttarnen. Erst recht nicht, da die gesamte Sub Town von der Armee umzingelt wurde und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie den endgültigen Befehl erhält, den Zaun einzureißen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät für Ciana.

Soeben spure ich mit meinem Finger Linien auf der Karte nach, als die Tür der Post quietscht und bedachte Schritte zu vernehmen sind. Erschrocken hebe ich den Kopf und lausche. Hat mich jemand beim Betreten der Post beobachtet? Hat man mich bereits an den Klamotten als Mitglied der Gesellschaft identifiziert? Geräuschlos schiebe ich das Buch und die Karte zur Seite und greife nach dem Gewehr, das ich aus dem Chalet habe mitgehen lassen.

Dann auf einmal verstummen sämtliche Geräusche. Neugierig linse ich um den Tresen, doch abgesehen von mehreren Umrissen, die mit der Schwärze der Nacht verschmelzen, kann ich in diesem Gebäude nichts identifizieren. Den Staturen nach muss es sich um Männer handeln. Ich fluche innerlich - eine Frau hätte ich vielleicht noch niederringen können, während ich bei Männern entweder auf das Gewehr oder meine Augen zurückgreifen muss. Denn auch wenn ich nicht weiß, was ich die letzten Jahre wahrhaftig getrieben habe, liegt meine Expertise sicherlich nicht im Nahkampf.

Vorsichtig rücke ich tiefer in den Schatten zurück, doch meine Bewegung scheint mich verraten zu haben.
"Leg das Gewehr nieder, Ashford."

In Anbetracht der Unruhen in Snow Creek ist es sicherlich kein gutes Zeichen, dass sie mich mit dem Nachnamen kennen - damit habe ich sämtliche Chance verloren, mich als Teil des Proletariats verkaufen zu können. Unsicher hebe ich den Blick und starre geradewegs auf meine eigene Spiegelung in der Glasfront. Dem Glänzen am Eingang nach sind auch die Männer bewaffnet.

"Gleiches gilt für euch", erwidere ich und denke nicht einmal daran, mich selbst auf dem Silbertablett zu servieren.
"Du bist nicht in der Position, um Forderungen zu stellen."

Das weiß ich selbst. Ich sollte mich schon glücklich schätzen, wenn bei Verlassen der Post mein Kopf noch mit dem Hals verwachsen ist. Dennoch werde ich mich nicht geschlagen geben. Ich muss zu Ciana. Ich muss wenigstens ein paar Antworten bekommen und sichergehen, dass es ihr gut geht.
"Ich will niemanden etwas Böses", erkläre ich mich möglichst vage und warte. Schweigen ist Antwort genug. Das genügt ihnen nicht. Natürlich - ich bin eine Bedrohung, die in diesem Stadtteil nichts zu suchen hat. Aber wenn ich schon einmal hier bin, werden sie sich alle Mühe geben, möglichst großen Gewinn aus mir zu ziehen. Dass sich dieser gegen die Gesellschaft richtet, kann ich mir bereits denken. "Ich bin nur auf der Suche nach jemanden."

"Ciana ist nicht mehr hier."
Beinahe hätte ich voller Überraschung meine Deckung aufgegeben, doch meine Vernunft hält mich im letzten Moment zurück. "Du kennst Ciana?"
"Kennen?" Ein trockenes Lachen folgt. "Ja, ich kenne sie. Nicht nur flüchtig. Genau so, wie ich deine Gefühle für sie kenne und die ganze Zeit auf den einen Moment gewartet habe, indem ich dich dafür gegen die Main Town verwenden kann."

Ein leises Rascheln ist zu vernehmen. Den Bewegungen in der Spiegelung nach umzingeln sie mich von mehreren Seiten. Einer kommt von hinten, der zweite von vorne und derjenige, der offensichtlich das Sagen hat, beobachtet alles von der Seite, bereit, jederzeit einzugreifen.
"Wie schön, dass dieser Moment endlich gekommen ist."

Mit wild klopfendem Herzen wäge ich meine Möglichkeiten ab: entweder ich schieße auf mir nicht wohlgesonnene Männer und werde spätestens nach dem Krach der Schüsse bei Verlassen des Gebäudes von einer noch größeren Meute in Empfang genommen, oder ich konfrontiere sie direkt und hoffe, dass es nur bedeutet, mich als Geisel zu nehmen, wenn sie mich gegen die Gesellschaft verwenden wollen. Das wäre nicht einmal so verkehrt, immerhin ließe sich dadurch womöglich ein Massenmord umgehen.

"Ich will den Menschen hier auch nicht beim Sterben zusehen", merke ich an. "Wir können sicherlich einen Kompromiss finden."
"Einen Kompromiss? Kannst du meine Schwester etwa wieder zum Leben erwecken? Nachdem dein Vater sie mir genommen hat?"
"Mein Vater?"
Obwohl er einen Schritt näher rückt, liegt sein Gesicht noch immer im Schatten seiner hellen Locken versteckt. "Habe ich etwa gerade dein Weltbild zerstört?"

"Mein Vater würde niemals-"
"Spar dir deine Worte. Dein Vater segnet morgen in aller Frühe den Einmarsch der Armee ab. Dein Vater wird morgen die Verantwortlichen vor den Augen der Gesellschaft enthaupten. Rate einmal, wen er damit ganz nebenbei für immer aus dem Weg räumen möchte." Sie kesseln mich immer mehr ein. Dennoch schaffe ich es nicht, das Gewehr in die Haltung zu bringen, um mich zu verteidigen. Zu sehr beschäftigen mich seine Worte. "Und falls du noch immer daran zweifelst: dein Vater hat dich manipuliert."
Ich gefriere an Ort und Stelle. Also will mein Vater Ciana umbringen?

"Dann zweifele ich auch daran, dass ich euch viel bringe."
Wenn mein Vater tatsächlich verantwortlich für all das ist, was mir dieser Mann gerade verkündet, widerspricht dies komplett dem Bild, das er in meiner Erinnerung einnimmt. Aber gut, wenn er darin herumpfuschte, wundert mich dies nicht.
"Und warum hat Ciana dich dann offensichtlich nicht mehr in der Main Town gefunden? Wurde der wertvolle Sohn etwa von allen Orten ferngehalten, wo man ihn vermutet hätte, um ihn in Sicherheit zu bringen? Selbst wenn er dich nicht genug liebt, um dich für deine Gefühle zu akzeptieren, liebt er es dennoch, einen Erben zu haben."

Er gibt ein eindeutiges Nicken von sich - das Zeichen zum Zugriff. Sie preschen vor.
"Wir wollen alle nur das Beste für die Sub Town", versuche ich nochmals, ihn umzustimmen, da attackieren mich seine beiden Gefährten. Ich beobachte die Bewegungen des Mannes hinter mir im Fenster, warte bis zum letzten Moment, auch wenn mein Puls rast. Ich kann schon förmlich seinen Atem im Nacken spüren, als ich zur Seite ausweiche und ihn geradewegs auf den anderen stolpern lasse. Ein lautes Poltern zerfetzt die nächtliche Stille des Ortes, kaum donnert sein Gewehr auf den Boden.

Noch ehe ich ihm meines aufdrücken und ihn als Druckmittel einsetzen kann, ertönt ein unmissverständliches Klicken hinter mir. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter dem Tresen steht und die Waffe auf mich richtet.
"Auf die Knie, Ashford."

Dann geht es viel zu schnell. Der Mann mit den zu einem Knoten zusammengebundenen Haaren reißt das Bein vor, kickt meinen Fuß weg und zwingt mich zu Boden. Hände zerren meine Arme auf den Rücken, wieder andere ziehen mir eine Augenbinde über. Bevor ich mich auch nur ansatzweise wehren kann, habe ich nicht nur das Gewehr, sondern auch meinen Sehsinn verloren.

"Beschissenes Gefühl, nicht wahr?" Eisig kaltes Metall wird mir in den Nacken gepresst. Nur ein Fingerzucken und ich bin Geschichte. Das einzig Beruhigende an dieser Situation ist, dass ich die Gewissheit habe, wie viel mein Leben wert ist - eine tote Geisel bringt ihnen nichts. "Gewöhn dich lieber daran. Entweder dein Vater wird für Gerechtigkeit sorgen oder du wirst daran glauben müssen. So oder so wird dein Leben nicht mehr sein, wie es einmal war."

Energisch ziehen sie mich auf meine Beine. Ein grober Stoß in den Rücken, schon setze ich mich in Bewegung. Kalte Winterböen begrüßen uns vor der Post, der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Die beiden Männer flankieren mich, der Anführer navigiert mich mit weniger sachten Berührungen durch die Sub Town. Noch ehe wir die Grenze erreichen, setzt er sich ab. Nicht, ohne sich vorher an seine Genossen zu wenden.

"Was auch immer passiert, haltet euch an den Plan." Ein leises Murmeln ist Zustimmung genug. "Ich habe euch nicht grundlos aus dem Kerker befreit. Also konzentriert euch gefälligst besser."

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