60 • Ciana
"Das gilt auch für dich."
Cosmo wirft einen Blick über die Schulter, aber die Wege sind verlassen. Sämtliche Menschen drängen sich in den Süden, weitmöglichst weg von dem, was vermutlich schon in der Main Town schlummert.
"Es ist nicht so, als könnte man gerade freudestrahlend aus Snow Creek spazieren."
Ich will mich an ihm vorbeiquetschen, doch er blockiert mir den Weg.
"Lass uns kurz drinnen über dein ..." Sein Blick schießt kurz zu meinem Gewehr. "... Vorhaben sprechen, ja? Ich sollte hier besser nicht gesehen werden und du solltest gar nicht erst daran denken, das Rathaus stürmen zu wollen."
"Warum sollte ich das Rathaus stürmen wollen?", hake ich neugierig nach, da schiebt er mich rücklings zurück und schließt die Tür hinter sich. Tiefe Schatten legen sich auf sein blasses Gesicht und lassen ihn beinahe mit der Schwärze der Nacht verschmelzen, während ich auf eine Antwort warte.
"Hast du nicht gehört?"
Nachdem ich damit beschäftigt war, die Schmerzen zu ersticken und Xavians Abwesenheit festzustellen, muss mir wohl mehr als nur der Zaun um die Stadtgrenze entgangen sein.
"Nein, aber ich bin ganz Ohr."
Ungeduld nagt an mir. Wer weiß, wie viel Zeit mir bleibt, um überhaupt noch lebend in die Main Town zu kommen, bevor sich das hier in ein Leichenfeld verwandelt? Womöglich weiß Cosmo wirklich mehr, wenn er sich dieses Gespräch herausnimmt.
"Xavs Vater hält morgen eine Rede. Vor der Gesellschaft. Wir können uns beide denken, was währenddessen in diesen Gassen hier abläuft. Er wird sein Vorgehen sicherlich taktisch gut begründen können." Cosmo macht einen Schritt auf mich zu. "Frieden, Sicherheit, lauter vielversprechende Worte. Und am Ende des Tages wird ihm der Teil, der von Snow Creek noch übrig ist, verziehen haben, weil er die Proteste beseitigt hat."
"Und wenn sie darauf nicht hereinfallen? Was, wenn sie es als Chance sehen, um ihn zu stürzen?"
"Daran habe ich auch schon gedacht. Und er sicherlich auch. Er wird andere Maßnahmen ergreifen."
Ich stelle das Gewehr an der Seite ab, um mich zu setzen, als die Wucht seiner Worte auf mich einschlägt. Xavians Vater wird damit durchkommen, weil er sich auf seine Augen verlassen kann. Wenn er die zweitstärkste Familie manipuliert und diese sich mit ihm und den Dawsons verbündet, startet er eine Kette, der keiner entfliehen kann. Nacheinander kann er sämtliche Adler auf seine Seite bringen und all seine Besitztümer behalten. Er wird tatsächlich damit durchkommen, derweil die Opfer dieser Machtgier nur noch Namen im Holz sind.
"Vermutlich hat er schon jetzt die Ersten manipuliert", mutmaße ich und blicke auf meine zitternden Finger. Alles, wofür Xavian gekämpft hat, ist damit zunichte. Weil sein Vater lieber eine ganze Stadt unter seine Kontrolle bringt als für seine skrupellosen Taten einzustehen. "Das ist doch Wahnsinn. Reicht es ihm nicht, dass er aus Xavian einen anderen Menschen machte?"
"Wir wissen, wie die Gesellschaft tickt. Warum verlieren, wenn es auch einen anderen Weg gibt?"
Cosmo schreitet um mich herum. Ich vermute, weil er sich ein Glas Wasser einschenken will, doch im nächsten Moment ringt er mich zu Boden. Der Stoß kommt so unerwartet, dass ich zu lange brauche, um zu verstehen, dass dies kein Versehen ist: Cosmo attackiert mich als wäre ich sein auserkorenes Opfer.
Bevor er mich am Nacken packen kann, rolle ich mich auf die Seite, hole aus und ramme ihm mein Schienbein gnadenlos in die Kniekehle. Er taumelt, fängt sich am Schrank und wirbelt mit einem zornigen Knurren zu mir herum. Reflexartig springe ich auf die Beine und muss enttäuschend feststellen, dass mein Körper andere Pläne hat. Die Wände drehen sich im Kreis, der Boden gleicht einem im Sturm hin und her gepeitschten Boot. Das Schmerzmittel mag zwar das Stechen aussetzen, doch meinen Körper überlistet es deswegen nicht. Ich bin weder in der Verfassung, um mein Leben zu kämpfen, aber noch weniger bereit, mich Xavians bestem Freund - in diesem Zustand wohl eher Feind - geschlagen zu geben.
Blindlings taste ich nach dem Glas in der Spülfläche, schleudere es ihm entgegen. Ein tiefes Grollen ist die Antwort - Cosmo ist nicht erfreut über meinen Widerstand.
"Hat er dich auch schon manipuliert?", hake ich nach und husche unter seinem Arm hinweg, als er zu einem rabiaten Hieb in Richtung Schläfe ansetzt. Das Holz des Hängeschrankes splittert unter seinen Knöcheln, da er sich nicht mehr rechtzeitig bremsen kann.
"Ich bin nicht manipuliert, Cat."
Erbost zieht er die Faust wieder heraus. Blut fließt über seine blasse Haut und tropft auf den Boden. An Kapitulation denkt dennoch keiner von uns - er hat offensichtlich einen Auftrag, der so fest in seinem Willen verankert ist, dass er nicht einmal mehr weiß, wie frontal er sich damit gegen den wahren Xavian stellt, während ich nicht hier zugrunde gehen darf. Ist es zu viel verlangt, lebend aus diesem Haus zu kommen? Aus diesen Straßen, um einen letzten Versuch zu starten, zu Xavian zu kommen?
"Oh nein, ganz und gar nicht."
Würde diese Situation nicht ausweglos für mich erscheinen, hätte die Ironie wohl mehr Wirkung gezeigt. So jedoch schwelgt Cosmo fast schon in dem Genuss des Sieges, der bereits in der Luft liegt. Doch das ist mein Zuhause und damit mein Vorteil. Wenn jemand jede Haaresbreite dieser Räume in- und auswendig kennt, dann ich.
Das Gewehr lehnt direkt neben der Tür. Wenn ich es schaffe, dorthin ... scheiße. Cosmo tritt mehrere Schritte zurück, hat den gleichen Gedanken. Im nächsten Moment richtet sich der Lauf auf mich.
"Weg mit den Kontaktlinsen, Cat." Im Gegensatz zu mir, hält er die Waffe so ruhig in seinen Händen, als wäre es ein Teil von ihm. "Ich werde dich nicht bewusstlos schlagen. Also nimm sie raus, damit ich den gemütlicheren Weg gehen kann."
Da er von den Kontaktlinsen weiß, muss Xavians Vater ihn manipuliert haben. Nur Xavian wusste von meinem Geheimnis, doch nachdem er seinem eigenen Blut zum Opfer fiel, hat sich dies geändert. Und damit kann ich meinen Willen abschreiben, so wie Cosmo seine Neutralität gegen eine tiefe Verachtung gegenüber mir tauschen musste, nur weil Xavians Vater ihn in den Erinnerungen seines Sohnes gesehen hat.
"Du wirst mich nicht erschießen", stelle ich fest. Sonst hätte er schon längst abgedrückt. Xavians Vater will mich lebend und diese Tatsache ist furchteinflößender als die Vorstellung, von einem Mann erschossen zu werden, in dem ich zwar keinen Freund, aber einen Verbündeten sah. Bis heute Abend zumindest.
"Nimm sie raus."
"Das musst du schon selbst machen."
Kein Schmerzmittel der Welt kann mehr darüber hinwegtäuschen, mit welcher Schärfe das stählerne Gewehr meinen Kopf zertrümmert, als er zuschlägt. Hilflos wanke ich zurück, finde keinen Halt und pralle ungebremst auf den Boden. Cosmo beugt sich über mich und grabscht mit seinen Fingern auf meinen Augen herum. Doch das Einzige, woran ich noch denken kann, ist: Bleib hier. Bleib einfach bei Bewusstsein. Denn ich weiß ganz genau, in wessen Anwesenheit ich das nächste Mal wieder aufwachen werde. Da wäre es besser, gar nicht mehr aufzuwachen.
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