6 • Xavian

Meine Eltern haben mir in den zweiundzwanzig Jahren meines Lebens noch nie gestattet, einen Zirkus von innen zu betrachten. Als ich jünger war, hatte ich sie ein paar Mal darum gebeten, doch mein Vater wies meinen Wunsch stets rigoros ab.

"Werde erwachsen, Xavian. Elefanten sind nicht harmlos, die Tricks nur einstudiert und die Welt ist kein Spielplatz."

Damit war das Thema für ihn abgehakt und ich widmete mich wieder ernüchtert den Lese- und Rechenübungen. Zeit für Unterhaltung, für Genuss, für auch nur ein paar Stunden Kindsein war mir nicht erlaubt.

Naomi ist überraschenderweise angetan von meiner Idee. Obwohl sie bereits zwei Aufführungen sah, wie sie mir in ihrer vor Begeisterung hohen Stimme verkündet, liebt sie die magische Atmosphäre.

"Oh, und der Feuerspucker - großartig! Es sieht so leicht aus, aber überlege mal, welchen Mut es braucht, um mit einer gigantischen Feuerwolke vor dem eigenen Gesicht zu spielen!"

Ich greife nach ihrem Arm, als sie mit ihren hohen Absätzen im Schnee beinahe ausrutscht, und hake sie bei mir unter. Sie seufzt, ist eindeutig weniger angetan von meinem Vorschlag, den Weg dorthin zu Fuß zurückzulegen. Der leichte Schneefall vertreibt die Erwachsenen zurück in ihre heimeligen Häuser und erfüllt die Gassen mit dem unbekümmerten Lachen der Kinder, die einen Schneemann bauen oder sich in einem Kampf mit Schneebällen verlieren - an solchen Abenden, wenn die Dämmerung einsetzt, die Lichter aus allen Ecken aufblitzen und die Welt vollkommen sorglos wirkt, liebe ich die Main Town.

Da der Zirkus weder dort, noch in der Sub Town, sondern am Rand von Snow Creek angesiedelt ist, sodass er problemlos von Gästen anderer Städte aufgefunden werden kann, zieht sich die Strecke, doch nach einer guten halben Stunde türmt sich das große Zelt vor uns auf. Fackeln wurden ringförmig darum aufgebaut und werfen wild zuckende Schatten auf den Eingang. Im Inneren ist das Licht ebenfalls schummrig, wenn auch deutlich ruhiger. Die noch leere Manege wird gezielt beleuchtet, versenkt das Publikum im Dunklen.

Naomi und ich quetschen uns an den anderen Menschen, der Abendgarderobe nach überwiegend aus der Gesellschaft stammend, vorbei und werden kurz in das ein oder andere Gespräch verwickelt. Wie es unseren Eltern gehe, wie es um die Erweiterung der Main Town gen Norden, weg von der Sub Town, stehe.

Wir antworten nie konkret, etwas, was uns von unseren Eltern früh gelehrt wurde. Was keiner weiß, kann auch nicht gegen dich verwendet werden. Denn selbst wenn durch die Reihe alle Menschen der Gesellschaft wohlhabend sind, ist die Gier endlos.

"Die Denvers sind immer so aufdringlich", schnauft Naomi, als wir endlich unsere Plätze erreicht haben. Sie beugt sich näher zu mir, damit keiner unser Gespräch belauschen kann. "Wenn die Main Town ausgebaut wird, wollen sie unbedingt eine neue Villa direkt am Frozen River. Ich sag's dir, Xav, da werden Köpfe rollen, wenn es um die begehrten Bauplätze geht."

Der Ausbau der Main Town steht schon länger in Planung. Dadurch, dass Snow Creek nicht nur eine bildschöne Stadt ist, sondern auch einen überproportionalen Anteil der Gesellschaft des Landes birgt, reizt dies weitere Wohlhabende, um in die Main Town zu ziehen. Snow Creeks südlicher Stadtteil, die Sub Town, dort, wo das Proletariat lebt, hingegen reicht vollkommen aus. Zumindest sind das die offiziellen Angaben der Stadtverwaltung. Wenn ich jedoch in eine Bar zwischen der Main und Sub Town einkehre und dort das Gespräch mit den Betroffenen suche, sieht die Lage ganz anders aus. Schlimmer, elendiger.

"Ich bezweifele doch, dass die Denvers viel zu sagen haben, wenn am Ende des Tages das Geld regiert", werfe ich ein. "Dazu haben sie ihr Geschäft in den vergangenen Jahren zu sehr vernachlässigt."
Naomi reißt die Augen auf, als sei sie von der Erkenntnis erschlagen worden.
"Vermutlich sind die bei euch eingebrochen!" Das Grinsen, dass sie hinterherschiebt, verrät augenblicklich, dass sie dem selbst keinen Glauben schenkt.

"Das wird es sein", murmele ich, meine Stimme trieft voller Ironie. Ich verfluche mich dafür, dass es nur eine simple Erwähnung des Einbruchs bedarf und schon wirbelt das Mädchen meine Gedanken durcheinander. Fast so, als ob ihr Stiefel, den ich mit in meine Wohnung nahm und im Schrank versteckte, der Grund dafür sei, dass ich sie mir nicht einfach aus dem Kopf schlagen kann.

Zu meinem Glück tritt in diesem Moment der Direktor durch den Vorhang, vertreibt ihr Antlitz aus meinen Gedanken und bringt mit seiner bloßen Erscheinung jedes noch so halblaute Flüstern zum Verstummen. Doch die Stille ist unangenehm, gezeichnet von Spannung. Als könne man die Erwartungen der Zuschauer und die Aufregung der Artisten greifen.

Seine laute, fast schon mächtige Stimme füllt das Zelt bis in die letzte Ecke aus und heißt uns in seinem Zirkus willkommen. Naomi greift nach meiner Hand und verschränkt ihre Finger mit meinen. Kaum weicht der Direktor dem Dompteur, legt sich ein Schleier von purer Begeisterung auf ihre Mimik, der sich bis auf mein Gesicht ausbreitet. Denn ich habe noch nichts davon jemals gesehen und bin geradezu überwältigt davon, wie ausnahmslos meine Vorstellungen übertroffen werden.

Die Tiere sind graziös, die Kunststücke eindrucksvoll, das Publikum vom ersten Moment an gebannt. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, es sind die Artisten, die manipulieren können, nicht die Zuschauer. Das Zusammenspiel aus Fleiß, Talent und der von einem kleinen Orchester stimmigen Musik gleicht einer Reise in Fantasien und Träume. Und in diesem Moment hasse ich meinen Vater dafür, dass er mir nicht einen Abend erlaubte, normal zu sein.

Des Öfteren geht ein begeistertes Raunen durch die Reihen und Naomi kann es sich nicht verkneifen, meine Hand zu zerquetschen, wenn die Artisten auf dem Grat zwischen Leben und Tod wandern.
"Da ist er", quietscht sie in Vorfreude, als ein oberkörperfreier Mann mit nichts mehr als einer Fackel die Manege betritt.

"Muss ich mir Sorgen machen, dass du ausgerechnet von dem Artisten am meisten beeindruckt bist, der oberkörperfrei auftritt?", raune ich ihr zu und ernte ein lautes Lachen, sodass sich mehrere Leute nach uns umdrehen.

Verlegen schlägt sich Naomi eine Hand vor den Mund. "Xav, ich bitte dich." Sie beugt sich zu mir und macht eine auffordernde Kopfbewegung zu dem Feuerspucker. "Du brauchst kein Feuer, um so beeindruckend zu sein."
Überrascht ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. "Seit wann werfen Dawsons mit Komplimenten um sich?"

"Wollte dein Ego nur nicht kränken." Sie führt ihre Lippen an mein Ohr, um ihre Worte ausschließlich an mich zu richten. "Immerhin ist dein Selbstbewusstsein aufreizend. Vielleicht solltest du mich aber wieder einmal daran erinnern, wie aufreizend ich deine Dominanz finde."
Ich nicke, doch es wirkt teilnahmslos. Naomi verpasst mir einen Stups gegen die Schulter. "Mensch, was ist los mit dir? Langsam mache ich mir noch Sorgen."

Vielleicht wäre eine Nacht mit Naomi genau das Richtige, um die Diebin aus meinen Erinnerungen zu löschen. Denn dazu sind wir füreinander da: Ablenkung und die Befriedigung der Bedürfnisse. Auf emotionaler Ebene erlaube ich Naomi keinen Zugriff auf mich und solange meine Eltern kein Ultimatum für eine offizielle Beziehung stellen, werde ich mich vor dem Schritt hüten, ihr mein ganzes Ich zu offenbaren.

Ich deute nach vorne, wo der Feuerspucker gerade eine lodernde Wolke in die Höhe steigen lässt.
"Du verpasst ihn noch."

Naomi verdreht die Augen. Trotzdem rutscht sie auf ihrem Sitz vor und stiert zur Manege. Mit einem letzten Feuerwirbel geht ein Klatschen durch die Menge. Unnachgiebig meidet der Feuerspucker jeden Blickkontakt, sondern fixiert stattdessen einen Punkt über unseren Köpfen. Es ist keine Angst vor der Manipulation, vielmehr ein Zeichen der Verachtung. Eine letzte Verbeugung nach rechts, dann versinkt die Manege in völliger Finsternis, wie immer, wenn ein Wechsel bevorsteht.

"Keine Sympathien für die Gesellschaft, ganz offensichtlich", flüstert Naomi mir zu und windet ihre Finger erneut zwischen meine. Sofort frage ich mich, ob das Verhalten des Feuerspuckers keine Konsequenzen nach sich zieht. Möglicherweise ist man dies von ihm gewohnt, schiebt es auf Lampenfieber oder Konzentration. Vielleicht hat er heute aber auch nur einen schlechten Tag.

Das Publikum bleibt voller Erwartung in Schweigen gehüllt, nur leise Schritte deuten darauf hin, dass sich etwas auf der ebenen Fläche in der Mitte regt. Dann tritt wieder vollkommene Stille ein, drei, vier Atemzüge lang. Wenn ich mich anstrenge, glaube ich ein kleines Rascheln zu vernehmen, doch vielleicht irre ich mich auch. Leise setzen die Streicher ein, beginnen eine ergreifende, fast schwermütige Melodie.

Im nächsten Moment trifft kegelförmiges Licht auf ein Mädchen, das sich im Spagat an ein Vertikaltuch klammert, mehr als ein halbes Dutzend Meter über dem Boden. Die Position strotzt von Körperspannung, Ruhe und auf faszinierende Art von Macht. Weil sie sich sicher fühlt, weil nicht ein Zeh zittert. Weil sie den Nervenkitzel der Höhe zu genießen scheint.

Doch ich bin viel zu gebannt von den langen, welligen Haaren, die ihr auf den Rücken fallen, von dem zierlichen Körper, der dort ein paar Fasern Stoff so wahnsinnig hoch anvertraut wird, ja selbst von der geschwungenen Nase, den perfekten Lippen. Ich erkenne sie sofort wieder.

Das Bizarre daran? Das Licht fällt von hinten auf sie, kreiert nur eine Silhouette, die sich im Einklang der Musik durch die Luft bewegt, und doch würde ich das gesamte Vermögen meiner Eltern darauf setzen - dort oben turnt meine Diebin.

Sie windet sich, lässt sich zurückfallen und das Licht teilt sich auf. Nun habe ich keine Zweifel mehr. Das ist sie, eindeutig. Es kostet mich alle Mühe, Naomis Hand nicht zu zerdrücken, mir keinerlei Regung anmerken zu lassen.

Eigentlich sollte ich wütend auf sie sein, weil sie meinen Eltern das Sicherheitsgefühl klaute, weil sie sich in meinen Gedanken fest nagt und vor allem, weil das vernünftig wäre.

Aber was ist schon Vernunft, wenn ich mich an den Schimmer purer Verzweiflung in ihren Iriden erinnere, als sie auf die Medizin starrte, meine Zustimmung hatte und warum auch immer nicht zugriff? Was verbirgt sich unter der Fassade der starken Artistin? Eine gebrochene Seele, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, zweifelsohne, aber warum?

Und warum zerbreche ich mir überhaupt den Kopf darüber?

Soeben wickelt sie das Tuch um ihre Taille und lässt sich begleitet vom Crescendo der Musik mehrere Umdrehungen in die Tiefe stürzen - mein Atem stockt.

"Wow", haucht Naomi neben mir und drückt aus, was wohl ein jeder hier denkt. Sie ist das Zentrum der Aufmerksamkeit und doch lächelt sie völlig vergnügt, weil sie weiß, wie sie mit dem Puls des Publikums spielt. Mühelos fängt sie sich nur einen Hauch über dem Boden ab, erklimmt erneut die Gefahren der Höhe, fällt rücklings in das Tuch und blickt erstmals direkt in die Menge. Genau in meine Augen.

Das Lächeln entgleitet ihr. Als hätte ich es ihr mit der Wucht aus dem Gesicht geschlagen, mit der sie mir den Kerzenständer überzog, und ich weiß, sie hat auch mich wiedererkannt. Nur, dass sie weitaus weniger erfreut darüber ist als ich. Wenigstens einer von uns handelt mit Vernunft.

Erst als ein Ruck durch ihren Körper geht und sie versucht, in den Takt der Musik zu kommen, stoße ich den angehaltenen Atem aus. Sie sammelt das Tuch wieder an ihrer Hüfte, die Violinen sind ihr voraus und brechen abrupt ab. Spannung zerfetzt die Luft, weil jeder ahnt, was kommen sollte. Der spektakuläre Abgang. Ihre rechte Hand ist noch im Tuch verstrickt, als sie einfach loslässt.

Es wirkt kontrolliert. Sie gleitet zu Boden, braucht einen Moment um das Gleichgewicht zu finden, versteckt die Hand hinter dem Rücken und knickst mit einem umwerfenden Lächeln vor tosendem Applaus. Eine Meisterin der Täuschung.

Ihr Blick verhakt sich für einen Bruchteil eines Momentes mit meinem und ich weiß, nichts davon war kontrolliert. In ihren Augen liegt der trübe Schimmer, den ich schon einmal sah - doch dieses Mal ist es nicht der seelische Schmerz, der sie belastet, sondern der physische.

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