59 • Ciana
Es ist bereits finstere Nacht, als ich in die Sub Town zurückkehre und sofort bemerke, dass etwas ganz gewaltig nicht stimmt. Die Proteste an der Grenze sind verstummt. Die Ruinen der Bars und umgeworfene Kutschen liegen verlassen da, kein Mensch treibt sich dazwischen herum. Missmutig trete ich über Ziegel hinweg, sammele die Asche auf meinen Stiefeln an und stoppe inmitten des Trümmerfeldes. Diese Leere verheißt nichts Gutes. Hiervon sprachen die aufgebrachten Männer gewiss nicht, als sie ihren Plan B verkündeten. In der Ferne höre ich Schreie. Es ist ein verzweifelter, panischer, von Todesfurcht untermalter Klang. Und da glaube ich zu verstehen, was vor sich geht.
Ich renne los, obwohl mein Rücken trotz des geklauten und gierig in mich gepumpten Schmerzmittels zu explodieren scheint. Vorbei an den Häusern, die so eilig verlassen wurden, dass die Türen beim sanftesten Windzug gegen das Innere schlagen und mir unweigerlich verkünden, welche Angst die Flüchtenden antrieb. Zeit für einen Schlüssel gab es nicht mehr, wenn die Hoffnung, jemals wieder in das Zuhause zurückzukehren, gar nicht erst besteht. Jetzt geht es nur noch um das blanke Überleben. Meine schlimmste Vermutung bewahrheitet sich, als ich etliche Minuten später die Hände auf den Oberschenkeln abstütze, um Luft ringe und das Elend vor mir betrachte.
Männer, Frauen und Kinder zerren in aller Verzweiflung an dem unüberwindbaren Zaun - denn derjenige, der soeben die Höhe erklimmt, wird von allen Seiten durchlöchert, noch ehe seine Schuhe den Boden auf der anderen Seite berühren können. Einige flehen um Gnade, andere schreien um Hilfe und einzelne werfen mit leeren Drohungen um sich. Aber keines davon ändert etwas an der Tatsache, dass die Sub Town eingezäunt ist und die Reihe an Soldaten dahinter stur den Befehlen der Adler Folge leisten. Der einzige Weg aus diesem Gefängnis führt durch die Main Town, von wo die Armee einmarschieren wird. Offensichtlich schon bald.
Ich versuche gar nicht erst, Janus in diesem Getümmel zu finden. Entweder hat er Snow Creek noch rechtzeitig verlassen, oder er treibt sich abseits herum. An einem Ort der Panik verweilt er nicht gerne. Kurze Zeit später kehre ich im Fabrikgebäude ein, spurte die Treppe hinauf, doch er sitzt nicht wie immer unbekümmert im Schneidersitz auf dem rauen Boden.
"Scheiße", entkommt es mir. Es ist mir egal, dass ich dieses Wort verabscheue. Besser könnte ich die Situation nicht beschreiben. Es freut mich, dass Janus vernünftig genug war, abzuhauen, bevor auch er hier festgesetzt wird, doch nun bin ich alleine. Völlig alleine. Ohne ihn, ohne Fenix und ohne die Hoffnung, Xavian finden zu können. Sicherlich könnte ich es probieren, über die Main Town aus Snow Creek zu fliehen, aber vermutlich würde ich nur den Soldaten in die Hände fallen. Das wäre ein kurzer Prozess.
Planlos begutachte ich die auf dem Boden verstreuten Gewehre. Ob ich hier sterbe oder in der Main Town erschossen werde, ist auch nicht mehr wichtig. Aber ich könnte zumindest mein Bestes geben, zu Xavian zu kommen. Also schnappe ich mir eine Waffe, kippe den Restbestand des Schmerzmittels in mich und mache mich auf den Weg. Einen kleinen Zwischenstopp lege ich dennoch ein. An diesem Haus schaffe ich es einfach nicht vorbei, so sehr es auch schmerzen wird, wenn ich eintrete.
Wie zu erwarten wirkt alles, als hätte man es erst eben verlassen. Fenix' dickste Socken liegen noch neben dem Bett, im Spülbecken steht ein leeres Glas und vor dem Kamin ruht die von Xavian ordentlich zusammengefaltete Decke. Ich kann noch immer seine Arme um mich spüren, als er mich festhielt, obwohl ich ihm so viele gemeine Worte an den Kopf warf. Obwohl ich bitterlich weinte und nur Vergeltung wollte. Was habe ich nun davon? Morgen werde ich nicht mehr als ein Name in irgendeiner Akte sein. Wenn überhaupt. Vermutlich werden sie die Morde nicht dokumentieren, um diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Aber ich werde nicht gehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Diese Genugtuung erhalten sie nicht.
Mit meiner fast vollständig verheilten rechten Hand kann ich zwar unsere Namen in die Wand ritzen, doch es dauert Ewigkeiten. Blasen bilden sich auf meiner Haut, reißen teilweise auf und verkümmern unter dem ganzen Schmerzmittel. Erst als mein Zeigefinger blutet, trete ich zufrieden zurück.
Dillon. Indiana. Fenix. Ciana. Es ist komisch daran zu denken, dass irgendwann fremde Menschen in dieses Haus ziehen werden und nicht wissen, wer sich hinter diesen Namen versteckt. Für sie werden es nur ein paar Buchstaben im Holz sein. Für mich sind sie die Vergangenheit, zu der ich mich ab heute gesellen werde.
"Ich komme zu euch", wispere ich und streife über Fenix' Namen. Es wäre so ein verflucht leichter Abschied aus dieser Welt, wäre da nicht dieser Mann, der sich mit seinem unnachgiebigen Empathievermögen und Eigensinn immer wieder in mein Leben zwängte und selbst dann nicht aufgab, für und um mich zu kämpfen, als ich ihm den Tod wünschte. Ich komme zu meiner Familie. Und auf dem Weg dorthin werde ich möglichst viel wieder geradebiegen, um Xavian die Ehrlichkeit entgegenzubringen, die er schon seit Wochen verdient hat - ein Geständnis, das ich noch nie in seiner Nähe ausgesprochen habe und doch schon lange auf meiner Zunge trage.
Ich setze mir die Kontaktlinsen ein, reiße die Tür auf, das Gewehr sicher in der Hand, bereit mich der Unverfrorenheit der Adler zu stellen, da erstarre ich an Ort und Stelle. Er hebt soeben die Faust zum Klopfen und fängt sich, bevor er mir damit einen Schlag verpassen kann. Einen Moment lang spricht keiner von uns ein Wort. Vermutlich ist er überrascht darüber, wie mitgenommen ich aussehe oder welche Waffe sich da in meinem Griff befindet, derweil ich noch abwäge, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, dass er trotz der nahenden Gefahr auf meiner Veranda steht.
Perplex räuspere ich mich und ergreife das Wort.
"Du solltest nicht hier sein."
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