58 • Xavian

"Alles okay, Liebling?"

Naomi steht im Türrahmen und trocknet sich soeben die Haare nach ihrem ausgiebigen, dampfenden Bad ab. Das bronzefarbene Negligé betont ihre langen Beine und lässt nur wenig Raum für Fantasie - erfreulicherweise sind wir hier weitab vom Schuss, sodass ihre Freizügigkeit nicht mal schnell auf Verwunderung oder gar Empörung stoßen würde.

Das habe ich schon immer an dieser kleinen Holzhütte mitten im Tal geschätzt: die Privatsphäre, welche diesem Ort innewohnt. Kein Pfad führt hierher, von einem gepflasterten Weg ganz zu schweigen. Nur wer sich auskennt, findet durch den dichten Wald ringsherum, um sich nachts an einem Sternenhimmel erfreuen zu können, wie er in Snow Creek aufgrund der permanenten Lichter überall nie zu genießen ist. Mit diesem Chalet haben meine Eltern einen wahren Schatz gefunden.

Hier werde ich auch die nötige Ruhe finden, um mich auf die anstehenden Prüfungen vorzubereiten. Dass ich völlig hinterherhänge, ist unverantwortlich und passt nicht zu meinem üblichen Lernverhalten. Meine Mutter rügte mich die letzten Abende schon dafür, daher war ich erleichtert, als sie den Vorschlag machte, mir ein paar Tage Pause zu geben und mich fernab aller Erwartungen der Gesellschaft komplett auf das Studium konzentrieren zu können. Mein Vater hätte dies sicherlich auch gebilligt. Nach einer Attacke mit einem Mikroskop durch einen Arbeitnehmer ist er gerade zwar nicht ansprechbar, aber in besten Händen. Auch wenn ich gerne selbst einen Blick auf ihn geworfen hätte, wiesen mich Rogan und meine Mutter gnadenlos ab. An den Weg hierher kann ich mich gar nicht mehr recht erinnern, so sehr sorgte ich mich darum, wie es ihm wahrhaftig gehen mag, wenn man mir nicht einmal erlaubt, meinen eigenen Vater zu sehen.

Diese Sorge habe ich gerade zum ersten Mal komplett verdrängt. Denn nicht nur mein versäumtes Lernen und meine sonstige Disziplin passen nicht zueinander, sondern auch der Zettel, den ich eben zwischen den Seiten des Buches gefunden habe. Auf diesem hat offensichtlich ein Schreibanfänger von mir vorgeschriebene Wörter kopiert.

Warum es sich dabei hauptsächlich auf Zimtschnecken, Mangos und Fenix bezog, kann ich mir nicht erklären. Zumal ich keinen Fenix kenne. Und das hat mich auf zwei Möglichkeiten gebracht: entweder erlaubt sich irgendjemand einen merkwürdigen Scherz mit mir, oder mir fehlen Erinnerungen. An Fenix, Zimtschnecken, Mangos und vielleicht noch mehr.

"Alles bestens. Ich komme gleich", wimmele ich Naomi ab und warte, bis sie im Schlafzimmer verschwunden ist. Erst dann blättere ich weiter, auf der Suche nach weiteren Zetteln. Nur ein paar Seiten weiter liegt ein loses Blatt gefaltet darin. Falls ich bislang nicht verwirrt genug war, erscheint mir die Notiz noch merkwürdiger. Es sind nicht einfach nachgespurte Wörter, sondern ganze Sätze. Eine Konversation zwischen wem auch immer und mir.

Das dauert doch fiel zu lange.

Darauf erfolgte meine Korrektur: viel. Mir egal. Lesen und Schreiben, eine gute Übung.

Dieses V. Viel. Xavian. Wo noch?

Vogel. Wichtiges Wort für Fenix.

Da ist schon wieder dieser fremde Name. Mit wem auch immer ich diesen Austausch hatte, die Person kannte Fenix wohl auch. Als Antwort folgte jedoch kein Satz, sondern die Zeichnung eines Vogels mit drei Flügeln.

Nicht schummeln, Cinderella.

Ich habe nie jemanden Cinderella genannt. Märchen haben noch nie mein Interesse geweckt. Dazu fehlt ihnen der Bezug zur Realität und mir der Hang zur Absurdität.

Du bist zu streng zu mir.

Übung macht den ...?

Meista.

Unweigerlich muss ich lächeln. Es mag so einfach für geübte Schreiber sein, aber für Anfänger? Furchtbar kompliziert. Wer in meinem Umfeld kann jedoch nicht schreiben?

Nah dran. Meister.

Dann hast du auch einen Fehler gemacht. Cindereller.

Leider nicht. Hier stimmt das A am Ende.

Viel zu schwer.

Das wird. Du machst das großartig.

Ich liebe es, wenn du das sagst.

Und ich liebe dich, Cinderella.

Das war es. Ich wende das Blatt, doch zu meiner Enttäuschung ist die Rückseite leer und lässt mich nur noch fragender zurück: wer zum Henker steckt hinter dem Spitznamen? Warum bekam ich keine Antwort auf das Geständnis? Und wieso bewahre ich die Notiz in meiner Fachliteratur auf, in die außer mir sonst keiner einen Blick wirft - fast so, als würde ich sie verstecken?

Ich klappe das Buch zu und lösche das Licht. Sanftes Mondlicht trifft durch die Glasfront und vermischt sich mit dem knisternden Kaminfeuer zu einer erholsamen Ambiente. Naomi liegt auf der Decke, blättert in einer mitgebrachten Zeitung und reibt die Zehen aneinander.
"Ist dir kalt?"
Sie späht über den Rand der Zeitung hinweg zu mir. Noch ehe sie zu einer Antwort ansetzt, verrät sie die Art, wie sie die Lippen verführerisch spitzt. "Du darfst mich gerne wärmen."

Ihre Direktheit überrumpelt mich nicht. Wenn sie Lust hat, nimmt sie kein Blatt vor den Mund oder symbolisiert es mit unzähligen Annäherungsversuchen. Nur dass mir heute schon den ganzen Tag nicht danach ist. Erklären kann ich es mir nicht. Jeder andere Mann würde sich glücklich schätzen, warum gelingt es mir dann nicht? Es ist nicht so, als würde mein Körper nicht auf sie reagieren, aber in meiner Brust bleibt es monoton. Kein wahnsinniges Pochen, wenn sie mich mit ihrem Lächeln umgarnt, kein rasender Puls, sobald sich unsere Lippen treffen, nur dieser fast emotionslose Takt meines Herzens.

Ist das normal? Erwarte ich zu viel, weil ich weiß, wie innig meine Eltern nach all den Jahren Ehe noch ineinander verliebt sind? Ist das ein schier unerreichbares Ideal? Oder haben diese Notizen und meine verwaschenen Erinnerungen damit zu tun?

Naomi rutscht zur Bettkante vor und legt den Kopf schief. "Was ist los mit dir, Liebling?"
Das ist eine ausgezeichnete Frage, die ich nicht einmal selbst beantworten kann und sich damit zu all denen gesellt, die in mir kursieren. Eines kristallisiert sich dabei umso deutlicher heraus: hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Mit mir. Mit meinen Erinnerungen. Wurde ich manipuliert? Dazu gezwungen, Fenix und Cinderella zu vergessen? Ich muss sie beide gekannt haben, sonst wäre da nicht meine Handschrift. Ich muss sie vor jemanden versteckt haben, der dennoch Wind davon bekam und mich dafür büßen ließ. Was war daran verkehrt, sie zu kennen? Und mit welchen Konsequenzen wurden die beiden konfrontiert?

"Mir raucht der Kopf vom Lernen", weiche ich aus und will mich auf die freie Seite des Bettes begeben, da gräbt Naomi ihre Fingernägel in meine Gürtelschlaufe.
"Ich weiß, wie wir deinen Kopf wieder frei bekommen."

Beinahe ehrfürchtig lässt sie ihre Finger zur Schnalle wandern und macht sich dort an die Arbeit, während sie mir einen aufreizenden Wimpernaufschlag schenkt. Und da ist es wieder, das Gefühl, dass ich sämtliche Erwartungen komplett verfehle, weil kein Mann dieses Angebot ausschlagen würde, aber ich sie zurückhalte.
"Nicht heute, ja?"
Naomi lässt nicht locker. "Komm schon, Xav, sei kein Spielverderber."

Und wenn ich das sein muss, weil mich meine Schrift auf dem Zettel viel zu sehr beschäftigt, dann ist mir das auch egal.
"Wurde ich manipuliert?"
"Bitte?" Ungläubig runzelt Naomi die Stirn. "Ich bitte dich, Xav, wer kann dich denn manipulieren?"

Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Abgesehen von meinen Eltern und den Dawsons ist das in Snow Creek unmöglich, was mich nur noch mehr in meiner Vermutung bestätigt, dass ich Kontakt mit einer Person hatte, die einem von ihnen nicht zugesagt hat. So abwegig ist dieser Gedanke nicht einmal, wenn man bedenkt, dass Analphabetismus in der Gesellschaft eine Schande wäre und Cinderella folglich aus der Sub Town stammen muss.

Habe ich einem kleinen Mädchen ein wenig Nachhilfe gegeben oder stecken hinter dem Ich liebe dich mehr als nur die Liebesbekundungen und Ermutigungen, wie sie kleine Kinder öfter von ihren eigenen Eltern zu hören bekommen? Habe ich mich in eine Frau der Sub Town verliebt und musste deswegen mit meinen Erinnerungen zahlen? Sind die letzten Jahre mit Naomi nur ein Trug?

Ich schnappe mir das Buch und reiche ihr den ersten Zettel. Den zweiten mit dem Geständnis rücke ich lieber nicht heraus.
"Wer ist Cinderella?"
Naomi überfliegt die Zeilen. "Da muss jemand mit seinem Kind geschrieben haben."
"Das ist meine Handschrift", entgegne ich.

Allmählich beschleicht mich das Gefühl, dass sie nicht ehrlich ist. Was, wenn sie genau weiß, wer Cinderella ist? Wenn sie meine verlorenen Erinnerungen nur ausnutzt?
"In einem Buch, das du dir aus der Bibliothek ausgeliehen hast. Ich erkenne eindeutig Ähnlichkeiten mit deiner Schrift, aber dieser Zettel ist nicht von dir." Achtlos wirft sie die Notiz in das Feuer, bevor ich einschreiten kann. "Sonst würdest du dich ja wohl daran erinnern."

Sie verleugnet es. Mein Name steht auf dem zweiten Zettel, weil sich Cinderella mit dem V in ihm offensichtlich schwer getan hat. Entweder Naomi weiß wirklich von nichts oder sie ist in alles eingeweiht, was mit meinem Gedächtnis passiert ist. Vielleicht hat sogar sie selbst die Zügel in die Hand genommen und mich manipuliert, weil da eine andere Frau in meinem Leben war.
"Dann erkläre mir das." Ich hole den anderen Zettel hervor und tippe auf meinem Namen. "Hier steht es, schwarz auf weiß. Ich habe sie gekannt. Und anscheinend gemocht. Ich stelle dir diese Frage jetzt nur noch einmal, Naomi: wer ist sie?"

Aus ihren braunen Augen blickt sie mich so erschrocken an, als wäre sie ein ertapptes Kind beim Klauen von Süßigkeiten. Damit habe ich sie kalt erwischt.
"Xavian...", druckst sie herum und will nach dem Zettel greifen, sicherlich, um auch ihn dem Feuer zu opfern. Eilig packe ich ihn ein.
"Lass es gut sein." Ich will keine Ausreden. Keine Lügen. Nur die Wahrheit. Und hier bekomme ich sie offensichtlich nicht. "Ich gehe zurück nach Snow Creek. Jetzt."
"Es ist mitten in der Nacht!"
"Das ist kein Argument, es nicht zu tun. Das Pferd lasse ich dir da."

Wenn ich mich beeile, bin ich vor Mitternacht noch bei meinen Eltern. Vielleicht kann ich meinen Vater bereits zur Rede stellen, wenn nicht, dann meine Mutter. Ich will wissen, wer mich manipulierte. Warum ich hier im Chalet bin, weit weg von einer Frau, die ich vergessen musste, und warum Naomi mich Liebling nennt, obwohl diese Beziehung offensichtlich nicht der Realität entspricht.
"Xav, lass es mich erklären."

Naomi haftet an mir wie eine Klette, als ich in meine Jacke schlüpfe.
"Ich wurde vielleicht manipuliert, aber deswegen bin ich nicht dumm. Deine Spielchen ziehen bei mir nicht, Naomi."
Hätte ich nur sofort auf mein Herz gehört, das jetzt ungeduldig in meiner Brust pocht. Ob es ihm um Cinderella oder den Drang geht, aus Naomis Fängen zu kommen, kann ich nicht beurteilen.

"Es tut mir leid, okay? Aber bleib hier, Xav, bitte. Snow Creek ist gerade kein sicherer Ort."
Neugierig wirbele ich zu ihr herum. Diese Information hat sie mir die letzten Stunden vorenthalten, wie so einiges. "Noch etwas, was ich wissen sollte?"

Dachte nicht, dass Snow Creek die Gefahr sein würde, sondern der Weg durch einen von hungrigen Wölfen und Bären belagerten Wald, wegen denen wir immer ein paar geladene Gewehre hier deponieren. Im Winter sind sie nicht zu unterschätzen.
"Gott, ich habe nicht einmal dann eine Chance, wenn du sie nicht mehr kennst!" Pure Eifersucht spricht aus den zu Fäusten geballten Händen. Mitleid habe ich keines - sie hat meine Erinnerungen ausgenutzt und wäre noch weitergegangen, gäbe es nicht diese Ungereimtheiten auf den Zetteln und in meinem Kopf. "Ciana Levine, so heißt sie. Eine Diebin und Mörderin."

"Mörderin?"
"Jede Leiche gerade geht auf sie. Nicht ich bin schuld an dem Ganzen, sondern sie. Sie hat gemeint, die Akten veröffentlichen zu müssen. Sie hat damit ihrem eigenen Bruder den Todesstoß versetzt." Naomi tritt so nah an mich heran, dass ich den Glanz der Eifersucht in ihren Augen geradezu studieren könnte. "Hol dir deine beschissenen Erinnerungen wieder, Xav, aber lass dir eines gesagt sein: wenn du ihr nicht die Augen über die Konsequenzen ihrer Taten öffnest, werde ich es tun. Und ich finde meinen Weg, ihr damit das letzte Fünkchen Lebenswille zu nehmen, denn ich war in ihrem Kopf. Ich weiß, wie oft sie gerade an die rettende Erlösung denken wird. Mir wird kein glückliches Leben erlaubt? Dann darfst auch du nicht mit ihr glücklich werden."

Fragen über Fragen surren in mir, doch eines bleibt: Naomi möchte Ciana eine Perspektive aufdrücken, die ihr den Rest geben wird. Eine Perspektive, die man offensichtlich so hin und herdrehen kann, um die Schuld von sich selbst zu schieben.
"Habe ich gerade gesagt, dass ich dir das Pferd lasse? Scheiß drauf, du gehst zu Fuß."

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