56 • Ciana

Ich habe keine Ahnung, wo oben und unten ist.
Wo mein Körper schmerzt und taub ist.
Wo die Schreie und die Stille sind.

Ich habe sämtliche Orientierung verloren. Polierte Schuhspitzen schieben sich in mein Blickfeld, dann rauschen ein bewusstloser Körper, der umgekippte Stuhl und der Verhandlungstisch an mir vorbei, bis man mich in die Vertikale gerichtet hat. Mein Rücken explodiert. In tausende und nochmal tausende Teile. Ich stoße einen spitzen Schrei aus und schaffe es gerade noch, einen Blick auf Xavian zu erhaschen, der völlig abwesend auf einen Punkt in der Ferne starrt, bevor der Tisch, der Stuhl und der bewusstlose Körper wieder an mir vorbeirasen und mein Kopf ungebremst auf dem Boden aufschlägt.

Als ich das nächste Mal aufwache, liege ich bäuchlings auf einem harten Untergrund. Kalte Finger tasten meinen Rücken ab. Ich kann weder meinen Kopf drehen, noch den fremden Berührungen ausweichen. Das ist nicht Xavian, ganz sicher nicht. Umso mehr köchelt in mir der Drang, dieser Situation zu entfliehen.
"Das sieht nicht gut aus."
Es fühlt sich auch nicht gut an.

"Muss es nicht. Sie muss nur überleben." Rogans Stimme erkenne ich sofort wieder. Er ist weniger aufbrausend als es sein Verhandlungspartner war. Hoffentlich habe ich diesem mit der Glasflasche schön das Gehirn zertrümmert - sonst gab es eh nichts mehr zu zerstören, wenn er sogar seinen eigenen Sohn manipuliert. "Um ihre Erinnerungen kümmere ich mich später noch."

Eine Tür hinter mir wird energisch aufgerissen. "Es gibt Probleme."
Hellhörig spitze ich die Ohren. Mit Xavian? Hat er seine Erinnerungen behalten? Oder ist sein Vater an der Platzwunde verstorben?
"Konkreter", fordert Rogan und erleichtert meine Neugierde damit ungemein.
"Die Gesellschaft. Es gibt Indizien dafür, dass sie planen, das Rathaus zu stürmen."

Einen Moment lang folgt Stille. Wenn sich selbst die Gesellschaft wehrt, begreift nun endlich auch mal die Elite Snow Creeks den Ernst der Lage.
"Ich verstehe." Ein leises Klacken, dann sind wir wieder nur zu dritt. "Ist sie ansprechbar?"
Die fremde Hand wandert auf meinem Rücken weiter. "Mehr auch nicht."

Rogan bezieht den Geräuschen nach vor mir Stellung. Mühselig öffne ich meine Augen und fixiere ihn, wie er beinahe besorgt in die Knie geht und mir über die Haare streicht. Angewidert will ich ausweichen, doch da ist keinerlei Kraft in meinem Körper. Ich bin dazu verdammt, ihm in dieses makellose Gesicht zu starren, von dem sich Naomi offensichtlich eine ordentliche Scheibe abgeschnitten hat. Vor zehn Jahren sah mein Vater schon weitaus verbrauchter aus, als es dieser Mann tut. Und sie wollen uns allen Ernstes weismachen, dass das nicht auch an der Arbeit liegt?

"Verzeih uns, dass wir diese Maßnahmen ergreifen mussten, Ciana." Ich nagele meinen Blick an seinem Dreitagebart fest, um nicht sofort wieder in die Ohnmacht abzudriften, als mir ein gleißender Stich durch das Rückenmark zieht. "Das war so nicht geplant."

"Mir tut das mit der Flasche nicht leid", entgegne ich trocken.
Ich bin gleich wieder weg. Wenn der andere Mann noch einmal drückt, war es das. Hilflos klammere ich meine Finger in die Bahre, als könnte ich so das Bewusstsein festhalten. Nicht noch einmal. Wer weiß, was sie in der Zeit mit mir anstellen, wenn ich nichts mitbekomme?

"Da hast du ordentlich etwas angerichtet, Ciana. Er ist immer noch ohnmächtig. Also verstehst du sicherlich, dass es auch hierzu kommen muss." Seine hellbraunen Augen leuchten. Ich gebe mir gar nicht erst die Mühe, meine rechtzeitig zu schließen - ich verbrauche alle Kraft dafür, im Hier und Jetzt zu bleiben. Zumal mir das Brennen verrät, dass sie den Kontaktlinsen nicht auf die Schliche gekommen sind - wäre dem auch noch so, wenn Xavians Vater schon wieder aufgewacht wäre? Oder hat er wert auf andere Erinnerungen gelegt und Xavians gescheiterten Versuch, mich zu beeinflussen, gar nicht erst bemerkt? "Keine Gewalt von der Sub Town und die Armee bleibt fort, verstanden? Als Bonbon gibt es noch zwanzig Taler pro Verstorbenem oben drauf. Einmalig. Und um es klarzustellen: die Schusswunde hast du dir bei den Auseinandersetzungen auf dem Weg hierher eingefangen."

Mistkerl. Dennoch nicke ich und konzentriere mich auf meinen Atem - wenn ich mich jetzt verrate, ist es gelaufen. Rogan entlässt mich der Manipulation und streicht mir nochmals über die Haare.
"Braves Mädchen."
Er zögert kurz. Vermutlich will er etwas bezüglich Xavian sagen, doch er überlegt es sich anders. Was will er mir denn auch verkünden? Dass ab heute nichts mehr so ist, wie es war, ist mir klar. Seiner Familie, vor allem Naomi, dürfte das sehr gelegen kommen. Aber was weiß ich denn schon? Diesem Sadist an Vater würde ich es auch zutrauen, dass er Xavian sämtliche Erinnerungen ließ, um ihn zu quälen.

"Dann darfst du gerne die Abmachung verkünden gehen, Ciana. Es war schön, mit dir zu verhandeln."
Ich glaube, ich übergebe mich gleich auf seine sündhaft teuren Schuhe. Dennoch muss ich hier weg, bevor Xavians Vater mir womöglich einen Strich durch die Rechnung macht und mich noch meinen Willen kostet, sollte er jetzt aufwachen. Obwohl sich der Raum gefährlich dreht, zwinge ich meinen protestierenden Körper in die Höhe, ziehe mein Kleid über die Schulter und kneife kurz die Augen zusammen, um die Wände wieder in Stillstand zu bringen. Rogan setzt eine Wache darauf an, mich bis zur Sub Town zu begleiten, sodass ich nicht vorher ableben kann.

Letztendlich habe ich keine Ahnung, wie ich mich aus dem Rathaus schleppe, es unter den verwunderten Blicken der Adler einmal quer durch die Main Town schaffe, doch ich rede mir ein, dass es Janus genauso erging. Dass es in diesem Zustand völlig normal ist, wenn die Schmerzen einem das Atmen erschweren und ständig Sterne vor den Augen tanzen. Alles besser, als ihrer Manipulation zum Opfer zu fallen und zu vergessen, was sie mit Xavian angerichtet haben.

Kaum erreiche ich die Sub Town, breche ich im Schatten eines Hauses zusammen. Winde mich auf die Seite und versuche, Luft zu bekommen. Das ist wohl unsere Strafe. Für all das, was Xavian und ich falsch machten, als wir uns in unserem Glück treiben ließen und ausblendeten, wie unmöglich diese Gefühle sind.

Es schmerzt. Weil ich mein Herz an einen Mann gab, der nun vermutlich nicht einmal mehr weiß, dass ich existiere, und ich mir damit, im Gegensatz zu der Schusswunde, die Qualen selbst ausgesucht habe.

Aber am meisten tut es mir für Xavian leid. Weil er nun gehorsam seinem Vater unterliegt. Sollte irgendwann dann wieder sein wahres Ich darunter aufblitzen, beginnt sein Spaziergang durch die Hölle von Neuem.

Keuchend rolle ich mich auf den Bauch. Nicht besser, kein Stück besser. Der Schmerz quetscht mich von allen Seiten ein und macht mir bewusst, dass es wieder einmal mein Herz ist, das so höllisch blutet. Und in diesem Moment beschließe ich, dass ich ihn nicht aufgebe. Xavian hat mich nicht hängen gelassen, als ich nichts von ihm wissen wollte. Jetzt bin ich an der Reihe.

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