51 • Ciana
"Das ist ein gewaltiger Fehler."
Mit Janus darüber zu diskutieren, was richtig oder falsch ist, kann nur schief gehen. Dieser Mann gewinnt mit seiner Seelenruhe jede Diskussion, erst recht dann, wenn ich meine Gefühle nicht mehr identifizieren kann. In erster Linie ist da diese unendliche Traurigkeit, dicht gefolgt von Betrübnis, Nachdenklichkeit, Wut, Angst - es nimmt kein Ende. Selbst dann nicht, als wir vorhin eine Pause einlegten, Fenix' abgewetzter Plüschhase meine Schreie einstecken musste und Janus mir tröstende Worte zuflüsterte. Was sind Worte noch wert, wenn am Ende des Tages nur die Handlungen zählen?
Genau das ist der Grund, warum ich mit Einbruch der Dämmerung schnurstracks umgedreht bin und Janus damit keine Wahl gelassen habe. Seit wir Snow Creek verlassen haben, folgt er mir auf Schritt und Tritt, wie er es Xavian zugesichert hatte. Dass dieser mich jetzt niemals alleine lassen würde, war mir bewusst, daher hatte ich mich für Janus als Begleitung entschieden - in der Hoffnung, er würde meine Rachegelüste verstehen. Tut er nur leider nicht.
"Den Fehler haben sie gemacht", blocke ich ab und kämpfe mich durch das knackende Geäst, dessen Dornen mir die Beine blutig aufkratzen.
"Nicht das. Xavian kümmert sich darum, dass sie nicht ungeschoren davonkommen. Das hat er dir im Gegenzug für dein Wort versprochen."
Er hat recht. Ich gab Xavian mein Wort darauf, dass ich für mich weiterkämpfe, während er mir Gerechtigkeit versprach. Und ich weiß selbst, dass ihn zu hintergehen der gewaltige Fehler ist, von dem Janus spricht. Aber ich werde nicht darauf hoffen, dass Xavian wirklich die notwendigen Maßnahmen ergreifen wird. Selbst nach den Morden vor acht Jahren stand er hinter der Skrupellosigkeit der Gesellschaft. Hat sich das wahrhaftig geändert oder will er mich einfach nur loswerden?
"Ich werde dich sicherlich nicht aufhalten, Ciana, aber gib ihm eine Chance."
Ich wirbele zu Janus herum. "Wofür? Jedes Mal, wenn ich nicht die Macht über etwas habe, spielt es gegen mich!"
Das Scheitern von Gerechtigkeit ist damit vorprogrammiert. Dafür habe ich jedoch zu viel verloren. Jetzt nehme ich die Verantwortung in die Hände, zumindest in dem Maße, wie es mir möglich ist.
"Das vergangene Nacht war ein tragischer Mord, das lässt sich nicht verleugnen. Aber Xavian will nur das Beste für dich. Und wenn das bedeutet, dass er seine eigenen Eltern vor der Gesellschaft zu Mördern erklären muss oder ihre Pläne durchkreuzt, dann wird er das nun endgültig machen, daran zweifele ich nicht."
Das hoffe ich doch. Aber auf hoffen vertraue ich nicht mehr.
"Das reicht mir nicht."
"Mord für Mord ist keine Lösung."
Als könnte ich wahrhaftig jemanden umbringen! Selbst wenn ich die Verantwortlichen vor mir hätte und nicht einmal dann verfehlen würde, wenn ich die Augen schließen würde, könnte ich nicht abdrücken.
"Sie wollen uns alle umbringen, Janus. Fenix war nur eines ihrer ersten Opfer."
Als ich den nächsten Ast zur Seite biege, türmt sich das verlassene Fabrikgebäude wie eine schwarze Front gegen den von Sternen bespickten Himmel auf. Wir sind einen erheblichen Umweg gelaufen, um Xavian vorzugaukeln, dass wir auf dem Weg zum Chalet seiner Eltern sind. Die Beschreibung dorthin habe ich in den Tiefen meines Rucksackes vergraben, weit unter Fenix' Plüschhasen und dem Proviant, den ich unter seinem prüfenden Blick einpackte.
Mit der eingeläuteten Nacht kehrt allmählich Ruhe in Snow Creek ein. In der Ferne höre ich ein Kleinkind quengeln, doch sonst ist es furchtbar still. Alles wappnet sich für den morgigen Tag. Die Schritte im Schnee hinter mir verstummen.
"Du bist keine Mörderin."
"Nein, bin ich nicht. Keiner von uns. Deshalb werden wir das machen, was wir am besten können: einbrechen."
"Im Lager?"
Janus stößt einen kurzen Pfiff aus, um den anderen Jungs zu signalisieren, dass wir keine Gefahr sind. Ich glaube im obersten Stockwerk einen Schatten zu erahnen, der uns wachsam beobachtet.
"Wir müssen den Kranken helfen, Janus. Wenn die Armee eintrifft, ist es gelaufen. Bis dahin müssen wir möglichst viele auf die Beine bringen und lebend aus dieser Stadt schaffen."
Erschöpft reibt sich Janus über die Augen. Letzte Nacht hat er vermutlich kaum Schlaf bekommen und die Wanderung eben hat ihn deutlich mitgenommen. Dennoch schüttelt er beharrlich den Kopf.
"Diese Ironie", murmelt er. "Letztes Mal musste ich dich noch dazu überreden, im Lager einzubrechen."
"Zeiten ändern sich", wende ich ein. "Du wirst doch nicht etwa jetzt deine Meinung ändern, oder?"
Der Ansatz eines Lächelns auf Janus' Lippen verrät mir, dass ich mich nicht in ihm getäuscht habe. Oder dass er froh ist, dass ich mich wieder meiner diebischen Seite zugewandt habe, aber da lehne ich mich lieber nicht zu weit aus dem Fenster. Ein Naturtalent bin ich deswegen noch lange nicht geworden - das weiß er selbst am besten.
"Komm."
Kurz angebunden, wie eh und je. Wenigstens er bleibt bei seiner altbekannten Normalität und damit auch bei seiner Meinung: den Kranken muss geholfen werden, auch wenn dies bedeutet, dass wir Xavian hintergehen, für den er in letzter Seite doch so etwas wie Sympathie entwickelt zu haben scheint.
"Wir sind geschrumpft", erklärt Janus und führt mich die verrußte Treppe hinauf. Das Gebäude trägt noch immer die Spuren des Brandes weit vor meiner Zeit. Die Fassade bröckelt, der Handlauf rostet und auf dem Boden liegen kreuz und quer Schauben, Zylinderstifte und Zahnräder. Die Initialen all derer, die sich in der Wand verewigten, bevor sie dem Feuer zum Opfer fielen, jagen mir immer wieder einen Schauer über den Rücken. Wäre Cosmo nicht gewesen, wäre ich womöglich auch in sengender Hitze verendet.
Als ich unser provisorisches Lager betrete und mir der eisige Wind durch das menschengroße Loch - die Jungs meinten immer, ein Arbeiter hätte sich hier wohl ausweglos aus dem zweiten Stock gestürzt - in der Wand die Haare ins Gesicht peitscht, stelle ich fest, dass Janus nicht übertrieben hat. Owen sitzt wie üblich direkt am Loch, lässt ein Bein in der Luft baumeln und beobachtet mit zusammengekniffenen Augen, ob sich eine Gefahr nähert. Murray hingegen sortiert einen Haufen Gewehre und blickt nur kurz auf, um mir zuzunicken.
"Was ist mit den Anderen?", frage ich. Keiner der Jungs, die sonst immer ihre Entdeckungen an dem Tisch austauschen und Janus präsentieren, ist hier. Geblieben sind nur noch wir vier, die sich den Einbrüchen stellen und das Diebesgut eintreiben. Es lässt mich augenblicklich an Alice denken, deren Haus heute Morgen ebenfalls völlig verlassen wirkte, als Xavian und ich dort klopften, aber niemand öffnete.
"Weg", meint Janus.
Murray streicht sich eine seiner langen Haarsträhnen von der Stirn, um ein Gewehr genauer inspizieren zu können. "Zu feige. Ein paar sind aus Snow Creek abgehauen, ein paar bleiben bei ihren Familien."
Eine Flucht als Feigheit zu bezeichnen, ist nicht gerecht. Würde Fenix leben, hätte ich ihn auch aus der Sub Town geschleppt. Nicht, weil ich Angst um mein, sondern um sein Leben gehabt hätte. Sich in Sicherheit zu bringen, hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand. Aber was gesund ist, spielt üblicherweise gegen meine Familie und mich - dass es so nicht der ganzen Sub Town ergehen muss, werden wir gemeinsam in Angriff nehmen.
"Hier." Janus wiegt zwei Gewehre mit seinen Händen ab und reicht mir das leichtere. "Deins."
Trotz des akzeptablen Gewichts fühlt es sich an, als würde er mir eine immense Last auf die Schultern legen.
Ich folge ihm hinab in den Kerker, hinein in einen Raum, der den Schall der Schüsse wenigstens halbwegs abdämpft. Als ich meinen Rucksack in der Ecke abstelle, lugt ein Ohr des Stoffhasens hervor. Eilig stopfe ich ihn zurück, verfluche den kaputten Verschluss innerlich und hoffe, dass Janus es nicht bemerkt hat. Aber natürlich ist dem nicht so. Er betrachtet mich mit einem in Mitleid getränkten Blick.
"Es geht schon", weiche ich aus, bevor er mich mit Fragen bombardieren kann. Das Problem ist nur, dass es nicht geht. Der Überfall auf das Lager der Ashfords hat meine Gedanken so belagert, dass ich keine Zeit für Fenix hatte. Doch jetzt zucken erneut die Bilder davon auf, wie ich ihn in Xavians Hände übergebe, ihn darum bitte, meinen Bruder nicht im Graben mit allen anderen Leichen der Sub Town verbrennen zu lassen, und jegliche Tränen mit dem Ärmel aufgefangen habe, als ich Xavian und der starren Leiche in seinen Armen den Rücken zuwandte.
Janus hat alles davon mitbekommen - und selbst wenn, würde er mir meine Lüge nicht abkaufen. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, hat er mich an sich gezogen und umarmt mich. Dabei umarmt er niemanden. Perplex stehe ich einen Moment nur da und überlege, was ich mit meinen Händen anfangen soll, bevor ich sie unsicher auf seine Schulterblätter lege.
Das Komische daran ist, dass ich so klein bin und mich auf einmal unendlich groß fühle. Wie immer, wenn auch Xavian mich umarmt. Vielleicht weil das die einzigen Menschen in meinem Leben sind, die meinem Mir geht es gut und Es geht schon keinen Glauben schenken.
"Es ist völlig okay, wenn es noch nicht geht, Ciana", raunt er in meine Haare. "Es wird besser werden. Nur ganz langsam, aber doch Tag für Tag."
Ich weiß, wovon er spricht. Alles braucht seine Zeit, aber selbst ein Jahrzehnt später wird es nicht so sein, wie es die letzten Tage mit Fenix war. Das Einzige, was ich von ihm noch greifen kann, ist dieser Plüschhase. Der Rest sind Erinnerungen. Wenn es blöd läuft, können mir selbst diese noch von den Adlern genommen werden. Warum sollten diejenigen, die für all das Leid verantwortlich sind, weiterleben können wie bisher, wenn es mir nicht möglich ist?
Ich strecke den Rücken durch und trete entschlossen zurück. Mit dem Gewehr in der Hand fühle ich mich schon weitaus mächtiger. Weil ich nun abdrücken kann. Weil ich mich wehren werde und nicht befürchten muss, Fenix in das Verderben zu stoßen, sollte ich nicht nach Hause zurückkehren.
"Können wir dann?"
Misstrauisch zieht Janus die Augenbrauen zusammen. Offensichtlich weiß er genauso wenig mit meinen Stimmungsschwankungen anzufangen wie ich selbst. Aber wie er selbst meinte: das ist völlig okay.
Er tritt hinter mich, lässt mich das Gewehr auf die Zielscheibe ausrichten und korrigiert meine Haltung.
"Du magst dich nicht mehr daran erinnern, aber du hattest schon einmal ein Gewehr in der Hand." Sein Zeigefinger legt sich über meinen, ganz vorsichtig, um meine Verletzung nicht zu strapazieren. Nur ein wenig Druck und die Stille wird von einem ohrenbetäubenden Schuss zerfetzt werden. "Das Gefühl täuscht jedoch nicht."
Ich drücke ab und bohre ein Loch mitten in den roten Kreis am anderen Ende des Raums. Er hat recht. Das hier ist viel zu vertraut, um fremd zu sein.
"Nicht schlecht. Offensichtlich fallen doch Meister vom Himmel."
Nein, definitiv nicht, wenn ich mir die Versuche daraufhin anschaue. Aber vielleicht hat mich der Himmel mit einem neuen Schub an Motivation gesegnet. Genug, um meine Gefühle auszublenden und mich auf das zu konzentrieren, was kommen mag.
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