50 • Xavian

Mein Körper fühlt sich taub an. Weder Arme, noch Beine kann ich spüren. Vermutlich besser so, nachdem ich bemerke, dass ich auf dem harten Boden eingeschlafen bin - das werden mir meine Gliedmaßen in den nächsten Tagen noch reichlich danken. Aber es ist mir egal, denn ich werde solange nicht aufstehen, bis Ciana sich nicht von selbst regt. Gleichmäßig atmend liegt sie auf mir, die Finger unter mein Shirt geschoben und schläft scheinbar friedlich. Ein Zimmer weiter liegt Fenix, alles andere als friedlich schlafend. Umso wertvoller ist es, dass Ciana keinen Albtraum zu haben scheint.

Zarte Sonnenstrahlen tauchen den Raum in einen warmen Goldton, kitzeln auf meiner Nasenspitze. Alles an diesem Morgen wirkt so ruhig und unbekümmert, dass man sowohl Fenix, als auch die Proteste der Main Town vergessen könnte. Doch der Schein trügt. Es ist nur eine Frage der Zeit bis entweder Cianas Welt oder die Machtverhältnisse Snow Creeks aus den Fugen geraten. Dass mein Vater hingegen noch nicht einmal Einsicht zeigt, während hier in der Sub Town ein Leben nach dem anderen daran glauben muss, bringt meinen Puls zum Rasen. So sehr, dass ich Fenix eines verspreche: damit kommen sie nicht durch. Ciana werde ich dabei komplett aus der Schusslinie nehmen, denn das wäre, was auch ihr Bruder sich für sie wünschen würde - sie in Sicherheit zu wissen.

Wäre da nicht das Wissen, wovon Ciana im allerletzten Moment zurückfuhr, als sie Fenix zu verlieren glaubte. Nun, da der Fall wirklich eingetreten ist, kann ich sie unmöglich alleine ihren Gedanken aussetzen. Sie braucht Unterstützung und Liebe in den Stunden, in denen sie alle von sich stoßen möchte. In denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Nur leider kann ich Snow Creek nicht den Rücken zu kehren, wenn ich meinen Vater und die anderen Beteiligten hautnah spüren lassen will, was sie angerichtet haben. Mord ist da sicherlich keine kluge Lösung, aber ihnen das zu nehmen, was sie begehren - Reichtum? Macht? Das schon eher. Sollen sie doch erfahren, wie sich Verlust wirklich anfühlt, auch wenn ihnen der Verlust von Macht viel fataler erscheint als der eines geliebten Menschen. Traurig, aber wahr. Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, um Ciana unversehrt aus der Stadt zu bringen und meinen Eltern die Kontrolle zu entziehen.

"Xavian?"
Schlaftrunken blinzelt Ciana und versucht, in der Wirklichkeit anzukommen. Ich kann den Moment der Erkenntnis auf ihrem Gesicht ablesen - zuerst ist da ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen, das von emotionsloser Härte verschluckt wird. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie sich mit ihren Gedanken abschottet.

Bevor sie sich mir entziehen kann, verschränke ich meine Arme fester um ihre Taille. Abwehrend stemmt sie ihre Handballen in meine Brust, um zu fliehen.
"Ich lasse dich nicht los."
"Doch, sofort!"
"Hör mir zuerst zu", widerspreche ich.
"Ich will nicht zuhören! Ich muss zu ..." Fenix ist keine Pflicht mehr. Kein muss, sondern ein will und diese Tatsache schlägt brutaler zu als mein Vater, wenn ich ihn enttäuscht habe. "Ich ..."

Sie schnauft tief, versucht vergebens die Tränen zu untergraben. Dass ich schon viele Menschen weinen gesehen habe, ist nach meiner Aushilfe im Krankenhaus kein Geheimnis, aber Ciana schafft es wie kein anderer, mir mit diesem Anblick das Herz zu brechen. Ich wünschte, es gäbe ein Medikament gegen ihren Schmerz. Einen Moment, um diese Trauer taub zu schalten und erst wieder wüten zu lassen, wenn die Wunde versorgt ist. Dabei bezweifle ich, dass sie jemals verheilen wird. Fenix war ihr Leben. Auch wenn sie vieles für ihn aufgeben und riskieren musste, hat sie es ohne einen Augenblick des Zögerns getan. Nun fehlt ihr das Elementare der vergangenen Jahre - eine Veränderung, die sie erst verkraften muss. Mit viel Zeit und Unterstützung.

Beides will ich ihr geben, nur eines davon habe ich im Griff. Sie muss raus aus der zum Scheitern verurteilten Sub Town und das mit der besten Begleitung, die ich mir dafür vorstellen kann. Zumal Janus ihr selbst seine Hilfe angeboten hatte - wenn er doch nicht aufgefunden werden kann, werde ich Cosmo fragen, doch er ist im Kern ein Adler und damit sicherlich nicht, was sie gerade bei sich haben möchte.

"Du musst Snow Creek verlassen."
Sie lässt den Kopf auf meine Brust sinken und lässt ihre heute so stumpfe Stimme darauf erklingen. "Ich muss nichts mehr."
Jeglicher Grund morgens aufzustehen, ein Lächeln auf die Lippen zu legen und den Tag zu bestreiten, ist verblasst. Aber dass sie sich in ihrer Trauer selbst vergisst, werde ich nicht gestatten.

"Die Armee wird bald hier sein, Ciana. Sie werden die Sub Town niedermetzeln."
Ein schwaches Kopfschütteln. "Ich gehe nicht."
Ob sie Fenix oder ihre Nachbarn nicht im Stich lassen möchte, kann ich nicht bestimmen. Vielleicht fehlt ihr auch die Kraft, sich von dem abzuwenden, was nun noch das einzig Vertraute darstellt.

"Ich kann Fenix einen würdigen Platz besorgen." Meine Finger spielen mit ihren Locken. "Wir besitzen ein Grundstück nicht weit von Snow Creek entfernt. Dort kannst du solange bleiben, wie du willst. Meine Eltern kommen immer nur für eine Woche im Spätsommer dorthin."
"Ich will nicht alleine sein."
"Nimm Janus mit. Oder die alte Frau von gegenüber, mir egal. Wenn du möchtest, komme ich nach, sobald ich kann."

Ich weiß, dass ich damit meine Grenzen teste. Dass die stumme Frage mitklingt, ob sie mich in ihrer Nähe haben möchte. Dass ich überprüfe, ob wir hinter uns lassen können, was unsere Familiennamen zwischen uns getrieben haben.

Sie hebt den Kopf an, doch ihre Augen erstrahlen nicht mehr in dem Grünton einer saftigen Wiese nach einem milden Regenschauer, sondern gleichen verdorrtem Gras. Als hätte man ein Limit erreicht. Mir ist bewusst, wie gefährlich es ist, sie in diesem Moment alleine zu lassen, aber wenn die Sub Town in ein paar Tagen noch mehr als Schutt und Asche sein soll, muss ich mich zuerst um meinen Vater und seine Pläne kümmern.

Anstatt mir einen Hinweis darauf zu geben, wo wir stehen, schlängelt sie sich aus meinem Griff. Vermutlich ist das Antwort genug. Ich ignoriere das Stechen in meiner Brust und kämpfe mich ebenfalls auf meine Beine. Es kommt mir vor, als wäre ich in dieser Nacht um dreißig Jahre gealtert.
"Und in der Zwischenzeit verkriechst du dich in deine Wohnung?"

Jeder Narr hätte spätestens jetzt verstanden, was sie von mir hält. Enttäuscht grabe ich meine Nägel tief in die Handfläche, um sie nicht dazu zu zwingen, mir in die Augen zu schauen.
"Ich gehe wieder zurück, aber ich verkrieche mich nicht untätig dort."
"Stimmt, mein Fehler. Habe ganz vergessen, dass du die Lügen deiner Eltern weiterverbreiten musst."

Dass wir früher oder später darüber sprechen würden, war von Anfang an klar. Doch dass sie in ihrer aktuellen Verfassung kein Blatt vor den Mund nimmt und gnadenlos tiefe Schläge austeilt, zwingt mich an die Grenzen meiner Beherrschung.
"Ich konnte mich nicht einfach gegen meine Eltern stellen, Ciana. In der Main Town arbeitet jeder gegen jeden. Meine Eltern sind die Einzigen, die mir kein Bein stellen wollen. Du von allen solltest am besten verstehen, das ich für ein wenig Sicherheit einen hohen Preis gezahlt habe. Ich habe mich nicht aus reinem Vergnügen von meinem Vater schlagen lassen. Oder mir mein ganzes Leben lang Vorschriften machen lassen."
"Eure beschissene Gier kostet uns hier in der Sub Town das Leben."
"Ihr habt angegriffen. Dass da nicht einfach zugeschaut wird, hätte euch bewusst sein müssen", kontere ich.

Ciana wirbelt zu mir herum, ihre Finger zittern. "Nachdem ihr dutzende Familien zerstört habt und alles für immer vertuschen wolltet!"
"Ich kann nichts für die Entscheidungen meiner Eltern."
"Aber du hast gelogen! Ich habe dich gefragt und du hast mir einfach ins Gesicht gelogen!"
"Ich hätte dich niemals angelogen, wenn du nicht-"

Sofort breche ich ab. Fuck. Ich habe es vermasselt. Schon wieder. Ciana merkt es augenblicklich.
"Sag es." Herausfordernd verschränkt sie die Arme vor der Brust. "Sei wenigstens einmal so ehrlich."

Ich könnte mühelos leere Worte finden. Ich könnte mich wie immer aus dieser Situation winden, weil ich dafür vorbereitet wurde. Aber das ist, was meine Eltern von mir erwarten würden und diese Version möchte ich schon lange nicht mehr sein.

"Ciana, ...", setze ich an und mache einen Schritt auf sie zu. Fast panisch weicht sie zwei zurück, schafft nur noch mehr Distanz zwischen uns.
"Wenn ich nicht zu schwach gewesen wäre, die Wahrheit zu verkraften? Das wolltest du doch sagen!" Sie deutet auf die Tür, hinter der ihr Bruder liegt. "Ich habe jahrelang darum gekämpft, Fen nicht an eine Krankheit zu verlieren, nur damit ihr Adler das Wasser verseucht und mir wieder alles versaut! Ich habe jeden verdammten Tag um sein Leben gebangt und dabei versucht, das Bestmögliche aus jeder Situation zu holen! Deine Worte haben mir eine Menge Kraft gegeben und jetzt erfahre ich, dass du dabei die ganze Zeit das Gegenteil gemeint hast? Dass du machst das großartig ein du könntest es nicht beschissener machen war?"

"Ich habe niemals geglaubt, dass du schwach bist, Ciana. Ich kenne jedoch all die Lasten, die du erdulden musstest. Das ist ein gewaltiger Unterschied." Ich greife nach ihren Händen, spüre das Beben bis in meine Gliedmaßen. "Jetzt ist es meine Aufgabe, dich vor dem nächsten Übel zu verschonen. Verlasse Snow Creek. Ich kümmere mich um Fenix, so wie es dir lieb ist, aber du darfst nicht hier bleiben."

Meinen Blick meidend wendet sie den Kopf zur Seite und starrt die Tür an, als könne sie geradewegs hindurch auf ihren Bruder schauen. Sich überstürzt von ihm verabschieden zu müssen, sagt ihr nicht zu - aber wem würde das schon gefallen?
"Ich kann nicht einfach abhauen, während andere abgeschlachtet werden, Xavian."

Die Armee ist längst auf dem Vormarsch und die Sub Town möglicherweise schon in wenigen Stunden dem Untergang geweiht. Hier zu bleiben und sich den Protesten anzuschließen, wäre der sichere Tod. Als ich Ciana jedoch versicherte, dass ihr niemand schaden wird, hatte ich nicht nur alle Anderen oder mich, sondern auch sie selbst miteingeschlossen. Wenn ich sie manipulieren muss, um sie aus Snow Creek zu bekommen und ihr das Leben zu retten, dann werde ich es tun. Aber sicherlich nicht, ohne ihr vorher nochmals die Möglichkeit einzuräumen, selbst die Beine in die Hand zu nehmen.
"Zwing mich nicht dazu, dich vor deiner Selbstlosigkeit schützen zu müssen."

Kaum versteht sie das Unausgesprochene hinter meinen Worten, zerrt sie an ihren Händen, um mir entkommen zu können.
"Du hast gesagt, dass mein Wille für dich tabu ist."
"Ich habe aber auch gesagt, dass ich nicht zulassen werde, wie dir jemand schadet. Nimm mit, wen du bei dir haben möchtest, Janus oder wen auch immer, aber bring dich in Sicherheit."
"Das geht nicht."

Ich lächele. Dass sie nicht das meint, worauf ich nun anspiele, ist mir bewusst. "Für dich geht das problemlos, wenn du selbst das Schloss in der Main Town knacken konntest. Die nächsten Nachbarn sind weit entfernt. Keiner wird mitbekommen, dass ihr dort seid."
"Xavian, ..."

Die Karte, mit der ich nun spiele, ist ungerecht, doch sie darf nicht in Snow Creek bleiben.
"Tu' Fenix den Gefallen. Er würde wollen, dass du genauso für dich kämpfst, wie du für ihn gekämpft hast."

Sie malträtiert ihre Unterlippe mit den Zähnen und überdenkt meine Worte. Fenix wollte immer nur das Beste für sie, auch wenn der Schutz nicht in diesen Wänden ruht. Aber das tut er schon lange nicht mehr, wenn der Einfluss der Gesellschaft selbst bis in die Leitungen hier vordringt.

"Okay, okay." Sie entreißt mir ihre Hände. "Nur solange, bis..."
Bis die Soldaten wieder abgezogen wurden. Wer weiß, wie es in wenigen Tagen hier aussehen mag.
"Bis es sich wieder beruhigt hat", versuche ich mich an einer vagen Formulierung. "Wenn du mich nicht sehen möchtest, bleibe ich hier. Wenn doch, dann komme ich nach. Deine Entscheidung."

Am liebsten würde ich sofort mit ihr gehen, doch Fenix hat es nicht verdient, in diesen Wänden zu verwesen. Die Verantwortlichen haben es noch weniger verdient, nicht selbst einen gehörigen Rückschlag einstecken zu müssen und zu erfahren, wie sich innerer Schmerz wirklich anfühlt.

"Ciana." Behutsam berühre ich ihre Wange, als sie nicht antwortet und stattdessen auf den Boden zwischen unseren Füßen blickt. "Es ist okay. Dein Schweigen ist Antwort genug. Aber versprich mir, dass du kämpfst. Für dich. Du sollst sehen, dass es auch für die Gesellschaft Konsequenzen gibt. Das verspreche ich dir. Dafür bleibe ich hier."

Sie darf nicht aufgeben. Ich will sie wiedersehen und wenn es nur aus der Ferne sein wird, weil sie kein Wort mehr mit mir wechseln will - sie muss leben. Die Strafen für die Skrupellosigkeiten meiner Eltern sind hoffentlich Anreiz genug. Das wollte sie doch immer: eine gerechte Welt.

Sie nickt kaum merklich, entwindet sich jedoch zugleich meiner Berührung. "Ich verspreche es."
Erleichtert atme ich durch. Sie erspart mir eine Manipulation, immerhin. Umso schwerer ist das, was ihr nun bevorsteht. Ich mache eine Kopfbewegung zu der verschlossenen Tür.
"Lass dir Zeit, Ciana."

Denn sie wird ihn nicht mehr wiedersehen.

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