43 • Ciana

Ich habe furchtbar geschlafen. Mein Schädel brummt und mein Nacken ist steif - es wäre sicherlich besser gewesen, hätte ich mich noch ins Bett geschleppt. Aber da ich es für eine gute Idee hielt, Xavians Zettel zu verbrennen - den Holzstiefel habe ich nicht übers Herz gebracht, so sehr ich auch wollte -, den eigentlich zum Desinfizieren gebrauchten Alkohol wie eine Verdurstende zu leeren und den harten Stuhl einer halbwegs weichen Matratze vorzuziehen, muss ich nun mit den Konsequenzen leben.

Aus Fehlern lernt man bekanntlich, auch wenn Xavians verbrannte Nachrichten alles andere als ein Fehler sind. Ich wünschte nur, es würde sich auch so gut anfühlen, wie ich es mir versuche einzutrichtern.

"Cia?"
Aus Reflex greife ich nach der leeren Flasche und verstecke sie hinter dem Rücken. Fenix soll kein Zeuge davon werden, wie ich meine Gefühle in Alkohol ertränke. Dass das der falsche Ansatz ist, ist mir bewusst, doch nachdem die Wahl auf das Messer oder Alkohol fiel, habe ich mich für das kleinere Übel entschieden. Denn sollte ich Xavian irgendwann noch einmal über den Weg laufen, werde ich ihm keine Narben präsentieren. Diese Genugtuung erhält er nicht. Ich bin stärker als die Zweifel, die er in der vergangenen Nacht säte. Ich bin stärker als meine teuflischen Gedanken. Ich bin stärker als er.

"Komme sofort, mein Zauberer."
Die Glasflasche landet im nächstbesten Schrank. Es wäre viel schöner, wenn ich meine Kopfschmerzen gleich mit darin verriegeln könnte.
Fenix sitzt auf der Bettkante und sieht so aus, wie ich mich fühle. Seine Schultern scheinen auf dem Boden zu schleifen, den Augen fehlt an Glanz und seine Haut ist fahl, beinahe leblos grau. Obwohl er nicht über Schmerzen klagt, kann ich mich nicht daran erinnern, dass er jemals so kraftlos aussah.

Noch ehe ich vor ihm in die Knie gehen und ihn in meine Arme ziehen kann, deutet er auf die Türe.
"Es hat geklopft." Dann mustert er mich aufmerksam. Sieht er mir an, was letzte Nacht passiert ist? "Mehrmals."

Wehe es ist Xavian. Oder Janus. Oder überhaupt irgendjemand. Ich muss mich um Fenix kümmern. Alles Andere kann warten, selbst wenn die Sub Town lichterloh brennen sollte. Apropos brennen - von dem Umbruch, den Janus versprach, höre ich nichts. In der Ferne bellt ein Hund, sonst ist da das drückende Schweigen des Leids.

"Tut mir leid. Habe tief und fest geschlafen." Ich streiche ihm kurz durch die Haare und habe Angst, loszulassen. Als könnte er in den nächsten Augenblicken für immer verschwinden. "Schau mal, ob du deinen Plüschhasen findest, ja?"

Meistens liegt das zerfetzte Kuscheltier nach jeder Nacht zwischen Bett und Fenster - Fenix wälzt sich zu oft und schmeißt alles von sich, was nicht seine Decke ist. Doch heute nickt er so träge, dass ich nicht einmal sicher bin, ob er sich nach seinem Hasen bücken kann.
"Aber langsam, Fen. Du hattest deine Medizin noch nicht."
Dass er so aussieht, als hätte er seit Wochen keine Medizin mehr genommen, verdränge ich und marschiere zur Türe.

Zu meiner Erleichterung stehen weder ein verlogener Adler, noch ein verurteilender Janus davor. Es ist Alice. Mit einem Karton in der Hand, der mir eine Spur zu sehr nach Main Town aussieht.

"Guten Morgen, Liebes." Sie schenkt mir ein Lächeln und drängt mir das Paket geradezu auf. "Das stand direkt hier, vor deiner Tür."
Ich winke sie hinein. Einen schwachen Fenix hat sie schon öfter erlebt, daher gibt es keinen Grund, ihr den Eintritt zu verwehren.

Skeptisch lasse ich meinen Blick über die zerfallenen Hütten ringsherum gleiten. Alles ist friedlich, alles ist ruhig. Nichts deutet darauf hin, dass sich ein Protest formt. Oder dass die Wahrheit bereits verbreitet wurde. Hoffentlich ist Janus nicht gescheitert. Aber zugegeben, ich würde auch nicht einfach eine Mistgabel nehmen und waghalsig in die Main Town aufbrechen - alles zu seiner Zeit. Der angebrochene Tag ist noch jung. Und vielleicht ist heute auch nur der Moment der bitteren Erkenntnis. Ich hatte eine ganze Nacht gebraucht, um zu akzeptieren. Warum sollte es den Betroffenen nicht anders ergehen?

Das Paket will ich achtlos in der Küche abstellen, da bemerke ich einen Zettel an der Seite. Nicht Xavians' perfekte Schrift, nein, viel krakeliger und abgehakter - auch wenn ich Janus noch nie habe etwas schreiben sehen, kann es nur von ihm stammen.
Glück hin oder her - Hilfe schlägt man nicht aus.

Hilfe von einem Mann, dessen Familie der Grund dafür ist, warum ich überhaupt Hilfe brauche? Würden unsere Eltern noch leben, müsste ich nicht in dieser Bar arbeiten, um mir Medizin leisten zu können. Vermutlich wäre Fenix schon längst genesen, da er so viel Wärme, Liebe und Pflege genießen würde, wie er bräuchte. Ich kann ihm von allem nur das Mindeste geben - mit meiner ständigen Abwesenheit erfülle ich noch nicht einmal sein Leben mit genug Liebe.

In dem Paket befindet sich ein festerer Verband für meine Hand und eine Menge Flakons. Am liebsten würde ich den Inhalt achtlos zur Seite schieben, ein Loch in den Frozen River klopfen und alles darin versenken, doch dann werfe ich einen Blick zu meinem Bruder. Er braucht Medizin, jetzt, nicht erst in ein paar Stunden, wenn ich aus der Apotheke eine Flasche ergattert haben werde. Wenn denn noch Vorrat da ist. Und falls es sich überhaupt um die richtige Medizin handeln sollte.

"Oh, mein Großer!" Alice hat ihren Stock gegen die Wand gelehnt und setzt sich neben Fenix, der seinen Hasen merkwürdig still zu allen Seiten dreht. "Kein Trübsal blasen, ja? Du siehst schon viel besser aus als gestern."

Ich mag mir nicht vorstellen, wie es Fenix gestern gegangen sein muss. Dass mein ganzes Depot verschwunden ist, zeugt davon, dass Xavian ihm helfen wollte und auf die falsche Medizin gestoßen sein musste. Hat er Fenix alles davon verabreicht, um ihn irgendwie am Leben zu halten, oder wohin ist alles verschwunden?

"Der junge Mann hat alles weggekippt", merkt Alice in meine Richtung an, als sie bemerkt, wie ich das erste Flakon öffne und zögere. Das hier ist eindeutig wieder die alte Rezeptur. "Die Adler haben wohl falsche Medikamente in den Umlauf gebracht."

Dafür gehört diese Familie ins Gefängnis. Wäre da nicht das kleine Problem, dass jede einzelne Zelle unter der Hand von den Dawsons geführt wird. Damit wäre, die Ashfords zu lebenslangen Insassen zu machen, nichts weiter als Wunschdenken.

"Mich wundert nichts mehr", murmele ich und rühre Wasser dazu, bevor Fenix das Glas in einem Zug leert. Heute verzieht er nicht einmal mehr angewidert das Gesicht - durchaus nachvollziehbar, wenn man die letzten Tage falsche Medizin einnahm und das eigene Leben nun auf Messers Schneide steht. "Willst du noch ein wenig weiterschlafen?"

Bis ich in die Bar muss, habe ich noch ein wenig Zeit. Was er sich wünscht, werde ich ihm daher widerstandlos einräumen. Er jedoch nickt nur, sinkt schlaff zurück und verzieht seine Lippen zu etwas, was wohl ein Lächeln sein sollte - Grimasse trifft es besser.
"Dann koche ich in der Zwischenzeit."

Ich drücke ihm einen Kuss auf die Stirn und lehne die Türe an - nur ein Ton und ich bin sofort an seiner Seite. Alice folgt mir in die Küche. Ich kann mir schon denken, warum. Ein Paket voller Medizin landet nicht rein zufällig in der Sub Town, vor allem nicht, wenn zurzeit mit richtigen Medikamenten gegeizt wird.

"Dafür sind ein paar Taler mehr geflossen", versuche ich das Thema zu umgehen. Dass das Geld von Xavian und nicht von mir kam, werde ich ihr nicht verraten. Denn die darauf folgenden Fragen bin ich noch nicht bereit, zu beantworten.
"Den Ashfords hat es bekanntlich noch nie an Geld gefehlt."

Ich widme mich scheinbar hochinteressiert dem Brot. So wie Alice es sagte, kann es zwei Möglichkeiten geben: entweder sie glaubt, dass ich den Ashfords nur noch mehr Geld in die Taschen schiebe, oder sie hat Xavian trotz seiner absichtlich zerrissenen Klamotten durchschaut.

"Bei den Preisen für Medizin wäre jeder stinkreich."
"Ciana." Sie tritt neben mich und legt eine Hand auf meine. Widerwillig hebe ich den Blick. "Ich würde einen Ashford selbst dann noch erkennen, wenn er sich vorher im Dreck suhlen würde. Die Augen täuschen nicht."

Das stimmt - die stechend blauen Augen sind mir bislang nur bei zwei Menschen in gesamt Snow Creek aufgefallen: bei Xavian und seinem Vater. Offensichtlich ergeht es da nicht nur mir so.
"Er wird nicht mehr hier aufkreuzen. Darum habe ich mich gekümmert", versichere ich ihr.

Wenn sie Angst um ihren Willen, ihre Erinnerungen oder gar Fenix haben sollte, ist das hoffentlich Beruhigung genug. Wenn sie jedoch noch weiter nachbohrt, warum Ashford ausgerechnet auf meiner Veranda stand, kann ich mich nicht länger vor meinen eigenen Gedanken und Gefühlen drücken. Und das kann ich nicht gebrauchen.

"Das sieht er wohl anders."
Alice dreht den Verband einmal um die Achse. Die unausgesprochene Bedeutung dahinter schmerzt in meiner Brust. Mir jetzt, nachdem seine Lügen enttarnt wurden, noch das zu schicken, was ich dringend brauche, kann ich weder mit Mitleid, noch mit Gewissen begründen, sonst müsste er wohl Schadensersatz für eine Handvoll mehr Familien leisten. Und das macht es furchtbar kompliziert, denn da sind Gefühle im Spiel, die keiner von uns haben sollte. Hatte Janus etwa doch recht?

"Es ist vorbei."
Was auch immer es war. Dass wir keine Zukunft haben würden, war mir von Anfang an klar. Dennoch hatte ich mich an das kleine Quäntchen Hoffnung geklammert, weil ich mir so sehr einen Mann wünschte, der mich versteht und mich dennoch nicht von sich stößt. Genau dieses Gefühl gab er mir, als er mich in seinen Armen hielt und wir über alles Mögliche sprachen - bis auf den Mord an meinen Eltern.

"Für ihn ist es erst vorbei, wenn er will", widerspricht Alice. "Als Adler ist er es gewohnt, dass er bekommt, was er will."
Sie schiebt den Stuhl heran und macht eine auffordernde Bewegung dorthin. Sicherlich sollte ich der alten Dame den Platz anbieten. Widerspruch erlaubt Alice jedoch gar nicht erst. Erst als ich sitze, zieht sie eine kleine Schachtel aus der Jackentasche. Ich runzele die Stirn. Was will sie denn mit einer Schmuckschatulle? "Hüte dich vor ihm und der Welt, die er mit sich bringt."

Das ist schon mehr mein Plan als Janus' bescheuerte Idee, mir mein Glück zu sichern. Will ich Fenix und mein Herz in Sicherheit wissen, ist Xavian keine Option, so sehr er mich auch glücklich machte. Denn wer einmal lügt, lügt auch ein zweites Mal. Die falsche Medizin ist Beweis genug - seine Eltern scheuen weitere Tote nicht. Warum sollte er dann anders sein? Wie zum Henker ich mich jedoch mit Schmuck vor ihm hüten soll, ist mir unbegreiflich.

"Und wie soll ich das machen?" Alice reicht mir die Schatulle. Kaum öffne ich sie, verstehe ich. In dieser Box ist ein Wert, den sich keiner aus der Sub Town leisten kann - ganz zu schweigen von dem Gewinn, den ich mir daraus erzielen kann. Vermutlich wird sie von Generation zu Generation weitergegeben und wechselt nun in meine Hände, da Alice die letzte ihrer Familie ist. "Sind das...?"

Sie nickt. "Du bist eine kluge Frau, Ciana. Du wirst wissen, wann du sie einsetzen musst."
"Aber merken die Adler das nicht?"
"Nein. Sie kommen in deinen Willen und deine Erinnerungen, aber jede Manipulation bleibt wirkungslos." Ich starre noch immer auf den Inhalt, als sie zur Tür läuft und mit ihrem Gehstock zu Fenix' Zimmer deutet. "Schick ihn nachher zu mir. Auch wenn ich nicht weiß, ob du heute überhaupt arbeiten gehen musst."

Überrascht stehe ich auf und folge ihr nach draußen. In der Ferne laufen zwei Jungen, die Hände voll mit Papieren. Ihre Rufe dringen noch nicht bis hierher, doch es ist klar, was sie an die Menschen verteilen, die neugierig aus ihren Häusern stürzen und sich geradezu um die Flugblätter reißen - vielleicht muss ich mich gar nicht erst vor Xavian und der Main Town hüten. Vielleicht müssen sie sich vor uns hüten. Ich fürchte, dass das in einem Blutbad enden könnte. Und auf einmal ist mir der Preis der Gerechtigkeit doch nicht mehr egal. Aber dafür ist es zu spät.

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