42 • Ciana
"Ich bin so naiv." Das Streichholz fällt mir aus der Hand, weil meine Finger zittern. Wieder einmal. Dabei war es die letzten Wochen besser. So sehr ich mich aber auch dafür hasse, weiß ich genau, dass Xavian der Grund dafür war. "So naiv und-"
"Verliebt."
Janus greift nach dem Streichholz und zündet die Kerze an. Länger kann er sich meine gescheiterten Versuche nicht anschauen.
"Ich bin nicht-", setze ich empört an.
"Erzähl das einem Anderen." Er schiebt die Kerze zu mir, sodass ich die Finger daran wärmen kann. Ich schaue auf den Umriss meiner Hände und hätte beinahe aufgelacht vor lauter Ironie: eine ist am Heilen, umwickelt von einem festen Gipsverband. Die andere schmerzt höllisch und lässt sich nur eingeschränkt bewegen. Wie mein verdammtes Herz. "Euch hat es Beide erwischt."
Zu gerne würde ich es bestreiten: Xavian ist ein Adler. Ich würde mich niemals in einen Adler vergucken, geschweige denn verlieben. Aber wem mache ich das noch vor? Ich habe Gefühle für ihn. Viele Gefühle. So viele, dass ich mir gerade am liebsten das Herz aus der Brust reißen würde, weil es weh tut. Verdammt weh.
Dabei war er nur bei mir, weil er Mitleid für das hatte, was seine Eltern Fenix und mir nahmen. Nichts als Mitleid, während ich mich Hals über Kopf in einen Lügner ver- nein! Ich werde nicht weiter darüber nachdenken. Meine Gefühle sind egal. Sie waren einseitig. Leere Hoffnungen. Hätte ich ihm wirklich etwas bedeutet, wäre er ehrlich gewesen, als ich ihn nach dem Vorfall im Rathaus fragte. Aber das war er nicht. Jetzt ist mit meinen Gefühlen Schluss. Xavian hat mir endlich gezeigt, was er von mir hält - absolut nichts. Sonst hätte er die Wahrheit nicht so monoton abgespult.
Aber was erwarte ich denn auch? Dass er mich wieder in den Arm nimmt und tröstet? Dass er mir Worte in das Ohr flüstert, aus denen ich tagtäglich Kraft schöpfe? Ich empfinde viel zu viel für einen Mann, der nur sein schlechtes Gewissen bereinigen wollte, keinen Sinn darin sah, eine Diskussion mit mir zu führen und daher emotionslos die Todesursache meiner Eltern herunterratterte. Und dann noch so dreist zu sein und etwas von Liebe zu sagen - er sollte sich schämen, auf meinen Gefühlen herumzutrampeln. Wann hat er genug davon, mit meinem Vertrauen zu spielen? Es wissentlich zu missbrauchen?
Wenigstens hat Janus mich damit beruhigt, dass mit dem Aufgehen der Sonne in den frühen Morgenstunden ein Wandel in Snow Creek bevorsteht. Denn dann kommt ein Beweis der kaltblütigen Machenschaften ans Licht. Keine Ahnung, wie er das hinbekommen hat, aber es ist ein Fortschritt. Nicht für mein gebrochenes Herz, doch für die vielen Angehörigen, die noch immer an einen Fehler im Wasserwerk glauben.
"Mir egal. Er bedeutet mir nichts mehr."
"Du kannst mich nicht anlügen, Ciana."
Janus greift nach dem Tuch, das ich noch von dem zerrissenen Shirt meines Vaters habe, und gibt sich alle Mühe, dem Modell an der anderen Hand halbwegs gerecht zu werden. Seine schwieligen Finger sind ganz anders als die vertraute Haut Xavians', doch es stört mich nicht. Ganz im Gegenteil - das hier ist, wozu ich wieder zurückkehre. Mein kleines Abenteuer in die Main Town ist vorbei.
"Er bedeutet mir ab sofort nichts mehr", korrigiere ich mich selbst.
"Man kann Gefühle nicht einfach abschalten, nur weil sie in diesem einen Moment unangenehm sind." Das ist mal eine Lebensweisheit, die ich ihm abkaufe - anders als dieses nichtssagende Alles hat seinen Grund, das er mir nach meinem Sturz im Zirkus verkündete. "Du magst ihn und obwohl du das gerade nicht so siehst, er mag dich mindestens genauso sehr."
Dass Janus auf die leeren Worte Xavians' hereinfällt, überrascht mich. Er lässt sich doch sonst nicht so leicht verblenden. Aber möglicherweise hatte sich Xavian schon an seinem Willen zu schaffen gemacht, lange, bevor ich kam.
"Er hat es nur wegen seines schlechten Gewissens getan", widerspreche ich.
"Mit mir lag er nicht im Bett."
Fassungslos entziehe ich ihm meine Hand. "Warum bist du auf seiner Seite?"
Janus seufzt nicht, schüttelt nicht den Kopf, nichts deutet darauf hin, dass er meine Anschuldigung als Beleidung aufschnappt, wie es jeder Andere tun würde. Immerhin werfe ich ihm gerade vor, mit einem Adler zu sympathisieren.
"Ich bin auf deiner Seite, Ciana. Du wurdest heute manipuliert. Auch wenn ich an Ashford bis eben nichts Gutes sah und es deutlich leichter wäre, dich in deinen verletzten Gefühlen zu bestärken, wäre das nicht gerecht. Ich weiß nicht, wer dahinter steckt und Ashford offensichtlich auch nicht, aber er hat um dich gekämpft und er wird es auch weiterhin tun, also werde ich nicht zuschauen, wie du dein eigenes Glück für irgendeinen anderen Adler ruinierst. Denn du hast es verdient, endlich glücklich zu sein. Das musst du jetzt nur noch selbst erkennen."
Ohne auf meine Schmerzen zu achten, greift er bestimmt nach meiner Hand und setzt seine Arbeit fort.
"Er kann nichts für das, was seine Eltern gemacht haben. Das ist sicherlich nicht leicht zu verstehen, aber er selbst hat unsere Familien nicht zerstört. Er war dreizehn, vielleicht vierzehn, Ciana. Ich sage nicht, dass ihn das unschuldig macht. Wir wissen nicht, wie viel er davon wusste. Aber er hat nicht die finale Entscheidung getroffen, sondern diejenigen, die unterschrieben haben. Und das sind seine Eltern und Rogan Dawson."
Das ist eine sehr unvoreingenommene Reaktion von jemanden, der ebenso von den Entscheidungen der Adler betroffen ist wie ich. Eine Perspektive, die ich durchaus nachvollziehen kann, aber nicht verstehen will.
"Aber er lügt genauso wie seine Eltern. Das macht ihn nicht besser."
Zumal sie gerade falsche Medizin verkaufen und damit bewusst den Tod in der Sub Town willkommen heißen. Mein Blick zuckt zu Fenix' Zimmer. Xavian hatte recht: er ist in Ordnung, was so viel bedeutet wie Er ist weit entfernt von gut.
Aber Fenix lebt. Die Haut ist blass und erschreckend kalt, an seinen Mundwinkeln kleben die getrockneten Überreste des Blutes und doch atmet er. Er kämpft. Jeden Tag und heute noch intensiver als sonst. Ich hätte definitiv keinen Spaziergang machen sollen, dabei tollpatschigerweise ausrutschen und mir die Hand brechen sollen, während sein Zustand kritisch ist. Das war unverantwortlich von mir. Aber wenigstens habe ich die größte Gefahr von unserem Grundstück vertrieben, auch wenn Xavian es nur Janus zu verdanken hat, dass ich seine Leiche nicht am Stadtrand verbuddeln muss. Die plötzliche Wut hat mich regelrecht aus meiner Haut fahren lassen - und vermutlich wäre ich weiter gegangen, als ich es jemals bereit war.
"Zwischen Mördern und einem Sohn, der seine Eltern deckt, gibt es große Unterschiede."
"Er ist aber kein Kind mehr! Er ist ein erwachsener Mann, der seine eigenen Entscheidungen treffen kann. Und damit meine ich nicht, dass er seine Eltern in den Wind schießen muss, sondern sich bewusst von ihnen distanzieren kann."
"Das ist leichter gesagt als getan." Janus knotet das Tuch fest und sinkt auf seinem Stuhl zurück. Auf einmal wirkt es so, als wäre diese Unterhaltung kräftezehrend für ihn. Aber solange nicht alles nach seinem Plan läuft, gibt er sich nicht geschlagen. Und sein Plan ist es, mich davon zu überzeugen, wie achso unschuldig Xavian ist. "Bis vor Kurzem sah er vermutlich noch keinen Grund, sich von seinen Eltern zu distanzieren."
Ich schnaube. "Mord ist ein triftiger Grund."
"Könnte man meinen. Aber an einem so gierigen Ort wie der Main Town ist die eigene Familie gewiss der sicherste Platz. Warum sollte er das aufgeben?"
Seine Familie ist absolut nicht der sicherste Platz. Genau das bringt mich zu der Frage, warum er das erduldet. Xavians' Eltern üben mit dem Familiengeschäft und seinem Studium reichlich Druck aus. Hinzu kommen noch die Übergriffe seitens seines Vaters. Klar, mit seiner Wohnung schottet er sich räumlich ab, aber warum nicht ganz? Weil er sonst niemanden hat?
"Weil man ethische Werte vertritt?"
Janus blickt in die tanzende Flamme der Kerze. "Für einen Adler scheint er schon übermäßig viele ethische Werte zu besitzen, Ciana. Du gehst mit ihm hart ins Gericht."
"Für einen Adler? Du kannst das doch nicht einfach auf seine Erziehung schieben!", fauche ich und senke augenblicklich meine Stimme. Fenix liegt jedoch noch immer völlig ruhig in seinem Bett, die Decke bis über die Schultern gezogen. "Wir reden hier von Mord."
"Das ist mir bewusst. Und dafür wird er auch bestimmt seine Strafe erhalten." Janus beugt sich vor und verleiht seinem Gesicht einen orangefarbenen Stich. "Aber sei dir bewusst, dass du ihm zum ersten Mal in seinem Leben einen Grund gegeben hast, mit der Wahrheit rauszurücken. Du bist sein Grund, sich von seinen Eltern zu distanzieren. Das hat er dir auch mehr als nur deutlich eben gesagt."
"Morgen kommt eh alles raus", schiebe ich seinen Einwurf gnadenlos zur Seite. "Kann ja dann wohl keine schwere Geburt mehr für ihn gewesen sein. Zumal ich keine Ahnung habe, worauf du gerade aus bist."
Will er etwa, dass ich Xavian den Allerwertesten rette, sollte es einen Aufstand geben? Wie soll ich das denn anstellen? Gegen eine protestierende Sub Town werde ich mich nicht stellen - ganz im Gegenteil: wenn ich die Chance bekomme, würde ich ihm am liebsten persönlich seine verlogene Zunge rausschneiden. Nicht, dass ich das wirklich über mich bringen würde - jetzt, wo meine Wut wieder gedämpft ist, bin ich weder eine Diebin, noch eine Barbarin. Dennoch macht mich Janus stutzig - seit wann setzt er sich für einen Adler ein?
"Ich habe heute genug Mist gebaut. Jetzt mache ich möglichst viel davon wieder gut."
"Da bist du bei mir an der falschen Adresse."
Er reibt sich über die Augen. Entweder er ist komplett ausgelaugt, etwas, was ich noch nie bei Janus gesehen habe, oder er versteckt sich vor der Antwort. "Ich bin genau an der richtigen Adresse, Ciana. Deine Hand? Nicht Xavians Schuld, sondern meine. Ich habe den Fehler gemacht, aber deswegen lasse ich nicht dich den Preis dafür zahlen."
"Den Fehler hat ganz allein Ashford gemacht, Janus." Ich habe Xavian geküsst und ihm meinen Körper anvertraut, dabei wusste er von Anfang an Bescheid. Auch wenn mein Herz ihn mit jedem Schlag begehrt, kann ich nicht ignorieren, dass er mich anlog. Dass sein Gewissen nun gestillt ist und der angeborenen Unverfrorenheit seiner Familie Platz machte. Alles auf meinen Kosten. Wie viel zwischen Xavian und mir lief und wie tief das ging, werde ich Janus nicht offenbaren. Mit seinem Bett-Kommentar von vornhin kann er sich genug zusammenreimen. "Wäre es nicht nur um sein Gewissen oder ein bisschen Mitleid gegangen, wäre er von Anfang an ehrlich gewesen."
Janus erhebt sich. Ist er endlich zur Einsicht gekommen und versteht, dass Xavians Zynismus für die Worte von vorhin verantwortlich ist?
Ich liebe dich, Ciana.
Wer's glaubt, wird selig. Er liebt es nur, mit mir zu spielen.
"Ich sage nicht, dass Ashford keinen Fehler gemacht hat. Dich anzulügen, obwohl euch mehr verbindet, war keine kluge Idee und das hat er nun am eigenen Leib erfahren müssen. Dennoch musst du wissen, dass möglicherweise nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Vielleicht löschen sie die gesamte Sub Town aus, vielleicht wenden sich die anderen Adler gegen die Ashfords - ich kann es dir nicht sagen. Aber vielleicht ist heute der letzte Tag, um glücklich zu werden."
Er verlässt das Haus, bevor ich etwas erwidern kann. Ganz gut so, wenn ich länger darüber nachdenke. Denn dass ich nicht von meinem Herz getrieben zu Xavian renne, werde ich Janus nach all seinen Bemühungen nicht vorbeten. Mir egal, was die nächsten Tage bringen. Hauptsache die Gerechtigkeit siegt und Fenix lebt. Das ist für mich Glück genug.
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