40 • Ciana

Das Schicksal will mich doch verhöhnen.

Als die Nacht anbrach, war dieser Raum alles andere als mein Ziel. Nun sitze ich unter der gläsernen Kuppel, vor mir ein strikt geordneter Schreibtisch, dahinter ein samtiger Sessel, den ich mir für meinen nächsten Einbruch vorknöpfen sollte. Zurückgezogen in den Schatten stehen mehrere Wachmänner, die mich aus dem Aktenraum hierher zerrten und meine gesunde Hand an der Armlehne des Stuhls ketteten, auf dem ich nun wohl oder übel zum Bleiben verdonnert wurde. Über unseren Köpfen ruht der noch immer von Wolken bedeckte Himmel und auf bizarre Weise kann ich den zutiefst enttäuschten Blick meines Vaters auf mir spüren. Wie er an das Wissen über die Akten kam, kann ich mir nicht ausmalen, doch vermutlich hat er dafür selbst sein Leben auf das Spiel gesetzt.

Ich spähe hinauf, als könnte ich ihm eine Botschaft senden.
Fenix wird nichts passieren. Auf Janus ist Verlass. Und ich? Hoffentlich komme ich lebend aus diesem Gebäude.

Die Tür hinter mir schwingt energisch auf. Wer auch immer gerade den Raum betritt, verfügt über mehr Macht als die Wachmänner, die ihre ohnehin schon kerzengerade Position nur noch mehr versteifen. Es ist eine Frau, den klackernden Absätzen nach zu urteilen.

Dabei wäre es mir herzlich egal gewesen, ob Cosmo mich hier festsetzt und Xavian damit endlos enttäuscht - soll er doch. Dieser Mistkerl hat es nicht anders verdient, als am eigenen Leib erfahren zu müssen, wie sich solch ein Verrat anfühlt.

"Was eine Aussicht, nicht wahr?"

Ich zucke zusammen.
Naomi Dawson. Eine sanfte, fast liebliche Stimme - wieso ist selbst der Klang ihrer Stimme eine bezaubernde Melodie?

Sie tritt vor mich, rutscht auf den Tisch und überschlägt die Beine. Goldene Riemen funkeln an ihren Absatzschuhen. Das bis knapp zu ihren Knien reichende Kleid legt sich auf ihren Körper wie eine zweite Haut und betont gemeinsam mit dem verführerisch tiefen Dekolleté ihre Kurven - sie weiß definitiv, wie sie sich anzuziehen hat, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder auf ihre Brüste, je nachdem, worauf man Wert legt.

Abschätzig mustert sie mich mit ihren hellbraunen Augen, geradezu untermauert dadurch, dass ich zu ihr aufblicken muss. Dabei bräuchte sie dies gar nicht erst - sie hat die Macht, mich hierher zu bringen. Und es wird wohl nicht lange dauern, bis sie nicht nur die Kontrolle über Janus' Körper, sondern auch über meinen Willen übernimmt.

Zu meiner Überraschung legt sie den Kopf in den Nacken und blickt in den Himmel.
Mehrere Atemzüge lang. Keiner spricht. Keiner regt sich. Jeder wartet auf ihre Befehle.
"Ich erinnere mich noch genau daran, als Xavian für seinen Vater einsprang, weil dieser sich ein hartnäckiges Fieber geholt hatte."

Hier geht es also um Xavian - das verwundert mich nicht. Vermutlich will sie mich aus dem Weg räumen. Dabei muss sie es gar nicht mehr. Sie will ihn? Soll sie ihn doch haben. Ich bin nicht scharf auf seine Lügen. Was er ihr schon aufgetischt hat, mag ich mir gar nicht erst ausmalen.

"Er blieb bis weit in die Nacht hinein. Wollte seinen Vater nicht enttäuschen. Also überraschte ich ihn hier, in diesem wunderschönen Raum." Sie gestikuliert zu den rings um uns angeordneten Wandleuchten. "Der Himmel war wie heute. Nur Wolken. Aber Xavian hat es trotzdem geschafft, mich Sterne sehen zu lassen. Genau hier, auf diesem Tisch."

Beinahe ehrfürchtig streift sie über das Holz, als trage es wertvolle Erinnerungen. Für sie vielleicht. Wenn ich jetzt daran denke, wie ich selbst mich ihm hingab, wird mir speiübel. Sollte sie also versuchen, mir mit ihren Worten grausame Bilder in den Kopf zu pflanzen, verfehlt das bei weitem das Ziel.

Es ist mir egal, wo, wie und mit wem Xavian Sex hatte. Hoffentlich schlägt er sich beim nächsten Mal den Kopf an einem dieser Leuchter an und zieht sich eine Gehirnerschütterung zu. Oder er bricht sich das Bein, wenn er wieder über den Frozen River läuft. Oder - warum denke ich überhaupt die ganze Zeit über ihn nach? Er ist keinen einzelnen Gedanken wert.

"Das war der Moment, in dem ich wusste, wie meine Zukunft aussehen würde. Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, und ich, seine gute Frau und Stadtherrin. Es hätte jeden Tag so sein können wie an diesem einen Abend. Meine Zukunft war schon fast in Stein gemeißelt. Es fehlte nur noch der Ring am Finger."

Demonstrativ hebt sie die Hand in die Höhe. Kein Silber oder Gold schimmert mir dort entgegen. Zu weniger würde sie sich gar nicht erst herablassen.

"Wie du siehst, fehlt er immer noch. Dabei habe ich mich so sehr bemüht, es ihm recht zu machen." Sie streift sich eine perfekt glatte Haarsträhne auf den Rücken und seufzt, als sei nur der Gedanke daran Anstrengung pur. "All seine Wünsche zu erfüllen. All seine Lust zu stillen. All das zu sein, was er haben will. Ich hätte mir meine Bemühungen sparen können. Alles, was er braucht, ist eine Diebin, die zu unfähig ist, ihren Auftrag zu erledigen oder sich an einem Tuch festzuhalten."

Da sie in Janus' Kopf war, weiß sie also auch über meinen gescheiterten Diebstahl - das war es also mit meiner gesunden Hand.

Sie gleitet vom Tisch, stützt je einen Arm an meiner Seite ab und beugt sich zu mir vor. Gleich ist also auch mein eigener Wille hin.

"Die ganze Zeit war ich überzeugt davon, dass ich das Problem bin. Bis ich mir im Rathaus den Feuerspucker nahm und da auf einmal du in seinen Erinnerungen warst. Die so unschuldige Akrobatin, die bei den Ashfords einbrechen sollte, aber versagte. Und da hat alles Sinn gemacht: warum Xavian mitten in der Vorführung aus dem Zelt ging, um angeblich frische Luft zu schnappen. Warum er mich ständig abwies."

Ihre spitzen Fingernägel krallen sich schmerzhaft in meinen Unterkiefer. Ich verbiete es mir, einen Laut des Schmerzes erklingen zu lassen. Noch ehe ihre Augen leuchten, kneife ich meine eigenen zu.

Doch was Naomi will, bekommt sie auch. Qualvoll werden meine Lider auseinandergezerrt, kein Entkommen ermöglicht. Sie ist in meinem Kopf, vielleicht nur in meinem Gedächtnis, vielleicht in meinem Willen, vermutlich ergreift sie aber die Chance und räumt in beidem nach ihrem Belieben auf.

"Wenn ich mir deine Erinnerungen anschaue, bist du gar nicht so unschuldig, was? Gott sei Dank habt ihr verhütet. Ich will mir bei Xavian nachher nichts einfangen."

Und ich mir nur über meine Leiche bei ihm - über meine Leiche. Vermutlich würde er davor auch nicht haltmachen.

Dann auf einmal lässt sie mich abrupt los.
"Scheiße." Sie fährt zurück und stößt gegen den Tisch. Irgendetwas scheint ihr nicht zu passen. Sie macht eine auffordernde Kopfbewegung zu den Wachen hinter mir. "Schnappt euch den Anderen. Weit kann er noch nicht sein. Löscht ihm sämtliche Erinnerungen an heute und verbrennt die Akte. Jetzt."

Eiliges Treiben hinter mir, doch ich schmunzele nur.
"Er ist schneller."
"Er hat keine Chance", faucht sie. Offensichtlich hat sie Janus keine genauen Anweisungen gegeben, wo er mich hier festbinden soll und seinem Willen zu viel Freiraum gewährt - ist ihr in ihrer Eifersucht solch ein schwerwiegender Fehler unterlaufen? Oder aber sie weiß selbst nicht, dass die Akten nach acht Jahren noch hier sind - ich selbst hätte an der Stelle der Adler schon längst aufgeräumt und sämtliche Beweise vernichtet. Aber was weiß ich schon vom Morden?

"Du kennst ihn nicht", mache ich ihr noch mehr Panik.
Sie flucht, krallt die Finger in den Schreibtisch. Nichts ist mehr übrig von der Ruhe, die sie eben noch auszeichnete. "Verdammte Scheiße!"

"Läuft wohl nicht nach Plan?", frage ich provozierend.
Im nächsten Moment peitscht ihre Hand auf meine Wange, entlockt mir ein erstauntes Keuchen. Kraft hat sie.
"Wärst du einfach richtig gestürzt, wären wir jetzt gar nicht hier."

Wäre ich tödlich verunglückt - das meint sie also mit richtig. Xavian hätte mich niemals außerhalb des Zeltes aufgesucht und nichts davon hätte seinen Lauf genommen. Weil es mich nicht mehr gegeben hätte.

"Wie heißt dein kleiner, mit Maladis verseuchter Bruder noch einmal? Fenix?"
"Finger weg von meinem Bruder", zische ich sofort.

"Finger weg von meinem Mann, Ciana." Sie überkreuzt die Beine. Selbst wenn sie Fenix' oder meinen Tod plant, sieht sie noch immer aus wie ein Engel. "Du wirst zu Xavian gehen, ihm sagen, dass eure kleine Liebschaft nicht weitergehen kann, und Fenix lebt. So einfach ist das - deinen Erinnerungen nach hat Xavian schon einmal auf deinen Wunsch hin Abstand gehalten. Sollte ich dich dennoch auch nur einmal in der Main Town oder in seiner Nähe erwischen, ist dein Bruder des Todes."
"Warum löschst du mir nicht einfach alle Erinnerungen an Xavian?"

Sie schnalzt mit der Zunge. "Ich hatte schlaflose Nächte! Ich habe mich wochenlang gefragt, was mit mir falsch ist! Du sollst dich erinnern, Ciana. Du sollst wissen, wie gut er küsst und wie gut er im Bett ist, wenn unsere Verlobung verkündet wird. Du sollst schlaflose Nächte haben. Keiner wird dir glauben, wenn du aufmucken solltest. Keiner wird glauben, dass diese Erinnerungen echt waren, sondern darauf schließen, dass dir irgendjemand deinen Kopf verdreht hat. Also, verstehen wir uns?"

"Du kannst ihn gerne haben", murmele ich. Von mir aus kann sie ihn so sehr um ihren kleinen Finger wickeln, bis er ihr verfällt. Mir egal. Jetzt ist er ihr Problem, nicht meines.

"Sagst du jetzt, da du ihn noch hasst. Aber gleich wirst du dich weder an die Akten, noch an unsere Begegnung erinnern. Oh, und bevor ich es vergesse - was macht man mit Dieben?"

Mein Kopf schnellt in die Höhe. Um Gnade zu flehen, ist weit unter meiner Würde, aber ich mag mir nicht ausmalen, wie meine Dienste in der Bar mit einer weiteren gebrochenen Hand aussehen - da rettet mich keine Tanzstange mehr.
"Nein, bitte nicht!"

Gleichgültig zuckt sie mit den Schultern und dreht eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. "Du wolltest mir meinen Mann klauen."
"Bitte! Ich brauche meine Hand!"

Sie grinst. Das Grinsen eines Engels, während ihr Inneres der Hölle entspringt. "Spreiz deine Beine ruhig für andere Männer, Ciana. Xavian ist ab sofort tabu." Eine Handbewegung zu der Wache hinter ihr. "Brecht ihr die linke Hand. Und lasst Euch gerne Zeit dabei."

Und danach wird sie sich meinen Willen und meine Erinnerungen vorknöpfen.

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