38 • Xavian
Über eine ganze Woche ist es her, dass mir mein Vater am eigenen Körper demonstrierte, wie unterschiedlich wir doch sind. Die Blutergüsse sind trotz aller Versorgung zu einer abstrusen Kombination aus grün-gelblichen Platten herangewachsen und erinnern mich jeden Tag daran, dass ich nicht so schnell wieder bei ihm aufkreuzen werde. Zumindest, solange es keinen driftigen Grund gibt. Mit Ciana sieht es hingegen völlig anders aus. Am liebsten würde ich in ihrer Anwesenheit die Zeit stoppen. Aber das ist das Verrückte: seit Ciana in meinem Leben ist, hat Zeit keinen gleichmäßigen Takt mehr.
Eine Stunde ist nicht mehr die Summe von sechzig Minuten, sondern das Ergebnis von den Menschen, die einen umgeben. Tagsüber streckt sich eine Stunde ins Unermessliche, nur, um nachts an mir vorbeizugaloppieren. Jedes Mal spielt die Zeit gegen mich. Es ist eine Qual, Ciana am anderen Ende Snow Creeks zu wissen, aber genauso weniger erlösend, wenn ich mich frage, wie zum Henker es schon wieder weit nach Mitternacht ist und ich mich von ihr verabschieden muss. Denn auch wenn Ciana das Gefühl von Zeit komplett durcheinanderwürfelt, ist eines konstant geblieben: sie bleibt nicht bis zum Morgen.
Wir haben nie darüber gesprochen - das brauchen wir auch gar nicht. Es ist eine stumme Vereinbarung zwischen uns. Nickt sie beim Lesen ein, wecke ich sie, obwohl ihr Körper die Erholung braucht. Laufen wir auf dem Frozen River entlang oder schreiben einander kurze Nachrichten in den Schnee, lauscht sie immer wieder der Kirchenglocke, um ihre Pflicht nicht zu vergessen. Kochen wir für Fenix und verlieren uns kichernd in Unterhaltungen, quellt früher oder später das Gewissen in ihr auf. Sind unsere mit Schweiß übersäten Körper unter der Decke ineinander verstrickt, muss ich all meine Beherrschung zusammenraffen, um von ihr ablassen zu können.
Fenix hat Vorrang.
Und das respektiere ich, obwohl die einsamen, viel zu langen Stunden nach ihrer Anwesenheit einer Folter gleichen. Umso unbehaglicher wird mir, als sie an dem heutigen Abend nicht auftaucht. Es gibt nur einen Grund, für den sie ihren Job riskieren würde.
Kurz angebunden schnappe ich mir ein möglichst verwaschenes Shirt, reiße mir über dem Knie ein Loch in die Hose und eile in die Sub Town - eine weitere Glasflasche, die mich an der Schläfe trifft, muss nicht sein. Auf meinem Körper sammelt sich bereits genug Hass an, der von allen Seiten auf mich prasselt, nur nicht von Ciana selbst.
Sie ist meine Zuflucht. Sie ist das, was ich gerne als meine eigene Welt bezeichnen würde. Als sie mich fragte, wie mein Happy End aussehen würde, wusste ich lediglich, was nicht dazu gehören sollte. Mittlerweile bin ich ein Kapitel weiter in meiner Lebensgeschichte.
Ciana ist mein Happy End.
Sie in meinen Armen halten, ihren Worten zuhören und ihren Körper verehren zu dürfen, das ist das perfekte Ende.
Und wenn ich dafür alles aufgeben muss, dann werde ich es tun.
Wenn ich nicht selbst schon mein Happy End zum Scheitern verurteilt habe. Findet sie heraus, was ich ihr seit einem Dutzend Tagen vorenthalte, was meine Familie seit Jahren vertuscht, ist es gelaufen. Dabei sehe ich keinen anderen Ausweg - nicht, dass ich Lügen für einen guten Ausweg halte.
Wenigstens hat die Presse einen Bericht veröffentlicht, welcher keine Zweifel daran lässt, dass Lady Denver psychisch krank ist. Mein Vater und Rogan haben ganze Arbeit geleistet. Ich selbst musste meinen Teil dazu beitragen, damit der medizinische Bereich Hand und Fuß hat.
Ich passiere einen Obdachlosen, der nicht mehr als seine Nasenspitze unter der um seinen mageren Körper gewickelten Decke hervorlugen lässt. Die miserablen Umstände stillschweigend verfluchend, lege ich ihm meine Jacke über die Schulter und bin weiter, bevor er mir verwundert danken kann. Eine Ratte kreuzt meinen Weg, in der Ferne schreit ein Neugeborenes, vermutlich einem leeren Magen geschuldet. Sonst brennen nur wenige Lichter in den zerfallenen Häusern.
Auch in Cianas Wänden ist es komplett finster. Keiner öffnet, als ich anklopfe. Durch die verkratzten Scheiben nehme ich mir einen Blick in die Räume heraus, doch kein Schatten huscht hin und her. Ich weiß nicht, wie ich das werten soll. Den ganzen Weg hierher habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie es um Fenix stehen muss, wenn sie spontan ihre Arbeit absagt. Nun ist keiner der beiden hier - was, wenn ich zu spät bin? Oder wenn sie ihn in aller Verzweiflung zu dem Arzt schleppte, der ihrer Erinnerung nach keinerlei Empathie zeigt?
Ein gleißendes Stechen bohrt sich durch meinen Kopf. Ich drücke mir trotz der Wunde die Daumen in die Schläfen und atme tief durch. Wie gerne würde ich mir einreden, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Das Problem ist nur, dass ich es besser weiß. Ich weiß, wovor sie einmal nur in letzter Sekunde zurückschreckte.
"Fuck, Ciana", fluche ich leise und lasse mich auf die Treppenstufe sinken, gerade, als im Haus gegenüber die Tür aufgerissen wird.
"Ich will zu Cia."
Ich erkenne Fenix' Stimme sofort wieder und hätte beinahe Erleichterung verspürt - würde er nicht schlaff in den Armen einer alten Dame hängen, die sich zwischen ihrer Gehhilfe und dem Jungen entscheiden muss, als ihm seine Beine wegsacken.
"Ich weiß, ich weiß, Großer. Sie kommt bald wieder."
Ich springe auf und presche an ihre Seite. Bevor der Stock achtlos im Schnee landen kann, greife ich Fenix bereits unter die Arme und zwinge ihn in die Vertikale. Blut tropft aus seinen Mundwinkeln, ein Röcheln stolpert über seine Lippen. Abgesehen von den paar Gramm mehr auf seinen Wangenknochen ist sein Zustand eine träge Katastrophe.
"Finger weg von ihm!", herrscht mich die Frau an und schlägt mir auf die Hände, doch ich lasse Cianas Bruder nicht los.
"Ich kann helfen."
"Ich weiß sehr wohl, was ich zu tun habe, junger Mann."
Sie müht sich selbst schon daran ab, nicht im Schnee umzuknicken - so sehr sie auch über Expertise verfügen mag, schwächelt ihr eigener Körper. Wie möchte sie dann noch den Jungen stützen können?
"Ich bin ein Freund von Ciana", erkläre ich.
Ein Freund. Als würden Freunde sich so innig anschauen. Küssen. Begehren.
Doch für Fenix würde eine Welt zusammenbrechen, wenn er mich als Konkurrenz in ihrem Herzen betrachten sollte. Das kann ich ihm nicht auftragen. Zumal ich ihm keine Konkurrenz sein möchte - was die Geschwister nach den vergangenen Jahren verbindet, wird niemand jemals würdig ersetzen können.
"Ciana hat mir klare Anweisungen gegeben und solange ihr Bruder in meiner Obhut ist, werde ich mich daran halten." Warnend wird der Gehstock in meine Richtung geschwenkt. Trotz ihrer Fragilität sieht sie aus, als würde sie sich gleich generalsmäßig einem Gefecht stellen. Sie wird Fenix mit ihrem Leben verteidigen, so viel ist klar. "Ich sage es nur noch einmal: Finger weg."
Widerwillig löse ich meinen Griff.
"Er braucht seine Medizin. Sofort."
"Wir sind schon auf dem Weg dorthin", murrt sie mich an. Sie ist nicht gut auf mich zu sprechen. Sieht mich als Bedrohung, obwohl sie mich für einen Mann der Sub Town hält, so wie sie auffordernd nach rechts verweist - nur noch tiefer in den verwinkelten Teil Snow Creeks. "Wenn du wegen Ciana hier bist, hast du schlechte Karten. Komm morgen wieder."
"Ich kenne mich mit Maladis aus."
Sicherlich werde ich mich nicht abwimmeln lassen, während Fenix' Leben soeben am seidenen Faden hängt.
"Ich habe mich auch informiert", meint die Frau empört.
Fenix' Augen drehen sich nach oben. "Cia. Ich will zu-"
Er kippt um. Klappt in sich zusammen wie ein bloß von einem sachten Atemzug tangiertes Kartenhaus. Als hätte ihn sämtliche Energie verlassen. Im letzten Moment fange ich ihn auf, überstrecke seinen Hals und kontrolliere seine Zunge. Atemwege frei, immerhin. Es ist ein Leichtes, der unter Schock stehenden Frau den Schlüssel abzunehmen und ihn in das gegenüber liegende Haus zu tragen.
"Nein, Fenix!"
Schrille Panik hinter mir. Die Frau stürmt mir hinterher in sein Schlafzimmer - keine Ahnung, woher sie plötzlich diesen Elan nimmt.
Ich bringe ihn in Seitenlage und lausche seiner Atmung.
"Er darf nicht ... oh lieber Gott, bitte nicht!"
"Er stirbt nicht", höre ich mich selbst ruhiger sagen, als ich tief in mir bin.
Seine Pulsader am knochigen Handgelenk zu finden, ist ein Kinderspiel. Erleichtert atme ich durch. Alles in Ordnung. Zumindest fürs Erste.
"Wenn du nicht zufällig Lehrling des Arztes bist, glaube ich dir kein Wort."
Sie ist hartnäckig. Genau das, was Fenix braucht, um beschützt zu werden. Dennoch kann ich ihr nicht erklären, dass ich Medizin studiere. Die Universität ist ausschließlich der Main Town vorenthalten. Da könnte ich ihr gleich meinen Nachnamen verraten.
"Meinetwegen nicht."
Ich erhebe mich, laufe in die Küche und öffne wild alle Schubladen. Brot, vereinzelte Teller, Gläser, dann sehe ich die Flakons in der Ecke. Das Wimmern der Frau hinter mir ist wenig besänftigend, doch sie widmet sich vollkommen dem ohnmächtigen Fenix, streicht ihm eine Locke aus der Stirn und betrachtet sein aschfahles Gesicht.
"Es ging dir doch so gut die letzten Tage", glaube ich sie zwischen den Schluchzern sagen zu hören. "So gut. Ich verstehe es nicht. Wie ... wieso?"
Ich schenke die Medizin ein und werde stutzig. Wende das Glas im Mondlicht, rieche daran und bin mir absolut sicher: die Konsistenz ist nicht, wie sie sein sollte. Zu dünn, zu trüb.
"Das ist..." Ich nehme einen vorsichtigen Schluck. Magnesium, verdünnt in Wasser. Definitiv nicht, was bei Maladis Leben rettet. "... die falsche Medizin."
Ich drehe das Flakon und verenge die Augen. Laut Etikett müsste es Fenix helfen. Warum verbirgt sich dann nicht der passende Inhalt darin?
"Wie meinst du? Die falsche Medizin?"
"Das ist Magnesium. Nichts sonst." Das noch verschlossene Flakon ist eine weitere Enttäuschung. Ciana wird mich dafür köpfen, doch ich kippe den gesamten Inhalt weg.
Entrüstet schnappt die Frau nach Luft. "Weißt du, wie teuer das ist?"
"Ich hole neue Medizin. Richtige."
"Unterstellst du ihr etwa, dass sie nicht das Richtige für ihn macht?"
"Laut Verpackung sehr wohl. Für den Inhalt kann Ciana nichts."
Aber mein Vater. Warum verkauft er falsche Medikamente? Er wird doch nicht etwa kostenspieligere Medizin durch billigere ersetzen und zum bekannten Preis verkaufen, um seinen Gewinn zu steigern?
"Sie liefern uns falsche Medizin?"
Immer wieder fliegt mein Blick zum Etikett. Solch ein Fehler ist kein Zufall, erst recht nicht, da verschiedene Verfallsdaten angegeben sind. Dieser Trug wird schon seit Wochen durchgezogen und bringt alle an Maladis Erkrankten nur noch näher an den Tod. Ciana konnte nichts ahnen - sie muss es auf eine neue Rezeptur geschoben haben.
"Scheint so", murmele ich und trommele mit den Fingern auf die Spülfläche. Obwohl ich jedes Gespräch mit meinem Vater umgehen wollte, kribbelt es in meinen Beinen. Am liebsten würde ich ihm vorwurfsvoll die leeren Flakons vor die Nase knallen und ihn fragen, wie zum Henker er das rechtfertigen möchte. Kein Grund dieser Welt erlaubt solch ein Übel.
"Diese Adler", zischt die Frau und streicht Fenix über die Wange. "Diese verfluchten Adler. Wenn sie nicht alle miteinander in der Hölle schmoren, ..."
Sie beendet den Satz nicht. Ihre Wut gleicht meiner eigenen. Ich versuche zu verstehen, was meinen Vater dazu getrieben haben kann und komme jedes Mal zu dem Resultat, dass ich nicht verstehe.
"Das werden sie. Am Ende wird abgerechnet."
"Wenn es dann nicht schon zu spät für dich ist, Großer." Sie haucht Fenix einen Kuss auf die Stirn. "Ich hole geschwind seine Decke. Er hat heute Morgen so sehr gezittert, dass Ciana mir fast sein gesamtes Bett brachte."
Trotz der bitteren Situation zuckt mein Mundwinkel kurz. So ist sie nun einmal - Fenix steht an erster Stelle, selbst wenn sie dafür einen Umzug in Kauf nehmen müsste. Umso überraschter bin ich darüber, dass sie weder hier, noch auf der Arbeit ist. Für eine Aufführung wird sie wohl kaum in den Zirkus zurückkehren, vor allem nicht mit ihrer Hand. Ein spontan eingeschobener Einbruch ist da schon wahrscheinlicher, aber wie viel verspricht sie sich davon, dass sie dafür ihre zweite Hand aufs Spiel setzt?
Mein mulmiges Bauchgefühl ist kein gutes Zeichen. Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Spontan würde sie nirgendwo einbrechen - hierfür war der Abend im Haus meiner Eltern zu gut durchplant. Wenn sie mir gegenüber aber kein Wort erwähnte, verheimlicht sie etwas. Vor mir.
Ich schlucke schwer. Eine Diskussion darüber braucht keine Zeugen, wenn sie wieder nach Hause kommt. Am wenigsten eine alte Frau, die für Fenix und Ciana alles tun würde. Kurz entschlossen lasse ich meine Augen aufleuchten und winde mich in ihren Willen.
"Wir gehen jetzt rüber. Ich hole seine Sachen und du legst dich schlafen. Ich bleibe bei Fenix."
Und ich werde warten. Auf die Frau, die mein Herz so sehr zum Pochen bringt, dass ich selbst jetzt, da ich vermutlich wütend auf sie sein sollte, einfach nur hoffe, dass sie heil nach Hause zurückkehrt.
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