35 • Xavian

Meine Mutter hat sich selbst übertroffen. Das Haus ist nicht nur bis in die letzte Ecke poliert, sondern von dem Duft eines Drei-Gänge-Menüs erfüllt. Ein Dienstmädchen haben meine Eltern nicht mehr, seit meine Mutter aus dem Familiengeschäft ausstieg und sich mit Herzblut dem Haushalt widmete. Nun rührt sie zufrieden mit dem Löffel in ihrer Suppe und schmeckt die Gewürze zum zwanzigsten Mal prüfend ab, während Rogan und mein Vater über die aktuelle Situation sprechen, die sie überdramatisiert als Notlage betiteln.

"Wie läuft es denn mit deinem Studium, Xavian?" Evelyn dreht sich zu mir um und wirft mir ein kokettes Lächeln zu. "Stehen bald Prüfungen an?"
Naomi lässt entrüstet den Löffel sinken. Ihre blonden Haare hat sie sich zu einem hohen Dutt zusammengebunden, aus dem einzelne Strähnen fallen. Eine Frisur, die sie noch nie trug und daher befremdlich wirkt. "Genau deswegen stellt man diese Frage sicherlich nicht in der ohnehin schon stressigen Prüfungsphase, Mutter."

"Nein, das stört mich keineswegs", wende ich ein. Evelyn zu vergraulen, kann ich mir nicht leisten. Mit ihr kann ich wenigstens sprechen, ohne dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Also packe ich über mein Studium aus und bin erstaunt, wie neugierig sie zuhört, immer wieder Nachfragen stellt und zum Glück nicht ansatzweise ahnt, dass ich noch nicht einmal im Kopf habe, in welchen Kursen Prüfungen anstehen. Ein viel zu großer Stapel Bücher liegt auf meinem Schreibtisch, wartet darauf, dass ich zurück in meine Wohnung kehre und mich ihnen widme.

Doch meine Aufmerksamkeit wird nicht ihnen, sondern Ciana gelten. Heute schickte ich ihrem Chef nicht nur das Geld und eine Nachricht für sie, sondern zugleich den Schlüssel, damit sie nicht in der Kälte warten muss.

Mach es dir gemütlich. Ich komme, sobald ich kann.
Kurze Sätze schmücken die Nachricht, um ihr keine Steine in den Weg zu legen. Nachdem meine Eltern das Abendessen mit den Dawsons ankündigten und meine Anwesenheit unausgesprochene Voraussetzung war, hatte ich zuerst überlegt, sie zu ihrem Bruder zu schicken. Aber möglicherweise würde sie dies als Retourkutsche für ihre Abweisung verstehen. Diesen Eindruck will ich ihr nicht vermitteln.

Sie will nicht mehr? Ich kann warten. Ich werde warten. Auch wenn mir ihr Körper unmissverständliche Signale sendete, werde ich nicht ihren Willen umstimmen, der die letzte Barriere zwischen den leidenschaftlichen Küssen und mehr darstellt.

"Das sieht hervorragend aus", merkt Naomi an, als meine Mutter den Braten serviert. Die Damen verlieren sich in ein Gespräch über Naomis geklaute Goldkette. Über ihr Glas hinweg wirft mir meine Mutter einen eindringlichen Blick ganz nach dem Motto Besorg ihr gefälligst eine neue Kette zu.
Ich setze es auf meine mentale Liste hinter die Fachliteratur - ganz am unteren Rand aller Dringlichkeiten.

"Im neuen Jahr wird es eine Außenstelle der Stadtverwaltung im Vorort geben. Das eignet sich perfekt, um die Dokumente aus dem Zentrum zu schaffen und allesamt zu vernichten", höre ich Rogan zu meinem Vater sagen. Seit Minuten diskutieren sie schon drüber, wie sämtliche Beweise unbemerkt aus dem Weg geräumt werden können.

Ich kralle meine Finger um das Messer. Ciana wird nie davon erfahren. Zweifelsohne die beste Lösung, aber ist es auch die gerechteste? Einen Menschen im Dunkeln tappen zu lassen? Eine jahrelange Lüge einfach weiterhin aufrechtzuerhalten, weil ich Ciana dann nicht verliere?

"Hervorragend. Um die Presse habe ich mich bereits gekümmert."
Mein Vater streckt die Brust hervor, als erwarte er ein lobendes Klopfen auf seine Schulter. Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf das andere Thema am Tisch - lieber Gold oder Silber? Ich weiß nicht, welches Gespräch unausstehlicher ist. Eilig kippe ich den Wein hinab und schenke nach.

"Gold passt besser zu deinen Augen, Liebes", meint meine Mutter und wendet sich mir zu. "Findest du nicht auch, Xavian?"

Naomi legt neugierig den Kopf schief, trommelt mit ihren knallroten Fingernägeln gegen ihr Glas. Was auch immer ich jetzt sage, meine Meinung zählt. Dabei könnte es mir nicht weniger egal sein, woraus die Kette geformt wird. Diese Luxusprobleme widern mich an.

"Du trägst die Kette. Sie muss dir gefallen. Sonst niemanden."
Betont verführerisch tupft sich Naomi einen Tropfen Wein von den Lippen. "Sie sollte sehr wohl nicht nur mir gefallen."

Ich brauche nicht in ihren Kopf zu schauen, um zu wissen, dass sie mich meint. Insbesondere, wenn sie nicht mehr als ein wenig Schmuck trägt. Wie lange kann ich sie mir noch vom Hals halten, bis sich ihr Misstrauen einschaltet?

Ein Fuß trifft gegen mein Bein. Zuerst glaube ich, dass mir meine Mutter einen halbherzigen Tritt für meine Antwort verpassen wollte, da merke ich, dass er nackt ist. Kein Schuh ist auf meiner Hose, kein Absatz kratzt über den Stoff. Naomi rutscht kaum merklich tiefer und erwidert unverhohlen meinen Blick.

Ihre Eltern ahnen kein Bisschen, dass der Fuß ihrer sonst vorbildlichen Tochter gerade meinen Oberschenkel hinaufwandert. Eindringlich schüttele ich den Kopf, doch ihre Zehen krabbeln unersättlich weiter über meine Innenschenkel. So sehr ich meinen Körper dafür verfluche, lässt mich diese Berührung nicht kalt.

"Wonach sollte sich eine tugendhafte Frau denn sonst richten?", hake ich provozierend nach. Außer uns weiß niemand, dass dieses Gespräch nicht mehr auf eine Kette bezogen ist.
"Nach ihrem Zukünftigen." Ihr Fuß hat meinen Schritt erreicht und vollzieht eine leichte Massage. "Nach seinen Wünschen und Vorlieben."

Bestimmt packe ich ihren Fuß, bevor sich eine unleugbare Beule bilden kann. Naomi grinst in vorfreudiger Erwartung, dass ich nun die Kontrolle übernehme, da lasse ich den Fuß achtlos neben meinem Bein fallen. Enttäuscht schnalzt sie mit der Zunge und greift spielerisch unbekümmert nach dem Glas, als sich Evelyn ihr neugierig zuwendet.

"Da ist doch gerade ein fabelhaftes Stichwort gefallen", mischt sich meine Mutter ein und ich hätte am liebsten meinen Teller über ihr Haupt gekippt, weil ich weiß, was nun folgen wird. "Xavian hat mir letztens noch erzählt, wie hinreißend er dich findet, Liebes."
Hinreißend war definitiv nicht das Wort, mit dem ich sie beschrieb.

"Ach wirklich?" Erstaunt spitzt Naomi die Lippen. "Zugegeben, den Eindruck hat er mir die letzten Wochen nicht gegeben."

Meine Mutter lehnt sich auf dem Stuhl zurück. Dem Blick nach würde nun wohl am liebsten sie ihren Teller über mich schütten. Doch ich habe mir in Gedanken schon einen Fluchtplan zurecht gelegt. Dieses Abendessen überstehe ich keine Sekunde länger. Nicht, wenn mein Vater noch immer über den Vorfall diskutiert, Naomi unter dem Tisch füßelt und meine Mutter mir einen Dolch in den Rücken rammt.

"Verzeih mir, wenn ich die letzten Wochen nicht ich selbst war." Nein, verdammt, ich war die letzten Wochen zum ersten Mal die authentischste Version meiner selbst, seit ich denken kann. Alles nur dank einer Person, die mich nicht dafür verurteilt, dass ich nicht die Norm erfülle. "Die Prüfungen machen mir mehr zu schaffen, als angenommen. Ich sollte mich jetzt primär darauf konzentrieren. Wenn ich schon dabei bin: vielen Dank für das Essen, Mutter."

Der Stuhl wackelt, als ich mich ruckartig erhebe.
"Setz dich hin, Xavian. Es gibt noch Nachtisch", meint meine Mutter, als würde es ihr tatsächlich nur um das Dessert gehen. Vor den Dawsons würde sie niemals ihre Fassung verlieren.

Naomi springt auf und wirft in ihrer plötzlichen Hektik beinahe das Glas um. Ihr Gesicht gleicht der weißen Wandfarbe. "Xav, bitte. Es tut mir leid, wenn dich meine Worte gekränkt haben." Sie legt meiner Mutter die Hand auf die Schulter und lächelt. "Er war gestern in aller Frühe auf dem Revier und hat seine Vorlesungen für mich ausfallen lassen. Es ist undankbar von mir, so über ihn zu reden. Gerade vorhin haben wir noch über die stressige Prüfungsvorbereitung gesprochen und verurteilen ihn nun für seinen Fleiß."

Erstaunt darüber, dass es ausgerechnet Naomi ist, die sich für mich einsetzt, nicke ich ihr dankend zu. Sichtlich erleichtert lässt sie sich auf ihrem Platz nieder.
"Nun denn", mischt sich mein Vater vom Tischende ein. "Auf ein Wort bevor du gehst, Xavian."

Bei der Eiseskälte schiebe ich die Finger in die Jackentaschen, kaum schließt sich die Haustür hinter uns. Die Straßen liegen verlassen vor uns, so lange ruht die finstere Nacht schon über Snow Creek. Ich drehe mich soeben zu meinem Vater um, da trifft mich eine Faust an der ohnehin verletzten Schläfe. Ich wäre rücklings die Treppe hinabgestürzt, würde ich das Geländer nicht rechtzeitig zu fassen bekommen.

Heißer Schmerz zuckt durch meinen Kopf, doch ich verbiete mir ein Keuchen. Zu fragen, wofür dieser Hieb war, brauche ich nicht erst.

Hätte mich ein Fremder attackiert, würde ich nicht zögern und mich auf ihn stürzen. Doch die eigenen Eltern schlägt man nicht. Ich verwerfe den Gedanken, dass Eltern normalerweise auch nicht ihre eigenen Kinder schlagen. Meinen Vater hat es noch nie interessiert, was normal ist.

"Ich dachte, darüber sind wir schon längst hinweg."
"Wenn deine Mutter sagt, dass du dich setzen sollst, setzt du dich", erklärt sich mein Vater und funkelt mich aus seinen blauen Iriden erbost an. "Hast du verstanden?"

Wie betäubt nicke ich, versuche ihn zu fokussieren. Der Boden gleicht einem wild gedrehten Kreisel, da folgt bereits der nächste Schlag.
Dieses Mal so tief in meine Magengrube, dass ich das Gefühl habe, er boxt mir sämtliche Organe aus dem Körper. Röchelnd ringe ich um Luft und krümme mich in seinem Griff. Er richtet mich in die Höhe, nur um auf meine Rippen einzuprügeln.

"Und nach deinen Prüfungen räumst du ganz selbstverständlich mehr Zeit für Naomi ein."

Zum Glück habe ich Ciana und mir mit dieser Lüge ein paar Wochen freigeschaufelt. Denn auch wenn ich Cosmo nicht immer zustimmen kann, hat er in einem Recht: Ciana hat ein riesiges Problem, sollte jemand Verdacht schöpfen. Vor allem, weil in den Wänden hinter uns die einzigen Menschen Snow Creeks sitzen, die mir in den Kopf schauen könnten.

"Verstanden", presse ich atemlos hervor und krümme mich unter den Schmerzen. Als Boxer hätte mein Vater sicherlich auch eine gute Karriere hingelegt.

"Gut. Dann erwarte ich Bestnoten und Auszeichnungen auf meinem Schreibtisch, sobald das Semester um ist."

Ich murmele ein weiteres Einverständnis daher, fahre mir über die Schläfe und versuche das beißende Stechen zu besänftigen. Mein Vater und ich sind wieder zurück in den Teil der Vergangenheit gereist, in dem er mir meinen Gehorsam brutal einpflanzen will. Und das ist eine Enttäuschung, die weitaus qualvoller ist als die physischen Schmerzen. Vermutlich hat er mich nur noch nie manipuliert, um mich nicht auf eine Stufe mit seinen Arbeitnehmern zu stellen, die er mal schnell um ihren Willen bringen kann. Oder vielleicht bin ich ihm nicht einmal das wert - was weiß ich schon davon, was in seinem Kopf abläuft?

Ich weiß nur, was mir den Abend rettet: die Tatsache, dass ich nun gehen und mich erst in Tagen oder Wochen wieder blicken lassen kann. Eine Wahl, die ich als Kind nicht hatte. Genauso wenig wie ich Ciana in meinem Leben hatte.

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