33 • Ciana

Noch nie war es so befremdlich, Xavian gegenüberzutreten. So zu tun, als ob nichts passiert wäre? Unmöglich. So zu tun, als wären wir ... was bin ich denn für ihn? Nur eine von vielen Frauen, die er verführt? Nur eine kurze Flucht aus seinem Alltag? Eine Ablenkung, die er wegwirft, wenn ihm der Reiz daran vergangen ist?

Du bist mir jedes Wagnis wert.
Wie viele Frauen haben solche Worte schon von ihm gehört? Wie viele Frauen werden mit diesem umwerfenden Lächeln begrüßt, wenn er ihnen die Tür öffnet?
Ich kralle die Nägel tief in meine Handfläche. Mir darüber den Kopf zu zerbrechen, verpasst meinem Selbstbewusstsein einen kräftigen Dämpfer.

"Was ist los?"
Und in wie vielen Frauen liest er wie in einem offenen Buch?
Instinktiv will ich lügen. Oder seiner Frage ausweichen. Aber dann drehen wir uns nur weiterhin im Kreis.
"Was ist das zwischen uns?"

Verblüfft blinzelt er. Mit dieser Frage bin ich definitiv mit der Tür ins Haus gefallen.
"Das beantworte ich gerne."

Seine Hand findet den Weg in meine Haare und will mich in einen Kuss wiegen, doch ich wende den Kopf ab.

"Mit Worten, Xavian."
"Sagen Taten nicht mehr als Worte?"
"Und wenn ich diese Taten nicht verstehe?"
Was, wenn ich mehr hineininterpretiere und grauenvoll enttäuscht werde?

"Du verstehst. Du willst nur noch nicht verstehen. Das ist ein feiner Unterschied", raunt er mir zu, legt mir einen Finger unter das Kinn und heftet meinen Blick wieder auf sich. "Aber es ist okay. Wirklich. Ich habe Geduld. Vor allem, wenn ich etwas will. Und ich will dein sein, Ciana. Heute, morgen, für immer."

Er zieht mich an der gesunden Hand in seine Wohnung, kickt die Tür beiläufig zu. Dieses Mal schaffe ich es nicht, den Blick von ihm zu lösen, um die eindrucksvollen Familienbilder an der Wand begutachten zu können. Xavian hat meine gesamte Aufmerksamkeit.
Solche Worte aus dem Mund eines Mannes der Gesellschaft zu hören, ist rar. Üblicherweise formen sie sich die Welt, wie sie möchten. Wenn er mein sein will, könnte er es sich kurzerhand passend machen. Dass er anders ist, hat er mir nun oft genug bewiesen.

"Es tut mir leid", bringe ich leise hervor.
"Das muss es nicht." Er wirft mir ein aufrichtiges Lächeln zu. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, in deiner Haut zu stecken. Zu wissen, dass ich dich gnadenlos missbrauchen könnte und du dich nicht einmal daran erinnern würdest - der blanke Horror. Kein Grund, dich für ein wenig gesundes Misstrauen zu entschuldigen."

"Nicht das." Ich schüttele den Kopf. Ist es so furchtbar warm hier, weil Xavian so nah vor mir steht, dass ich in der Hitze seines Körpers zerfließen könnte, oder hat er seine Wohnung einfach wohlig warm beheizt? "Ich meine...ich bin ein wandelnder Haufen Elend. Ein emotionales Desaster. Erst recht, wenn man sich dein Umfeld anschaut."

Skeptisch zieht er die Augenbrauen zusammen. "Ist das wegen Naomi?"
Es zu verleugnen, würde bedeuten, mir meine Unsicherheiten nicht einzugestehen. Ihre engelsgleiche Erscheinung ist ein Maßstab, dem nur eine Handvoll Frauen in Snow Creek das Wasser reichen können - wenn überhaupt. Natürlich gibt mir das zu denken.

"Auch." Ich weiß nicht, ob meine Wangen aufgrund der Hitze in diesen Zimmern oder voller Scham glühen. "Sie ist perfekt. Genau das, was du verdient hast. Du solltest dich nicht mit weniger zufriedenstellen müssen."
"Weniger?"

Er packt mich am Arm und schleift mich hinter sich her, bis wir einen Spiegel erreicht haben. Durch das Glas hinweg begegnen sich unsere Blicke, als er hinter mich tritt und mir seine Hände auf die Oberarme legt. Ein sanfter und doch bestimmter Griff, der eine Flucht nicht ermöglicht.
"Was siehst du?"
"Dich, vom Arzt zum Psychologen mutiert."
Bloß nicht seine Frage beantworten müssen.

"Ciana."
Dass er sich nicht gerne wiederholt, weiß ich mittlerweile mehr als nur zu gut.

Ich nehme einen tiefen Atemzug.
"Ich sehe ein Mädchen, das hier nichts zu suchen hat." Ganz und gar nicht. Angefangen bei den alten Stiefeln meiner Mutter, bis hin zu den viel zu deutlich hervortretenden Schlüsselbeinen. "Mit zu tiefen Augenringen, weil ich müde ins Bett gehe und genauso müde aufstehe. Mit einer Narbe, um jedem meine Verzweiflung zu zeigen. Mit zu alten Klamotten, weil ich es nicht schaffe, genug Geld für zwei Leben aufzutreiben. Mit Dreck unter den Fingernägeln, an den Stiefeln - verdammt, Xavian, wie lange soll ich das noch weitermachen?"

Er hat nicht einen Moment lang den Blick von meiner Spiegelung genommen. Nun neigt er den Kopf nach vorne und haucht einen Kuss auf meine Schulter.
"Jetzt bin ich dran."
Darauf bin ich gespannt, so sehr, dass meine Finger wieder zittern.
Ist okay. Hör es dir an. Dann geh.
Nichts leichter als das. Der ultimative Beweis, dass das zwischen uns, was auch immer das ist, nicht funktioniert.

"Ich sehe eine Frau, die Augenringe hat, weil sie selbst dann noch kämpft, wenn andere längst das Tuch geworfen hätten. Eine Frau, die vor so viel Nächstenliebe strotzt, dass sie Berge versetzen würde, um ihren Bruder zu retten, selbst wenn sie sich selbst dafür hintanstellen muss. Eine Frau, die das Zeichen ihrer Stärke für alle sichtbar auf der Wange trägt, weil es sie daran erinnert, dass sie ihren inneren Konflikt gewonnen hat." Ruhig streichen seine Hände hoch und runter. "Du bist nicht weniger, Ciana. Du bist nicht zu wenig und auch nicht zu viel von irgendetwas. Denn es gibt keinen universalen Richtwert. Das, was du heute bist, ist der Beweis, dass du eine willensstarke Kämpferin bist. Nicht weniger."

Wow.
Diese Worte sind wie die Tür zu einer Welt, deren Schlüssel jahrelang bei Xavian versteckt war. Doch nun steht sie offen. Sperrangelweit. Bereit, mich in einer Welt willkommen zu heißen, in der nicht die Schwächen, sondern die Stärken an der Oberfläche glitzern. Und ich sehe, was er sieht. Wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Eilig blinzele ich mir die Tränen aus dem Augenwinkel und greife nach einer seiner Hände. Weil ich diesen Blickwinkel festhalten möchte, so lange, bis ich selbst daran glauben kann. Vermutlich zerquetsche ich ihm die Finger, doch Xavian lässt nicht los.
"Es war lange, nachdem bei Fenix Maladis diagnostiziert wurde. Ich..."

Habe keine Ahnung, warum ich das sage. Warum ich in meiner Vergangenheit wühle und den Drang verspüre, diese mächtigen Gefühle aus meinem Körper zu katapultieren. Irgendwie. Mit Worten, mit Emotionen, ja, verflixt nochmal, selbst ihn meine Erinnerung löschen zu lassen, schreckt mich nicht ab.

"Fenix war..."
Wo fange ich an? Wie können Worte dem gerecht werden, was mich von innen zerfraß und noch immer an mir nagt?

"Du musst nicht." Zärtlich übt er Druck auf meine Hand in seiner aus. "Wenn du reden möchtest, höre ich zu. Und wenn du lieber schweigen möchtest, dann fülle ich die Stille für uns."

"Nein, bitte. Ich möchte. Ich glaube, ich muss. Ich habe nur noch nie versucht, es in Worte zu packen. Es war ... schwer. Es...das..." So hat das keinen Sinn. Ich will, dass er versteht. Er mag möglicherweise nur einen Teil kennen, vielleicht aber auch all das, was sich davor anstaute. Was auch immer es ist, ich möchte es mit ihm teilen. Er kennt den schlimmsten Teil schon und verurteilt mich dafür nicht. Ich drehe mich zu ihm und muss den Kopf in den Nacken legen, um seinem Blick standhalten zu können. "Darf ich es dir zeigen?"

Xavian ist das Antlitz purer Überraschung. Suchend blickt er von meinem linken Auge zum rechten und wieder zurück.
"Bist du dir sicher?"
"Sonst hätte ich nicht gefragt."
"Und wenn ich die Kontrolle verliere?"
"Dann verdreh mir wenigstens diese Erinnerung."

Streng schüttelt er den Kopf. "Das ist nicht witzig."
"Das sollte es auch nicht sein. Bitte. Ich bin in Sicherheit, Xavian. Bei dir. Du hast mir noch nie etwas getan und ich vertraue dir, dass sich das nicht ändern wird. Du hast die Kontrolle, das weiß ich."

"Du hast zu viel Vertrauen in mich." Er legt mir eine Hand in den Nacken. "Ruf es dir in Erinnerung."

Und das mache ich. Xavian wartet, bis ich nicke und ihm erlaube, den für ihn vorbereiteten Raum in meinem Gedächtnis zu betreten. Ich spüre ihn nicht, keinen Schmerz, kein Ziehen, keinerlei Treiben tief in mir. Nur das Glühen seiner Iriden verrät mir, dass er in meinen Kopf eindringt. Ob er sich in dem herumtreibt, was ich ihm zeige, oder ob er längst einen anderen Weg eingeschlagen hat, kann ich nicht beurteilen. Doch ich konzentriere mich auf Fenix.

Auf die Zeit, als er schon seit über einem Jahr krank war. Ich gab ihm alles, was in meiner Macht stand. Medizin, Brot, Wärme. Es wurde nicht deutlich schlimmer, aber es wurde genauso wenig besser. Es fühlte sich an, als würden wir immer wieder gegen eine Mauer laufen. Zurückgestoßen werden, wieder einen Schritt vor, nur um erneut zurückgestoßen zu werden. Das Verhexte daran? Über diese Mauer haben wir es bis heute nicht geschafft.

Dennoch konnte ich nicht einfach aufgeben. Also schleppte ich ihn zum Arzt, einem groben Mann, der Fenix einen hoffnungslosen Fall nannte: zu jung, zu dünn, zu schwach. Seine Worte hallen noch immer in mir nach. "Maximal eine Woche. Grabstätte schon reserviert?"

Natürlich nicht. Bis heute nicht. In den nächsten Tagen aß ich gerade so viel, um mich noch auf den Beinen halten und Fenix mehr geben zu können. Der Direktor verpasste mir einen ordentlichen Einlauf.
"Bald bist du ein Strich in der Landschaft. So lasse ich dich sicherlich nicht hier auftreten."

Fenix ging vor. Also war es mir egal, Janus nicht. Vor jeder Aufführung schob er mir heimlich Schokolade zu, etwas, was ich bis dahin nicht ein einziges Mal probiert hatte. Schokolade ist etwas für Adler. Ich liebte den süßen, kräftigen Geschmack. Ließ jeden Riegel auf meiner Zunge zerfließen, aber fragte nicht, wo er es auftrieb. Genauso wenig, wie Janus Fragen stellte.

Als die sieben Tage verstrichen waren, hatte sich Fenix' Zustand nicht verbessert. Die Mauer blieb bestehen. An diesem Abend spuckte er zum ersten Mal Blut. Und in diesem Moment brannte tief in mir etwas durch. Mein Kampfgeist, nein, vielmehr mein Lebenswille. Es erschien mir wie ein abgelaufenes Ultimatum. Der Arzt musste wissen, wovon er sprach. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich Fenix sagte, als ich ihn ins Bett brachte, aber es war kein Abschied. Denn er würde nicht alleine gehen.

Dabei habe ich es nicht getan. Offensichtlich. Ich hatte mir selbst geschworen, dass ich nicht vor ihm aufgeben würde. Solange er atmet, muss auch ich atmen. Als wären wir nicht nur vom gleichen Blut, sondern ebenso eine Lunge. So sehr ich mich auch davor fürchte, einen Lungenflügel zu verlieren, musste ich weiterhin funktionieren. Und ich funktioniere immer noch, bis heute.

Ich weiß nicht, was ich zuerst bemerke: dass Xavian gar nicht mehr in meinem Kopf ist, oder dass er mich in eine Umarmung gezogen hat.

"Du bist unglaublich." Sein Atem kitzelt mich am Hals. "Ein Wunder."
Seine Worte sprießen wie fragile und doch farbenfrohe Blumen aus der Welt, die er für mich öffnete. Noch mehr, das sich dort an die Oberfläche zwängt und meine Schwächen entwurzelt.
"Danke dir", flüstere ich. Für mehr ist meine Stimme gerade nicht fähig.

"Ich habe zu danken. Es ist mir eine Ehre, dein Vertrauen zu haben."
Er hebt mein Kinn an und bettet seine Lippen auf meine. Dieses Mal halte ich ihn nicht auf, sondern ziehe ihn am Shirt näher und atme seine Luft ein. Ein Zusammentreffen zweier Welten, die unendlich verschieden sind, aber nicht ohne einander existieren können. Zwei Körper, die einander so innig begehren, dass es schon fast schmerzt, wenn da auch nur ein Hauch Luft zwischen ihnen ist.

Fragend lasse ich meine Finger unter den schwarzen Stoff wandern, berühre seine glühend heiße Haut, die steinharten Muskeln und stoppe, bevor ich zu weit gehe. Xavian grinst an meinen Lippen und legt seine Hand ermutigend über meine. Da erinnere ich mich an seine Worte.
Das ist keine Frage. War es noch nie.

Ich nehme einen tiefen Atemzug, klammere mich an das letzte Fünkchen Tugend und ziehe die Hand zurück. Falls er enttäuscht sein sollte, lässt er es sich nicht anmerken.
"Ich habe mir etwas überlegt", wispert er an meinen Lippen.
"Jetzt machst du mich aber neugierig."
Bei ihm weiß man nie, was folgt. Ich weiß nur, dass ich nichts zu befürchten habe und mich blindlings in jedes Abenteuer mit ihm stürzen würde.

Instinktiv schlinge ich meine Beine um ihn, als er mich hochhebt, in die Küche trägt und auf der Arbeitsfläche niederlässt. Seine Hände liegen nur kurz auf meinen Oberschenkeln, streichen kaum merklich hoch und runter und doch reagiert mein Körper augenblicklich wieder darauf. Ich will seine Finger auf meiner Haut spüren, nicht auf dem Stoff darüber. Ich will meine Vernunft gegen die nächstbeste Wand schmettern, weil das die letzte Grenze ist, die sich noch dagegen wehrt, dass ich nach seinen Fingern greife und sie dorthin dirigiere, wo ein fremdes Verlangen regiert. Ich will mehr.

So sehr, dass ich den Atem anhalte, als Xavian mühselig schluckt und den Blick nicht von mir abwenden kann. Was auch immer er sich überlegt hat, es ist nichtig. Vertrieben von Fantasien, die darauf warten, in die Realität eingelassen zu werden.

Gekonnt macht er sich am Knopf meines Umhangs zu schaffen, streift quälend langsam den schwarzen Stoff von meinen Schultern und wartet.
Auf Protest meinerseits.
Oder auf Zuspruch.
Er bekommt keines davon.

Denn ich kann ihn nicht davon abhalten, wenn sich ihm mein Becken willig entgegenreckt und mich schonungslos verrät. Genauso wenig kann ich nach mehr verlangen, wenn wir das hier nicht tun sollten.

Ist es denn nicht schon zu spät dafür? Haben wir mit den Küssen vergangene Nacht nicht schon sämtliche Barrieren ignoriert? Aber was, wenn er annimmt, dass Sex für mich bedeutungslos ist? Nur ein Teil meiner alltäglichen Arbeit in der Bar? Wenn er hohe Erwartungen hat und ich ihn bitter enttäuschen werde?

Ich lasse meinen Kopf auf seine Brust sinken, entfliehe seinem Blick.
"Bitte nicht", flüstere ich und doch scheint es den Raum um uns einzunehmen.

"Verstanden."
Er gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. Wieso zum Henker zeigt er so viel Verständnis? Das macht es mir unmöglich, keine Schuld zu empfinden, weil ich ihm verwehre, wofür er in erster Linie zahlt.

"Fenix", murmelt er, als müsse er sich wieder auf die Realität besinnen. "Ich habe mir etwas überlegt. Jetzt kümmern wir uns um ihn."
"Wie denn? Fenix ist nicht hier."
Dafür gut versorgt mit Brot und Medizin zu Hause. Das Frühstück heute Morgen hatte ich deutlich aufgestockt, damit er sich von der gestrigen Nacht erholen kann, und auch das Mittagessen fiel üppiger aus. Xavian glaubt fest daran, dass Fenix es schaffen kann, also halte ich mich an seine Empfehlungen.

Im nächsten Moment breitet er verschiedene Früchte auf der Fläche neben mir aus. Teils bekannte, teils so exotisch, dass ich sie zum ersten Mal sehe.
"Zuerst dachte ich, dass ich es vorbereite, aber wer weiß, ob du es ihm gegeben hättest, wenn du nicht weißt, was ich hineinmische."

Ich packe eine eiförmige Frucht. "Lieb von dir, aber ich weiß nicht einmal, was das ist. Geschweige denn, wo du das aufgetrieben hast."
"Eine Mango. Gefunden auf dem Wochenmarkt hier in der Main Town."

Er sagt es nicht von oben herab, ganz im Gegenteil. Bei ihm wirken diese Worte, als schäme er sich für die Privilegien der Gesellschaft.
"Und was machen wir mit der Mango und dem ganzen Rest?"
"Pürieren und zu einem Getränk mischen." Xavian zieht mehrere Schalen heran. "Vitamine sind gut für ihn. Das Ganze mit Milch hat eine Menge Kalorien. Gib ihm das zusätzlich, dann wird er zunehmen und zugleich sein Immunsystem stärken."
"Du hast dir also wirklich Gedanken über Fen gemacht."

Xavian blickt mich von der Seite an, zieht ein Buch heran und tauscht es gegen die Mango in meiner Hand. "Er ist ein toller Bruder und ein gutherziger Junge. Er macht sich mehr Sorgen um dich als um sich selbst. Definitiv dein Blut."

Ich wende das schmale Buch in meiner Hand. Große Buchstaben, farbige Bilder. Keine Fachlektüre wie in der Bibliothek, sondern ein Märchenbuch. Ein vorsichtiges Lächeln schlüpft auf mein Gesicht.
"Machst du dir etwa auch Gedanken über mich?", necke ich ihn.

Er grinst. "Die Antwort kennst du schon, Cinderella. Und jetzt lies."
"Aber..." Ich brauche Ewigkeiten für einen Satz. Von einem Text ganz zu schweigen. Seine kurzen Nachrichten waren bereits eine Herausforderung.
"Silbe für Silbe." Ermutigend drückt er mir einmal den Oberschenkel. "Du kannst das."

Worte sind noch zu viel verlangt. Manchmal schleppe ich mich nur von einem Buchstaben zum nächsten, binde sie zusammen, stelle fest, dass die Silbe nicht zu der davor passt und beginne von vorne. Zwar heftet Xavian seinen Blick auf das Obst, doch seine Aufmerksamkeit liegt ganz bei mir. Wenn ich an langen Wörtern beinahe verzweifele, hilft er mir weiter. Wenn ich eine kurze Pause brauche, schiebt er mir Stücke exotischer Früchte zwischen die Zähne und wenn ich auflache, weil das gebildete Wort nicht in den Kontext passt, blitzen seine Grübchen hervor.

Das Unbehagen, mit dem ich hier noch eintrat, hat sich in die Tiefen meiner Seele zurückgezogen und gibt Ruhe. In diesem Moment sind wir einfach nur zwei Menschen, die Zeit miteinander verbringen. Keine Pflichten, keine Differenzen, nur Xavian und ich in aller Authentizität. Und ich liebe jede Sekunde davon.

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