32 • Xavian

Obwohl ich Naomi seit meiner Kindheit kenne, habe ich sie noch nie derart ruhig erlebt. Sie sitzt auf dem Stuhl, hat die Beine elegant überschlagen und liest völlig entspannt in dem neusten Tagesblatt. Niemand würde so auf dem Revier sitzen und seelenruhig darauf warten, dass der Bericht angefertigt ist, sodass man ihn auf seine Richtigkeit überprüfen kann. Bislang habe ich Naomi aber auch noch nie nach einem solchen Vorfall erlebt, zumindest nicht ohne die Unterstützung vonseiten ihrer oder meiner Familie.

Ich lasse mich neben ihr gegenüber der Fahndungsplakate nieder.
"Also haben sie auch bei dir zugeschlagen."

"Um Himmels Willen!" Naomi zuckt zusammen. Die Zeitung raschelt laut. "Xav, erschrick mich nicht so!"
"Verzeih mir." Ich hebe ein heruntergefallenes Blatt auf. "War nicht meine Intention, dir noch mehr Schrecken einzujagen."

"Sagt der Meister im Anschleichen."
Sie reibt sich über die Augen. Ruhen darunter etwa schwere, tiefblaue Ringe? Da sie noch immer das schwarze Kleid trägt, muss sie die gesamte Nacht hier verbracht haben. Kein Wunder, dass sich ein dunkler Schimmer unter ihren Augen ansammelt. Bei diesem Kugelschreiberklackern und Kaffeeschlürfen gemischt mit dem schiefen Summen einer Melodie könnte wohl keiner ein Auge zubekommen.

"Hier. Apfel-Streusel-Muffin und Schwarztee mit heißer Zitrone und einem Löffel Honig."
Auf einen Schlag ist es da: das Lächeln, mit dem sie erfolgreich alle um ihren kleinen Finger wickelt. Fast alle.

"Du bist ein Schatz." Sie lugt in die Tüte und saugt den Duft des noch warmen Gebäcks in sich auf. "Dich gebe ich nie und nimmer her."

Ich zwinge mich zu einem Grinsen, obwohl ihre Worte ein knallharter Fausthieb in meine Magengrube sind. "Sprichst du mit dem Muffin oder mit mir?"
"Schwere Entscheidung." Mit ihren perfekten, einer langen Maniküre unterzogenen Fingernägeln kratzt sie einen Streusel ab. "Danke dir."

"Nicht dafür. Dachte, du könntest ein wenig Nervennahrung gebrauchen. Die Kommissare hier sind bekanntlich langsamer als jede Schnecke." Ich mache eine Kopfbewegung zu dem Mann, der sich über einen Haufen Formulare gebeugt hat. Seinen zusammengezogenen Augenbrauen nach dauert das hier noch eine Weile. "Wie sieht es aus?"
"Hervorragend. So wie die Diebe das Haus hinterlassen haben, fällt es meiner Mutter nicht einmal auf, dass ich mich vor dem Großputz gedrückt habe."

"Waren sie noch da, als du kamst? Und euer Dienstmädchen?"
"Nein, nein, die waren schon längst wieder über alle Berge. Und Layla haben meine Eltern einen Tag vor ihrer Abreise gekündigt." Stimmt, Layla, so hieß das viel zu junge Mädchen aus der Sub Town. Ich habe aufgehört, mir die Namen zu merken. Den Ansprüchen von Naomis Mutter Evelyn ist bislang kein Dienstmädchen gewachsen gewesen, selbst wenn mit Manipulation nachgeholfen wurde. "Die Diebe hätten einen Orden dafür verdient, dass sie mir die Schimpftirade ersparen. Wenn man einmal davon absieht, dass sie selbst Wicked das Halsband geraubt und keinerlei Spuren hinterlassen haben."

Wären die Umstände in der Sub Town nicht so miserabel, hätte man darüber lachen können, dass sie der launischen Katze das Halsband mit einer aus echtem Gold verzierten Glocke abnahmen. Nach dem, was ich jedoch heute Nacht in den spärlich beleuchteten Gassen der Sub Town sah, wundert mich dies nicht mehr. Löcher in Fassaden und Dächern sowie den Weg kreuzende Ratten sind keine Seltenheit.

"Ich scheine aber nicht die Einzige zu sein, die eine aufregende Nacht hinter sich hat."

Naomi tippt sich an die Schläfe und erinnert mich augenblicklich an die Glasflasche. Und an alles Andere, was danach folgte. Die bittere Lüge, die gefährlichen Scherben und ja, auch die frenetischen Küsse, die ich seitdem nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. Wie denn auch? Ihre Lippen auf meinen und ihren Körper so nah an meinem zu spüren, hat sich wie ein Geschenk des Himmels angefühlt - wäre da nicht das Wissen, dass ich es nicht verdient habe.

Niemals hätte ich diese Hingabe von Ciana erfahren, wäre ich ehrlich gewesen. In Anbetracht ihrer Verzweiflung ist die Wahrheit jedoch keine Option. Ich muss sie vor sich selbst schützen, also bleibt mir nur dieser Weg. Auch wenn ich diesen genauso wenig für die richtige Lösung halte. In was habe ich mich da bloß hineingeritten?

"Hab es für eine gute Idee gehalten, über den Frozen River abzukürzen", bringe ich schulterzuckend hervor. "Einen Sturz später weiß ich nun auch, dass das doch keine gute Idee war."

Entrüstet schüttelt Naomi den Kopf. "Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du diesen Unfug lassen sollst."
Und ich brauche nicht noch eine Mutter, die mir sagt, was ich tun oder auch nicht tun soll. Seit jeher sträubt sich Naomi vehement dagegen, mit mir über die Eisfläche zu laufen. Obwohl ich auch ihr meine Hilfe anbot, würde sie niemals ihre Hand in meine legen und mir blindlings vertrauen, so wie es Ciana auf dem Frozen River tat.

"Sieht schlimmer aus, als es ist", winke ich ab.
"Sieht eher so aus, als bräuchtest du mehr Spaß in deinem Leben, damit dein Blödsinn ein Ende findet." Sie befeuchtet sich die Lippen und blickt auf meine. Eine Meisterin der Verführung und doch so wirkungslos. "Perfekt, dass ich nicht alleine zu Hause sein möchte."

"Deine Eltern kommen heute Abend zurück." Nachdem ich von dem Einbruch erfuhr, sandte ich sofort einen Boten zu Rogan und Evelyn aus, um genau diesem Angebot entkommen zu können. "Sie wären sicherlich erfreut darüber, wenn du ihnen mit deiner ungeteilten Aufmerksamkeit zur Verfügung stehst."

Naomi legt den Kopf schief. "Sie würden sich auch sicherlich darüber freuen, wenn du dabei bist. Du weißt, wie sehr sie dich lieben."

Das kann ich nicht verleugnen. Was Naomi für meine Eltern ist, bin ich für ihre. Der Albtraum als eigener Nachkomme und das Ideal eines Schwiegerkindes. Nie werde ich so herzlich empfangen wie bei den Dawsons. Evelyn überhäuft mich mit feuchten Wangenküssen, kaum trete ich über die Türschwelle und auch Rogan legt bereitwillig alle Dokumente zur Seite, um mir das zu geben, was mir mein Vater nicht entgegenbringt - ein offenes Ohr.

Dennoch muss jedes Wort bedacht gewählt werden. Dass Naomi ebenso hart von ihren Eltern behandelt wird wie ich von meinen, ist mir Beweis genug, dass dies alles nur eine Fassade ist, die sich wandeln wird, sobald ich ihr einen Ring an den Finger stecke. Zu letzterem wird es aber gar nicht erst kommen.
"Das weiß ich zu schätzen, Naomi, aber ihr braucht Zeit für euch." Und ich für Ciana.

"Na gut." Vorsichtig nippt sie am dampfenden Tee. "Wenn sich alles wieder beruhigt hat, sollten wir dringend mehr gemeinsame Unternehmungen planen. Öffentlich und privat."

Allein bei der Vorstellung davon wird mir schwindelig. Bevor Naomi jedoch konkrete Vorschläge machen kann und sich Bilder in meinem Kopf formen, erlöst mich der Kommissar.

"Miss Dawson? Der Bericht kann geprüft werden."
"Gerne."
Schwunghaft entknotet sie ihre Beine und schiebt den Muffin zurück in die knisternde Tüte.

"Ich warte hier", melde ich mich von der Seite. Dazu würden mich meine Eltern verdonnern. Zumal ich es vor wenigen Wochen noch selbst genauso vorgeschlagen hätte. Naomis Misstrauen zu wecken, kann ich mir nicht gestatten.
"Bloß nicht! Du bist schon viel zu spät für deine Vorlesungen."

Sie beugt sich zu mir und will mir einen Kuss auf die Wange geben. Oder schlimmer. Ich drehe mich zur Seite und greife nach meiner Jacke, als hätte ich es nicht bemerkt.
"Pflichtbewusst wie eh und je."
"Dein Vater reißt mir sonst den Kopf ab", meint sie.
"Niemals. Nur mir."

Sie ahnt nicht, wie wenig Scherz in diesen Worten steckt. Stattdessen hebt sie grinsend den Becher in die Höhe.
"Auf deinen hübschen Kopf verzichte ich nur ungern, Xav. Wir sehen uns."

Eisiger Wind peitscht mir ins Gesicht, als ich aus der Dienststelle trete. Schlurfend fällt die Tür ins Schloss und verriegelt Naomi und den Druck meiner Eltern für einen Moment hinter mir. Nur solange, bis ich einen altbekannten Rotschopf am perfekten Putz gelehnt sehe. So sehr ich Cosmo auch schätze, hätte ich gegen einen Moment Ruhe auch nichts einzuwenden gehabt. Nur einen einzigen Moment, um mir des Ausmaßes bewusst zu werden, in welches ich mich mit meinen Lügen gerade verstricke.

"Ich habe definitiv keinen guten Einfluss auf dich", begrüße ich ihn und gestikuliere in Richtung des Hügels, auf dem die Universität über der Stadt thront.

"Du weißt wenigstens immer, in welchen Raum wir müssen. Ohne dich säße ich noch immer in Algebra." Bei der Erinnerung daran, wie er sich in den falschen Vorlesungssaal verirrte, muss ich lächeln. Cosmo bedeutet pures Chaos und das macht ihn zu meinem perfekten Ausgleich. Er macht eine Kopfbewegung zur Tür. "Habe mir schon gedacht, dass ich dich hier antreffe. Die Nachricht, dass bei den Dawsons eingebrochen wurde, breitet sich aus wie ein Lauffeuer."

"Keine Überraschung."
"Schlagzeile des Jahres", stimmt er mir zu und passt sich meinem Tempo an, während ich noch überlege, ob tatsächlich die Universität mein Ziel ist. "Erst bei euch und jetzt das? Auch wenn Cat definitiv nicht zur besten Diebin Snow Creeks ausgezeichnet wird, nachdem sie bei euch leer ausging."

Ciana?
Mein Blick schnellt zu Cosmo. Forschend beobachtet er meine Reaktion aus dem Augenwinkel. Und hat mich ertappt.
Niemals.

"Was redest du da?"
Ich muss meinen Fehler wieder gut machen. Sonst kann das gefährlich für Fenix und sie werden. Wegen mir - wie sollte ich mir das jemals verzeihen?
"Ah, stimmt. Wie nennst du sie doch gleich? Cinderella?"

Das darf nicht wahr sein.
Er muss sie manipuliert haben. Sich in ihren Kopf gedrängt haben. Gegen ihren Willen.
"Treffender Spitzname. Hätte genauso gut von mir-"

Seine Worte bleiben ihm in der Kehle stecken. Ich packe ihn am Kragen und ziehe ihn näher zu mir. Cosmo ist so erstaunt, dass ihm nur ein erschrockenes Keuchen entflieht.
"Halt dich von ihr fern."

"Woah, entspann dich, Großer." Demonstrativ hebt er die Hände in die Höhe und meidet meinen Blick, um jeder Manipulation entgehen zu können. "Sie lief mir in die Arme. Völlig aufgelöst. Ich wollte nur helfen. Wirklich. Sie tat mir leid. Also dachte ich, dass ich mir einen kleinen Blick in ihre Erinnerungen erlauben darf, um ihr Problem zu finden. Konnte ja nicht ahnen, dass ich einen liebevollen Xav darin sehe. Im Ernst, diese Seite kenne ich gar nicht von dir."

Weil ich mich meinem Umfeld nicht so öffnen kann, wie Ciana es mir ermöglicht. Aber das kann Cosmo nicht verstehen, da seine Eltern nicht Kopfschmerzen bereiten, sondern ihm einmal die Woche einen nach seinem Wohlbefinden fragenden Brief zukommen lassen. Mein Vater hat mich noch nie gefragt, wie es mir geht, so viel dazu.

"Du hast dich gerade selbst zu einem Problem gemacht", knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.
"Xav, bitte, keine Manipulation", röchelt er. "Ich will ihr nichts antun."
Nur widerwillig lockere ich meinen Griff ein wenig, sodass er atmen kann. "Das hast du bereits."

Japsend schnappt er nach Luft. "Ich habe sie nur vergessen lassen, dass wir einander begegnet sind. Mehr nicht. Ich schwöre es."
"Was willst du dann?"
"Ich will wissen, wenn eine Frau meinem besten Freund den Kopf so verdreht, dass er mich für sie beinahe auf der Straße stranguliert."

Leise fluchend löse ich die Hände von ihm. Nur allmählich ebbt der plötzliche Rotton in seinem Gesicht wieder ab und weicht der sonst blassen Haut. Aus dem Augenwinkel vernehme ich eine Bewegung. Eilig packe ich Cosmo und zerre ihn um die nächste Ecke. Wir sind hier noch lange nicht fertig.
"Ich soll dir also glauben, dass du mir nicht einfach in den Rücken fällst?"

Beharrlich nickt er. "Kein Grund mich für deine Gefühle zu erwürgen, Xav. Wie du das deinen Eltern oder Naomi erklärst, geht mich nichts an."

Das ist ein Problem, worüber ich mir den Kopf gar nicht erst zerbrechen mag. Genauso wenig darüber, was ich nun mit Cosmo anstelle. Am liebsten würde ich ihm jegliche Erinnerung an Ciana rauben, um sie zu schützen. Aber dann wäre das zwischen uns keine authentische Freundschaft mehr, die auf manchmal schon fast skrupelloser Ehrlichkeit beruht. Meinen besten Freund kann ich nicht verlieren.

"Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst oder dafür verantwortlich bist, wirst du nicht einmal mehr deinen eigenen Namen kennen."

"Sie ist dein Heiligtum, schon verstanden. Dann behandele sie wenigstens so." Perplex ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. Will mir jetzt ausgerechnet der Mann, der sich von einem Bett zum nächsten hangelt, erklären, wie man eine Beziehung führt? "Mörder, Xav? Das kommt sicherlich nicht von ungefähr. Und nein, auch das geht mich nichts an. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, ziehe ich wieder zurück und werde Landarzt. Dieser Neid in Snow Creek ist erbärmlich. Wir haben dem hier schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt."

Dass sich Cosmos Familie vor etlichen Generationen auf das Land zurückzog, da ihre Manipulationskräfte im Duell immer den Kürzeren zogen, ist mir längst bekannt. Er selbst nimmt es mit Humor - immerhin kommt er nie in Situationen, in denen er ausgenutzt wird. Cosmo ist nicht überdurchschnittlich reich, intelligent oder stark, also gibt es keinen Bedarf, ihn auf irgendeine Weise zu beeinflussen. Er möchte mit möglichst wenig Einsatz erfolgreich studieren, mit abenteuerlustigen Frauen schlafen und mit guten Freunden in lebhaften Bars einkehren. So unkompliziert. Aufmüpfig aufzufallen, kann er sich in Snow Creek nicht leisten. Diesen Vorsatz hat er bis gestern zumindest gut erfüllt.

"Mich interessieren die Machenschaften hier nicht. Und ich weiß ganz genau, dass das der Grund ist, warum nicht Silver oder Damien deine besten Freunde sind, sondern ich. Ich will dir kein Bein stellen und deinen Sturz zu meinen Gunsten ausnutzen, sondern nur, dass du nicht an dem Druck zugrunde gehst. Denn ich mag dich. Also - um Gottes Willen - nicht so." Amüsiert lacht er auf. "Jeder braucht einen Streber in seinem Leben. Klingt nicht weniger nach einer Liebeserklärung, aber du weißt, was ich meine."

"In etwa."
Zumindest hoffe ich, dass es nicht töricht ist, ihm zu vertrauen. Denn auch wenn ich für Ciana jeden Adler im Handumdrehen manipulieren würde, hat Cosmo in einem Punkt recht: er wollte mir noch nie etwas Böses.

"Um es kurz zu fassen - sei ehrlich. Wenn du eine Tänzerin brauchst, um glücklich zu werden, dann vermassele es nicht mit ihr. Und wenn du einen guten Freund brauchst, gilt das gleiche im Übrigen für mich."
Das klingt simpel. Dabei fürchte ich, dass es bei Ciana schon zu spät dafür ist.

"Du kennst meine Bedingung. Finger weg von ihr oder-"
"Ich bin mental zurück im Säuglingsalter. Schon gut, hab ich verstanden, Xav. Sieh mein Schweigen als Revanche für die zahlreichen Abgaben an, die ich von dir abschreiben durfte."

Eine vorbeilaufende Frau mit Pudel schielt kurz in die Gasse, doch geht weiter ihres Weges. Keiner von uns beiden achtet darauf. Nur der plagende Gedanke, dass Ciana das hier hoffentlich nicht bitter bereuen wird, hat Platz in meinem Kopf. Sollte er ihr in irgendeiner Form schaden und selbst, wenn er manipuliert werden sollte, ist er dran. Bester Freund hin oder her.
"Aber lass dir das gesagt sein: wenn ich nur einen kurzen Blick in ihren Kopf brauchte, kann jeder hier mehr über euch herausfinden. Die Gefahr bin also sicherlich nicht ich. Da würden mir ganz andere Namen einfallen."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top