31 • Ciana
Mitten aus dem Schlaf gerissen zu werden, ist für Fenix keine Seltenheit mehr. Er trinkt die Medizin ohne jeglichen Protest, nachdem Xavian die Dosierung prüfte und mir empfahl, aufgrund seines Alters ein paar Tropfen mehr einzuschenken. Der letzte Besuch beim Arzt liegt definitiv zu lange zurück, doch er verurteilt mich nicht dafür.
Umso mehr verurteile ich den Mann dafür, der Xavian die Wunde bescherte, indem er ihm eine Glasflasche gegen den Kopf warf, um den Adler aus der Sub Town zu vertreiben. Ein Versuch, der offensichtlich nicht seine Wirkung entfaltete.
Ich fädele Fenix' Arm aus dem Hemd und reiche ihm seinen warmen Pullover. Zu meiner Erleichterung ist er zu müde, um sich auf unsere Klamotten zu konzentrieren und festzustellen, dass wir beide in Schwarz gekleidet sind. Eilig falte ich sein Hemd zusammen, bevor Fragen kommen. Für eine geschwindelte Erklärung ist gerade kein Platz in meinem Kopf, wenn ich genau weiß, dass Xavian in dem Raum gegenüber sitzt, seine Wunde mit Alkohol und Wasser reinigt und bloß keinen Mucks von sich geben sollte, um mir sämtliche Lügen zu ersparen.
"Wem gehört die Jacke?"
Misstrauisch tastet Fenix über den gefütterten Stoff, während ich nur gespielt gleichgültig mit den Schultern zucke.
"Habe ich auf dem Weg gefunden. Muss wohl ein Adler verloren haben."
"Scheint so." Er lässt sich in das Bett sinken und reibt sich seinen Schlafsand aus dem Auge. "Wir sollten sie zur Post bringen. Die sammeln doch Fundstücke, oder?"
"Das machen wir gleich in aller Frühe", meine ich und beuge mich zu ihm, um einen Kuss auf seiner Stirn zu platzieren. Am Morgen wird er sich nicht mehr daran erinnern, dass er die Jacke eines Adlers trug, genauso wenig, wie er sich nun noch an Xavian erinnert. "Aber zuerst musst du noch ein wenig schlafen, mein Zauberer."
Leise tapse ich zur Tür und schließe sie erst hinter mir, als sich Fenix wie immer in Richtung des Fensters dreht. In der Küche angekommen, will ich Xavian gerade andeuten, weiterhin leise zu sein, da bemerke ich, dass er nicht länger die Wunde versorgt. Stattdessen dreht er eine spitze Scherbe hin und her.
"Was hast du getan?"
Kein Blut klebt daran. Absolut nichts weist darauf hin, was ich unter dem Ärmel des Kleides verstecken würde, wenn ich seine Notizen nicht gelesen hätte. Wieso formuliert er dann seine Frage, als ahne er, welche Gedanken mich erneut heimsuchten?
"Ich habe Fenix wieder schlafen gelegt."
Xavian schüttelt harsch den Kopf und hebt die Scherbe beinahe vorwurfsvoll in meine Richtung. Ich schaue sie nicht einmal an, so sehr schäme ich mich.
"Das hier."
"Mir ist ein Glas aus der Hand gerutscht. Kann passieren."
Und ist in der Tat geschehen. Die Gedanken danach kamen erst, als die Verlockung bereits vor mir auf dem Boden lag.
"Zeig mir dein Handgelenk."
Wieso kommt er plötzlich auf die Idee, nach meinem Handgelenk zu verlangen? "Wie bitte?"
"Zeig es mir."
"In diesem Ton zeige ich dir allerhöchstens meinen Mittelfinger."
Betont langsam legt er die Scherbe auf die Arbeitsfläche und starrt sie einen Moment lang an, als müsse er sich davon abhalten, nicht weiter auf mein Gehorsam zu vertrauen und stattdessen selbst meinen Arm zu packen.
"Zeig mir bitte dein Handgelenk, Ciana."
Wieso unterstellt er mir Selbstverletzung? Fast so, als wüsste er, welche Gedanken mich plagten, heute Abend und vor wenigen Jahren, als der Arzt Fenix' Tod für sicher erklärte.
"Es ist nur eine Scherbe."
"Ich wiederhole mich nicht noch einmal."
Seine Hartnäckigkeit ist seltsam. Es sei denn, er weiß es. Er trieb sich in meinen Erinnerungen herum und sah mit an, wozu mich meine Hilflosigkeit drängen wollte. Mein absoluter Tiefpunkt und er weiß davon. Nicht einmal Fenix kennt das Verborgene hinter der Narbe. Die Wunde auf meiner Wange schob ich auf ein Missgeschick in der Küche und er glaubte mir. Xavian nicht. Denn er nahm sich die Freiheit in meiner Vergangenheit zu stieren - hätte er mich doch lieber manipuliert.
Wut kocht in mir. So gewaltig, dass ich mich selbst davon abhalten muss, ihn rücklings aus dem Haus zu treten. Als ob mir das bei seiner Größe gelingen würde. Vermutlich würde er sich köstlich über meinen kläglichen Versuch amüsieren.
"Raus."
Unnachgiebig bleibt er an Ort und Stelle stehen. "Du hast dich geritzt."
Kein einziges Mal bis jetzt. Ich weiß nicht, ob ich mich für diese Gedanken am liebsten peinlich berührt unter dem nächsten Tisch verkrochen hätte, oder ob es mich mit Stolz erfüllt, weil ich ihnen nicht nachgab. Noch ist meine Haut unversehrt. Wenn Fenix jedoch wieder abhauen sollte, kann ich für nichts mehr garantieren.
"Raus hier!", zische ich ihm zu, hoffentlich leise genug, um meinen Bruder nicht aus dem Schlaf zu reißen.
"Ich gehe nirgendwo hin. Nicht, bevor du ehrlich zu dir selbst bist oder ich die ganze Küche ausgebaut habe."
Das hat mir gerade noch gefehlt: ein Adler, der mir das Interieur wegnimmt, nur um es auf der nächstbesten Müllkippe zu entsorgen.
"Dir geht es wohl zu gut!"
"Mir geht es nicht gut, wenn du dich-"
"Sei ruhig!" Das Bett knarzt, als sich Fenix darin umdreht. Kurz angebunden deute ich zur Tür. "Wir klären das draußen."
"Keine Frage."
Xavian schiebt die Scherbe ein, ich den Schlüssel. Die Nacht ist noch eisiger und dunkler geworden, nur der sanfte Mondschein dringt hier und da zwischen den Wolken hindurch. Die Sub Town wirkt merkwürdig unbekümmert, ich hingegen könnte explodieren. Er hat keinerlei Recht dazu, in meinen Erinnerungen zu wühlen.
"Du denkst also, dass ich lebensmüde bin? Zu deiner Enttäuschung habt ihr Adl-"
Er küsst mich.
Packt mich an der Taille, drückt seine Lippen auf meine und küsst mich einfach.
Als wäre das sein Weg, eine Diskussion zu beenden.
Als würde er mir nicht gerade meinen ersten Kuss stehlen.
Mein Gehirn hat einen Totalausfall. Da ist nur der Tanz seiner weichen Lippen auf meinen. Zärtlich und begierig zugleich, eine gefährlich berauschende Kombination. Ich stehe da, schaffe es nicht, mich zu bewegen, zu atmen, ihn von mir zu stoßen - nichts.
Denn ich will ihn gar nicht von mir stoßen. Ich will ... ja, was will ich denn?
"Ich würde gerne sagen, dass es mir leid tut, ..." Xavian lehnt seine Stirn gegen meine. Sein heißer Atem streift meine Lippen, kostet mich alle Geduld. "... aber das tut es nicht."
Oh Gott, ich will mehr. Ich will ihn.
Ich kralle meine Finger in sein Hemd, ziehe ihn näher und bette meine Lippen auf seine. Nicht vorsichtig, noch weniger um Erlaubnis fragend, geradezu hungrig. Er bremst mich nicht. Nein, er will es mindestens genauso sehr. Es macht mich verrückt. Wie eine Süchtige schwelge ich in diesem Rausch, kann nicht genug bekommen. Ich verliere das Gleichgewicht und taumele gegen seine steinharte Brust. Aber ich falle nicht. Denn er lässt mich nicht alleine, allem voran nicht mit meinen Gedanken.
Er schlingt meine Beine um sich und drängt mich an die Hauswand, fest in seinen Griff. Noch nie hat sich ein Kontrollverlust so fantastisch angefühlt. Meine Füße baumeln über dem eisigen Schnee, während unsere Körper in ihrer eigenen Hitze gefangen sind. Und ich liebe alles an diesem Fehler. Die kräftigen Finger in meinen Haaren. Seine um Einlass bittende Zunge. Mein überraschtes Keuchen, als ich ihn gewähren lasse und es keinen Moment lang bereue.
Ich würde gerne behaupten, dass Xavian sich nimmt, was er will. Dabei weiß ich es besser - ich gebe es ihm. Bereitwillig. Völlig in Ekstase versetzt. Meine Hände wandern zu seiner Brust, spüren das Pochen und ich glaube, mein Herz ebenso wild schlagen zu hören.
Schwer atmend löse ich mich von ihm, lasse meine Hand auf seinem Brustkorb ruhen und verfluche mein Gehirn dafür, dass jegliches Denken ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint. Für einen Moment ist da nur unser höllisch lauter Atem in der Stille der Nacht. Zwei Lungen, die im gleichen, verräterisch schnellen Takt arbeiten. Sonst nichts.
Xavians Daumen streicht über meine Narbe und ruft mir augenblicklich in Erinnerung, dass ich wütend auf ihn sein wollte.
"Du hast dir einen Spaziergang in meinen Erinnerungen erlaubt", wispere ich. Es klingt nicht halbwegs so vorwurfsvoll wie geplant. Warum zur Hölle lässt mich mein Körper auch im Stich?
"Ich bin verdammt froh, dass ich es gesehen habe." Er haucht mir einen Kuss auf die Narbe. Mein Atem stockt. Er liebkost das Zeichen meiner Schwäche, als hätte er noch nie etwas Schöneres gesehen. "Denn ich werde nicht wegschauen, Ciana. Erst recht nicht dann, wenn du dicht machst und dich mit deinen Gedanken einschließt."
Womit habe ich diesen Mann verdient? Seine Aufmerksamkeit und Worte? Diese Blicke, die weit hinter meine Augen bis zu meiner Seele vordringen, selbst wenn seine Iriden nicht aufleuchten? Die Antwort ist einfach - ich habe ihn nicht verdient. Und ich werde ihn sicherlich nicht mit in meine Tiefen reißen.
"Sieh dir selbst an, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst." Auffordernd strecke ich ihm mein Handgelenk entgegen. "Dann geh nach Hause, dusche dir den Schmutz der Sub Town ab und schieß dich in irgendeiner Bar ab, bis meine Erinnerungen nicht mehr als Hirngespinste für dich sind. Ich habe mit dieser Vergangenheit schon lange abgeschlossen."
Xavian greift nach meinem Unterarm, doch anstatt den Ärmel runterzuziehen und unversehrte Haut zu entblößen, presst er ihn gegen die Wand und nimmt meinen Körper nur noch mehr gefangen. Scharf ziehe ich Luft ein. Mein Denkvermögen zerfließt förmlich in der von seinem Körper ausgehenden Hitze.
"Wir wissen beide, was ich zu spüren bekommen würde, wenn ich in deinem Gedächtnis nach einem zerbrochenen Glas schauen würde."
So läuft das also ab? Er sieht es nicht nur, sondern spürt es auch? Damit wäre mein Plan, diese selbstmörderischen Gedanken herunterzuspielen bereits gescheitert. Die Leere in meiner Brust, bevor ich Fenix wieder in Sicherheit wusste, trügt nicht.
"Wenn du es zu deiner Bestätigung brauchst, bitte. Freier Eintritt. Aufhalten kann ich dich eh nicht."
Er knirscht mit den Zähnen. Vermutlich bedarf es all seiner Beherrschung, um mich nicht einfach auf die Schnelle um meinen Willen zu bringen. Es wäre so verführerisch mühelos für ihn.
"Dann verleugne es nicht."
"Bleib Fenix und mir einfach vom Hals. Das Letzte, was wir in unserem Leben brauchen, ist ein verwöhnter Adler."
"Beleidige mich, wie du willst. Ich werde nicht wegschauen. Du magst vielleicht nur einen Stiefel an mich verloren haben, aber ich habe weitaus mehr an dich verloren, Cinderella."
"Offensichtlich hast du dir eine Gehirnerschütterung zugezogen", feuere ich ihm entgegen. Hauptsache nicht über seine Worte nachdenken.
Ich löse meine Beine von ihm und versuche Halt auf dem Boden zu finden. Meine Knie zittern und drohen unter mir nachzugeben, als würde die verfallene Veranda zu unseren Füßen wanken. Vielen Dank auch an meinen Körper. So langsam könnte er sich mal wieder zusammenreißen und in dieser Dimension landen. Dieser Kuss - nein, verdammt, es war nicht nur einer -, diese Küsse haben nichts zu bedeuten. Kein kleines Bisschen. Sie waren ein Ausrutscher. Mehr nicht. Nur ein Ausrutscher.
"Gott, Ciana." Seine Finger graben sich in meine Handfläche, nicht schmerzhaft, sondern bestimmt. "Hör auf, es dir selbst schwer zu machen."
"Hör auf, dich in mein Leben einzumischen!"
"Das kann ich nicht. Du vertraust mir, aber stößt mich von dir. Jedes Mal. Was mache ich falsch?"
Ich lasse den Kopf gegen die Wand sinken und schließe die Augen.
Lüge. Lüge einfach und er wird sich umdrehen und gehen.
Als ob er das machen würde. Dafür kenne ich ihn zu gut.
Vielleicht ist es aber einfacher, die Wahrheit über die Lippen zu bringen, wenn ich ihm nicht ins Gesicht schauen muss.
"Nichts." Meine Stimme zittert. Ich wünschte, ich könnte es auf die Kälte schieben. "Du machst nichts falsch. Das ist das Problem. Dich zu hassen, wäre so viel leichter. Und doch kann ich es nicht."
Seine Hand schraubt sich hinter mein Ohr, sein Daumen tangiert meine Narbe. Es sollte verboten sein, wie ich unter einer einzelnen Berührung zerrinnen könnte.
"Ich kann dir versichern, dass es nicht leicht wird. Aber ich kann dir versprechen, dass ich an deiner Seite bin, komme was wolle."
Mit allen Sinnen suche ich nach der Lüge in seiner Stimme, in seinen Augen, ja selbst meine Lippen prickeln noch immer. Ich finde sie nicht.
"Ein gewagtes Versprechen."
"Du bist mir jedes Wagnis wert."
Er sagt es so ernst, als würde er sein Leben darauf geben. Das Schlimme daran ist, dass es einem von uns früher oder später das Leben kosten wird. Doch nicht heute. Heute wandern nur seine Lippen über meine, nicht mehr als ein vorsichtiger Hauch, eine zerbrechliche Begierde, die droht in eine Lust umzuschlagen, die keiner von uns mehr zügeln kann.
"Gib mir den Schlüssel", fordert er und löst zwar nicht seinen Blick, aber dafür seine Lippen von meinen. Ich zwicke ihm in die Seite. Seinen Befehlston kann er sich abschminken. "Bitte."
Zufrieden ziehe ich den Schlüssel hervor und folge ihm in die Küche. Er sammelt sämtliche Scherben auf, hält meine Schwäche weit von mir und schafft es dennoch zu lächeln. Seine Grübchen erstrahlen den ganzen Raum und dringen bis in die letzte Zelle meines Körpers. "Gute Nacht, Cinderella."
"Bis morgen?"
"Ist das etwa das erste Mal, dass du freiwillig zu unserer Verabredung erscheinst?" Neckisch legt er den Kopf schief. Bevor mir Hitze in die Wangen steigen kann, fährt er schon fort. "Bis morgen, Ciana. Das ist keine Frage. War es noch nie."
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