30 • Ciana

Ich weiß nicht, wen ich zuerst erkenne: den Mann, der in der Sub Town nicht erwünscht ist und dies mit einer Wunde an der linken Schläfe hautnah erfahren musste, oder den Jungen, der träge auf des Mannes Rücken hängt, als hätte man sämtliche Energie aus ihm gesaugt.

"Fen!"
In purer Erleichterung stürze ich auf die beiden zu, rutsche im Schnee aus, doch lasse mich davon nicht bremsen. Fenix' Haut ist eisig kalt, als ich meine Hände um sein Gesicht lege und seinen Blick mit meinem verhake. Seine Lider klappen sofort wieder zu. Die Erschöpfung hat ihn so fest im Griff wie ich ihn, als er seine Beine mit letzter Kraft um meine Taille schlingt und mit meinem Körper verschmilzt.

"Es tut mir so leid, Cia", murmelt er gegen meinen Hals.
Ich wuschele ihm durch die Locken, drücke ihm einen Kuss auf die Stirn und sauge den herben Duft von Xavians Jacke ein, in welcher Fenix wie unter einer Decke geradezu abtauchen kann.

"Hau mir nie wieder ab, Fen." Meine Hand wandert über seinen Rücken, fast so, als müsste ich mich selbst zur Ruhe wiegen. "Hörst du?"
"Das musst du mir jeden Tag sagen."
"Dann sage ich es dir jeden Tag, bis du ein runzeliger Opa mit grauen Haaren bist."

Er kichert, vergräbt seinen Kopf tiefer an meinem Schlüsselbein. "Und mit Gehhilfe."
"Von mir aus auch mit Hörrohr", füge ich hinzu und schmunzele bei der Vorstellung. Hauptsache er wird alt und kann sein Leben irgendwann in vollen Zügen genießen.

Ich lasse meinen Blick von Fenix zu Xavian schweifen und überlege, was mir zuerst über die Lippen kommen soll.
Danke. Für alles.
Warum Mörder?
Was in aller Welt ist mit deiner Schläfe passiert?

Dabei muss ich gar nichts sagen, denn meine Hand entwickelt ein Eigenleben. Wie von selbst streicht sie ihm eine Haarsträhne zur Seite und verharrt direkt neben der Wunde. Das Gefühl der Wärme unter meinen Fingern ist fremd und vertraut zugleich. Als würde ich zum ersten Mal eine Berührung wagen, von der ich die ganze Zeit ahnte, wie gut sie sich anfühlen wird. Verboten, aber verdammt gut.

Fassungslos zucke ich zurück. Was denke ich denn da?

"Alkohol zum Desinfizieren habe ich zu Hause", sage ich. Es ist riskant, Xavian nach Hause einzuladen, wenn ich mir meiner erschreckenden Gedanken bewusst werde. Aber es ist das Mindeste, was ich ihm aus reiner Höflichkeit als Dank anbieten kann. "Möchtest du mitkommen?"

Er ringt mit sich selbst. "Keine gute Idee."
"Angst vor einem Kulturschock?", hake ich nach, obwohl ich den Klang in seiner Stimme nicht auf Abneigung vor der Sub Town geschoben hätte. Zumal er Fenix dann bereits am Rand hätte absetzen können. 

"Angst vor den Grenzen meiner Kontrolle. Und damit meine ich nicht nur meine Augen."
"Gut, dass ich dir vertraue." 

Denn das tue ich. Gewiss, ich hatte an Xavian gezweifelt. Ihn dafür abgestempelt, was ihm mit seiner Geburt in die Wiege gelegt wurde. Aber der heutige Abend ist Beweis genug, dass nicht alle Adler auf Kosten der Sub Town ihre Welt errichten. Zumindest nicht er. 

"In deiner Nähe traue ich mir selbst nicht, Ciana."

Wow.
Dieser Mann weiß, wie er seinen Gegenüber nicht mit seinen Augen, sondern mit seinem Mund zum Schweigen bringt.

Als würde mein teuflisches Herz meinen Verstand lenken, senke ich den Blick auf seine Lippen. Und schlucke schwer. Nein, jetzt darüber nachzudenken, wie er mich damit zum Schweigen bringen könnte, ist mein Verderben.

"Wirklich keine gute Idee", murmele ich vor mich her. Mir ist ganz schwindelig. Vor Emotionen, vor Gedanken.
Ich ziehe Fenix tiefer in meine Umarmung, spüre seinen verdächtig gleichmäßigen Atem an meinem Hals. Er driftet in eine Traumwelt ab, die eine weitere Runde des Vergessens einläutet. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht daran zu denken. Er lebt, er ist bei mir. Was will ich gerade mehr? 

"Ciana."
Xavian tritt einen Schritt näher, umfasst mein Gesicht und streift mit seinem Daumen unter meinem Auge entlang, um die Träne aufzufangen. Ich weine? Das habe ich nicht einmal wahrgenommen. Ich schluchze, kann nicht anders, als mein Gesicht in seine Hände zu schmiegen und die Augen vor Scham zu schließen. Ich breche schon wieder vor ihm zusammen. Dieses Mal jedoch nicht vor Panik, sondern wegen ... ja, wegen was denn? 

Ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich Fenix wieder habe und kann es doch nicht genießen. Sollte Xavian fragen, was zum Henker im Rathaus vorgefallen ist und fürchte mich vor der Wahrheit. Hasse mich dafür, dass zu Hause Scherben auf dem Boden liegen, die mich daran erinnern werden, wie stark diese tödlichen Gedanken in mir sind, kaum werde ich die Tür aufschließen. Und am meisten hasse ich mich selbst dafür, dass bei jedem Gedanken an ihn da eine so fragile Wärme in meinem Brustkorb ist, deren Kollaps vorbestimmt ist. 

Ich kann nicht mehr.
Dieses Gefühlschaos macht mich verrückt. Dieser drohende Verlust, egal ob Fenix', Xavians oder meines eigenen Verstandes, macht mich verrückt. 

"Sieh mich an."
Nicht so.

Ich nehme einen tiefen, zittrigen Atemzug, versuche Ruhe in meinen Körper zu schleusen. Entschlossen trete ich zurück, strecke den Rücken durch und blicke ihn an. In seinen Augen schimmert Sorge, nichts als pure Sorge.

"Geh ruhig", presse ich hervor.
Bleib. Bitte, bleib einfach bei mir. 

Am liebsten hätte ich mir diesen Gedanken aus dem Kopf geschlagen. Wann wurde meine Existenz von seiner abhängig? Wie zur Hölle kann ich das wieder rückgängig machen und wenigstens ein Problem aus meinem Leben schaffen?

"Ich müsste ein Narr sein, um jetzt zu gehen." Xavian macht eine auffordernde Kopfbewegung in Richtung der dunklen Häuser. "Zu dir."
"Das Angebot steht nicht mehr."
"Der Alkohol interessiert mich auch nicht", stellt er klar. "Wir gehen jetzt zu dir, versorgen Fenix und dann dich."

Mein erster Gedanke ist es, ihm eine Verweigerung in viel zu lauter Stimme entgegenzuschleudern, doch mit Blick auf meinen schlafenden Bruder wird es nicht mehr als ein Zischen.
"Ich hatte etwas im Auge."

"Wem versuchst du hier etwas vorzumachen?" 
Kreativ war meine Lüge nicht. Das muss ich mir selbst eingestehen.
"Es ist die Wahrheit." Die blöde Wahrheit liegt in der Küche auf dem Boden. "Und die möchte ich jetzt auch von dir."
"Ehrlichkeit sollte beidseitig sein."

Frustriert schnaufe ich, sortiere meine Gedanken. Ich will wissen, was im Rathaus vorgefallen ist. Warum sie Mörder genannt und wir manipuliert wurden - oder werden sollten. Ich will die Wahrheit so sehr, dass ich bereit bin, einen Teil von mir preiszugeben. Nur einen winzigen, aber es ist ein Fortschritt.

"Okay, gut." Meine Finger arbeiten sich wieder durch Fenix' Locken. Dass Xavian selbst meine Gedanken ebenfalls durcheinander bringt, werde ich ihm jedoch nicht vorbeten. "Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet. Ihm ging es gar nicht gut, als ich ihn aus den Tunneln holte. Und dann habe ich ihn verloren und ... ich hatte Angst. Sehr viel Angst."

Xavian studiert mich mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Ist das noch immer Sorge? Wut? Oder doch ein wenig Verzweiflung?
"Und ich habe noch immer furchtbare Angst", füge ich hinzu, verstecke meine zitternden Finger in Fenix' Haar. Er hat es schon längst gesehen.

"Wir kümmern uns um ihn", versichert Xavian mir. "Für sein Stadium hat er gute Chancen."
"Das sagst du doch nur, weil ich sonst wieder heule."

"Nein. Ich habe es mir herausgenommen, ihn mit den Augen eines Arztes anzuschauen. Wenn er zunimmt, wird er es schaffen."
Er schaudert kurz, als uns ein eisiger Windzug umhüllt.
 
"Solange du ihn nicht mit den Augen eines Adlers anschaust, meinetwegen", murmele ich und mache Anstände, Fenix aus der Jacke zu zwängen.

Xavian greift nach meiner Hand, bevor ich meinen Bruder wecken kann. "Er braucht sie mehr als ich. Und für mich ist sein Wille genauso tabu wie deiner."
"Wenn wir schon bei dem Thema sind: warum wurden alle manipuliert?"

Für einen kurzen Moment antwortet er nicht. Schaut zu Fenix, dann wieder zu mir. Sein Zögern entgeht mir nicht, aber vielleicht versucht er nur dem Themenwechsel zu folgen.
"Lady Denver leidet vermutlich unter einer endogenen Psychose. Genaueres-"
"Xavian, bitte einen Moment ohne deine Arztaugen", unterbreche ich ihn, bevor er sich in medizinischen Fachbegriffen verlieren kann. 

"Das zählt zu den psychischen Krankheiten. Wir wissen nicht, was sie in diesem Moment dazu getrieben hat, aber sie ist eindeutig krank. Es wäre dennoch ein zu großes Risiko gewesen, eine Falschinformation aus dem Gebäude dringen zu lassen. Uns wurde Mord vorgeworfen. Das würde zu einem Skandal führen."

"Also manipuliert ihr lieber alle, bevor man vernünftige Aufklärungsarbeit betreibt?"
Er nickt so langsam, als würde diese Bewegung schmerzen. "So tickt die Gesellschaft nun einmal. Es ist der sicherste Weg, alle Zweifel im Keim zu ersticken."

"Das bedeutet, dass nichts an diesem Vorwurf stimmt?"

Ich wage es nicht, den Blick von ihm zu nehmen, um mir keine Reaktion entgehen zu lassen. Vollkommen aufrichtig nimmt er meine Augen mit seinen gefangen.
"Nichts an diesem Vorwurf stimmt", bestätigt er meine Worte, gefolgt von einem tiefen Atemzug. "Absolut nichts."

Erleichtert löse ich meine verkrampften Finger aus Fenix' Haaren und wage mich an einem Lächeln.
"Nun denn, der Alkohol steht noch immer zur Verfügung."

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