27 • Xavian

"Hat der Zirkus einen Ausflug gemacht? Der Feuerspucker steht auch noch oben. Wollte durch ein Fenster abhauen, der Narr."

Naomi steht hinter mir. Innerlich fluche ich. Von jedem heute hier anwesenden Menschen der Gesellschaft, warum sie?

Am liebsten hätte ich sie für ihre Worte gerügt. Jeder, der aus der Sub Town an diesem Tag den Weg hierher fand, hat einen wichtigen Menschen verloren. Wie kann man dann einen Scherz darüber machen, dass es sich um einen vergnügten Ausflug handele? Doch ich schweige. Weil jedes Wort falsch wäre. Entweder für Ciana, oder für Naomi.

Ciana möchte sich aus meinem Griff winden. Eilig drücke ich meine Finger in ihr Schulterblatt und zwinge sie dazu, an Ort und Stelle zu bleiben. Es muss so wirken, als habe ich soeben die Manipulation abgeschlossen. Dabei versetzt mir der Anblick reiner Angst in ihren Augen einen Stich im Herzen.

Naomi umrundet mich und prüft meine Iriden, da löse ich meine Hände von Cianas Schultern.
"Gerade fertig."
Die Blondine neben mir zieht eine Augenbraue in die Höhe. "Beweise es."

Oh Gott, lass sie einen Schwächeanfall haben, Kreislaufprobleme, alles, um Ciana heil aus dieser Lage zu bringen, deren Hände schon wieder zittern. Es bedarf all meine Willenskraft, dass ich nicht danach greife, als sie die Finger schleunigst hinter dem Rücken versteckt.

"Traust du mir nicht, Naomi?"
Die Angesprochene beäugt mich knapp von der Seite.
"Doppelte Absicherung, genau wie oben. Also machst du? Oder soll ich?"

"Ich kann das", schießt es aus mir hervor.

Ciana öffnet die Lippen, wird aschfahl. Je länger ich sie anschaue, die voller Angst trüben Iriden, der flattrige Atem, der sich zwischen ihren Lippen hervorstiehlt, umso bewusster wird mir, dass ich zu voreilig war. Ich kann ihr nicht die Erinnerungen nehmen. Nicht heute, niemals. Auch wenn das bedeutet, dass ich sie verliere, sobald sie mich mit ihren Fragen bombardieren wird. Das ist ein Problem für andermal, hat jetzt keinen Platz in meinem Kopf.

Nur die Furcht den Menschen verändern zu müssen, der mir mit genau dieser unverformten Denkweise ans Herz gewachsen ist, belagert mich. So sehr sie auch darüber scherzte, kann ich es nicht verleugnen.
Sie ist meine Schwäche.

Somit kann ich jeden Gedanken verwerfen, der darauf abzielt, mich gegen Naomi zu wenden. Ich kann sie nicht beeinflussen. Nicht, wenn sie die Kontrolle über die Situation hat und ich dieses Duell haushoch verlieren würde. Ciana weiß es. Sie weiß, dass sie in unmittelbarer Gefahr ist und ich zu ihrem Leidtragen mit einer gleichwertigen Kontrahentin konfrontiert bin.

Ich hole tief Luft und lege ihr wieder meine Hände auf die Schulter.
Rein in ihren Kopf, nichts verdrehen und wieder raus. Wie schwer kann das schon sein?

Zuerst denke ich, es ist ein Reflex, als sie ihre Nägel in meine Unterarme krallt, würde sie nicht den Mund öffnen. Kaum merklich streicht mein Daumen über ihr Schlüsselbein.
Sag nichts. Bitte bring dich nicht selbst in Schwierigkeiten, Cinderella.

Aber ich kann ihr keinen konkreten Gedanken einpflanzen. Genauso wenig kann ich sie davor bewahren, dass sie die Worte zurückhält, so schnell ist sie.
"Flinkes E."
Ich halte meine Augen auf, bevor sie glühen und ich mich in ihrem Kopf einbrenne. Das ist eine Botschaft nur für mich.

"Wie ein E nur ein Strich weniger", höre ich sie in meiner Erinnerung sagen, als wir im Schnee schrieben. Damit war F, das flinke E geboren.

"E."
"Xav, mach jetzt", mischt sich Naomi ein. Ich beachte sie nicht. Fe - meint sie Fenix? Ciana braucht einen Moment, um sich zu erinnern. Ich warte, obwohl die Zeit drängt. Warum auch immer sie ihre Nägel tief in meinen Arm gräbt, sie möchte es mir mitteilen. Sie möchte nicht vergessen. Dass sie keinen anderen Ausweg sieht, als es mir anzuvertrauen, zerreißt mir fast das Herz.

"Nicht normales M."
N, ein M, dem ein Strich fehlt. Fenix. Er muss in den Tunneln sein. Sie muss ihn vorgeschickt haben, um ihn aus der Schusslinie zu bringen.
"Das kann ich mir nicht länger geben", schimpft Naomi.

Gut so. Solange sie Ciana für verrückt erklärt, durchschaut sie die Bedeutung dahinter nicht. Da sie mich jedoch noch immer fixiert, kann ich mir ein Nicken nicht erlauben. Ich tippe gegen Cianas Schlüsselbein. Dann krabbele ich durch ihre von Ohnmacht matten Iriden in ihr Innerstes.

Da ist kein Schutz, kein Widerstand. Ihre Erinnerungen sind alle ungehindert greifbar. Als könnte ich sie in meiner Hand einfangen und mitnehmen. Aber ich mache es nicht.

Das ist ihr persönlicher Raum, geprägt von viel Licht und noch mehr Finsternis. Eine Intimität, die verboten sein sollte. Denn ich sehe alles, ohne dass ich eine Wahl habe, mich dem zu entziehen. Normalerweise weiß der Gegenüber, was manipuliert werden soll und holt es in seiner Angst direkt an die Oberfläche. Ciana fürchtet sich nicht davor zu vergessen, was in den Stockwerken über uns geschehen ist, sondern Fenix in diesen Tunneln festzuhalten.

Ich sehe, wie sie ihn vor wenigen Augenblick hineinschickt, immer geradeaus. Doch ich verändere nichts an ihrer unverblümten Liebe für ihn, die mich wie eine mitreißende Welle trifft. Ich werde unter ihr begraben und geradezu in das Meer an Emotionen gezerrt. Das ist fremd. Üblicherweise hätte es mich nach meiner Manipulation aber auch schon wieder direkt aus ihrem Kopf geworfen. Als würde ich nach einem anderen Ziel suchen, reißt es mich tiefer in ihre Vergangenheit.

Im nächsten Moment sitzt sie auf der Arbeitsfläche in einer Küche, rollt mit einer jungen Frau einen Teig aus, bestreicht ihn mit einer nach Zimt duftenden Creme und kugelt sich, wenn ein Mann mit tiefblauen Augenringen im Vorbeigehen einen so furchtbar flachen Witz raushaut, dass man schon wieder darüber lachen muss.

Bevor ich Cianas Klang der Freude auskosten kann, werde ich in ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer geschleudert. Die Wände wirbeln rasend schnell an ihr vorbei. Wieder ist da der so erschöpfte Vater, der sie im Kreis dreht und mit ihr durch die Wohnung tanzt. Mit seiner vernarbten Hand umklammert er ihre kleine so fest, dass sie selbst dann nicht umkippt, als er die Drehungen stoppt und der Boden weiterhin gefährlich schwankt. Ich liebe das Glück, ihr unbekümmertes Lachen.

Sie lässt sich auf den Boden plumpsen, streckt kichernd die Beine aus und blickt in einen wolkenbedeckten Himmel. Neben ihr reißt ein schon viel zu magerer Fenix den Käse auf seinem Brot in Fetzen, wirft ihn in die Luft und fängt nichts davon mit seinem Mund wieder auf. Sie zeigt auf eine Wolke, rätselt darüber, welche Form sie hat. Fenix kneift die Augen zusammen, schüttelt den Kopf und ruft, dass es ein Vogel ist. Eindeutig. Mit drei Flügeln. Und da lacht sie schon wieder, erstickt fast an dem Stück Brot.

Bevor ich weiß, wie mir geschieht, ist es dunkel um mich. Ciana krallt sich an einem kratzigen Stoff fest, presst das Gesicht hinein und schluchzt. In ihrem Bauch regiert der Hunger und sie muss einen verzweifelten Schrei im Kissen ersticken, sodass sie nicht aufspringt und sich auf das letzte Stück Brot stürzt, das im Schrank liegt. Sie huscht in die Küche, hält sich die langen Haare im Nacken zusammen und trinkt wie eine Verdurstende aus dem Wasserhahn, um das Grollen im Magen zu bekämpfen. Am nächsten Morgen läuft ihr der Speichel im Mund zusammen, als Fenix auf einem verkratzten Holzstuhl sitzt und in die Scheibe Brot beißt. Doch sie ballt nur ihre knochigen Finger zu einer Faust und schenkt ihm seine Medizin ein.

Die nächste Erinnerung ist geprägt von dichter Finsternis, nicht um mich herum, sondern tief in mir. Sie steht in einem Badezimmer, hält das scharfe Messer so verflucht nah über ihrem Handgelenk.

Ich erstarre regelrecht, höre auf durch den Schwall an Erinnerungen zu zappen, um meinen Weg aus diesem Labyrinth zu finden.
Was. Zur. Hölle?

Ihre Hände zittern, sie zögert. Nur einen Hauch über ihrer zarten Pulsader.

Mir wird schlecht. Sie hat es nicht getan, sonst würde sie nicht mehr vor mir stehen. Dennoch will ich in die Vergangenheit reisen und sie kräftig durchschütteln. Ihr das Messer aus der Hand schlagen und sie in eine Umarmung ziehen.
Du bist viel stärker als das, Ciana!

Als hätte sie mich gehört, schleudert sie das Messer in das Waschbecken. Bloß weg. Sie stützt sich am Rand ab, blickt in den gesprungenen Spiegel und weint. Gott, sie war so jung.
Auf sich gestellt. Völlig alleine.

Ich höre all den Schmerz, sehe diese monströse Niedergeschlagenheit und spüre die eisige Verzweiflung. Ich will nur raus aus diesem Körper, der nicht meiner ist, sondern ihrer war. Wie konnte sie dieses Gefühl ertragen? Diese teuflische Leere und diese verführerische Sehnsucht, dem ein Ende zu setzen?

Ein Geräusch im Hintergrund ihrer Erinnerung - sind das Schritte auf dem Boden? Fenix? Die gleiche Panik, die sie ergreift, strömt durch meine Adern. Sie schnappt das Messer, blickt sich wild nach allen Seiten um, eilt zum Schrank und wirft das Messer in die Höhe. Aus der Sichtweite. Am besten für immer.

Es prallt gegen die Kante, wird zurückgestoßen. Ich sehe nur noch, wie es in meine - Cianas - Richtung fliegt und will zurückweichen. Aber ich stehe da, blicke der schimmernden Klinge entgegen. Sie regt sich nicht und verdammt auch mich dazu, mich dem stechenden Schmerz zu beugen, der sich in ihre Wange bohrt.

Ich schrecke zurück. Raus aus ihren Erinnerungen, weg von ihrem Willen, wieder mitten in den Tunneleingang. Ciana steht mir gegenüber. Ahnt nicht, dass ich gerade ihren dunkelsten Moment sah.

Es fühlt sich verboten an, die Geschichte hinter ihrer Narbe zu kennen. Ihren Schmerz mit all meinen Zellen selbst gespürt zu haben. Ich will sie in meine Arme ziehen, über die Narbe streichen und diesen Beweis ihrer Stärke mit meinen Lippen berühren, sie um den Verstand küssen, alles, um ihr zu zeigen, dass sie dieses tödliche Gefühl nie wieder ertragen muss.

Würde nicht Naomi neben uns stehen und zufrieden die Brust hervorrecken. Ich trete noch einen Schritt zurück, weil ich mir gerade selbst nicht traue.
"Du darfst gehen", quetsche ich hervor.

Cianas große Augen demonstrieren mir unverhohlen ihre Neugierde. Sie erinnert sich an das Geschehene. Vermutlich fragt sie sich gerade, was ich dann in ihrem Kopf getrieben habe. Aber sie schweigt. Weil sie sich der noch immer von Naomi ausgehenden Gefahr bewusst ist.

Letztere stößt nur einen spitzen Schrei aus, als sich Ciana in der Finsternis des Tunnels verkriechen will, um Fenix zu folgen.
"Oben entlang", wird sie von Naomi angewiesen.
"Macht es einen Unterschied ob sie geradeaus am Krankenhaus ankommt oder den Weg überirdisch geht?", hake ich scheinbar neugierig nach.

Die Blondine tadelt mich nur mit einem Augenrollen, das ich nicht weiter beachte. Denn als Ciana mich auf dem Weg zurück zur Treppe passiert, streift sie mit ihrem kleinen Finger meinen Handrücken. Diese flüchtige Berührung ist kein Zufall, vielmehr ein stummes Danke.

Während Naomi genervt die Arme vor der Brust kreuzt, driften meine Gedanken auf ganz anderen Bahnen durch meinen Kopf.

Ich mag mir nicht ausmalen, was Ciana treibt, sollte Fenix nicht überleben. Wenn der einzige Grund verschwindet, für den sie das Messer im letzten Moment fallen ließ.
Ich mag es mir nicht ausmalen, da ich die Antwort nun kenne.

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