26 • Ciana
Fenix findet den passenden Rhythmus auf der Treppe nicht. Ich ziehe ihm das Tuch in den Nacken, sodass er sehen kann. Hinter uns erklingen Schreie, Rufe, Befehle.
"Verriegelt die Türen!"
Ich bremse scharf ab, beobachte, wie die Wachen den Ausgang verschließen und uns in diesem Gebäude einsperren.
"Cia?" Mit großen Augen blickt Fenix zu mir auf.
"Alles gut", murmele ich und drücke seine Hand. Nichts ist gut. Dass sie uns hier festhalten, kann nur einen Grund haben: im Stockwerk über uns wird gerade reihenweise das Proletariat manipuliert. Warum auch immer. Mir darüber den Kopf zu zerbrechen, kann ich mir nicht leisten. Zuerst müssen wir hier raus.
Eine stämmige Frau und ihr Sohn diskutieren mit den Wachen über den Ausgang. Kurzerhand packt einer der Adler die Mutter am Hals, zerquetscht ihr die Kehle und lässt seine Iriden aufleuchten. Bevor Fenix die Szene beobachten kann, zerre ich ihn zur Seite, hinein in einen nur spärlich beleuchteten Korridor. Die Wände sind geschmückt mit Zertifikaten und Portraits früherer Bürgermeister - die letzten allesamt Dawsons.
"Wohin gehen wir?"
Fenix stolpert beinahe über seine Beine.
"Dorthin, wo wir sicher sind."
Wo auch immer das ist.
Wahllos stoße ich eine Tür auf, entblöße ein schlichtes Büro. Regale mit schwarzen Ordnern an der rechten Seite, ein mahagonifarbener Schreibtisch in der Mitte, auf dem dank Briefbeschwerern kein einziges Dokument schräg liegt, und die rettende Glasfront dahinter. Nur leider tummeln sich auf dem Gehweg davor mehrere Wachen. Ich schrecke zurück, bevor sie mich entdecken können.
"Was ist?"
Mit Fenix an der Hand stolpere ich weiter. Sie haben das gesamte Gebäude umzingelt, erlauben kein Entkommen. So schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Wenn ich eines mit Sicherheit weiß, dann dass die öffentlichen Gebäude der Gesellschaft durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden sind - Janus hatte einmal nach einem Einbruch notgedrungen davon Gebrauch gemacht. Von den Adlern werden die Gänge genutzt, um dubiose Geschäfte zu vertuschen. Heute wird es unser Fluchtweg vor ihren Augen sein.
"Wir müssen einen Tunnel finden", erkläre ich ihm knapp und ziehe ihn die nächstbeste Treppe hinab. Die Luft in den Gängen hier ist weitaus abgestandener, beinahe muffig. Ein gutes Zeichen. Kein Durchzug bedeutet, dass wir uns bereits unterirdisch bewegen. Die tristen Räume sind fensterlos, bis zur Decke mit Akten und Boxen gefüllt.
"Weiter", murmele ich und entdecke eine massive Tür, die mit einem Riegel versehen ist. Kurzerhand ziehe ich ihn zurück und reiße in meinem Schwung den metallenen Stab aus seiner Halterung. Das Quietschen der schon lange nicht mehr eingeölten Scharniere hallt von den Wänden wieder. Ich mag mir nicht ausmalen, wie weit dieses Geräusch gehört wurde.
Hinter der Türe empfängt uns ein völlig finsterer Gang, nicht ein Lichtstrahl, nur furchteinflößende Schwärze, welche von einer eisernen Gittertür von uns abgetrennt wird. Ich lege den Stab zur Seite und inspiziere das Schloss. Kein Schlüssel, dafür Haarspangen in meiner Frisur. Ich fuchtele eine hervor, forme sie mir zurecht und sehe, wie Fenix stutzig den Kopf nach vorne reckt. Dann höre ich es - Schritte im Gang hinter uns.
"Komm schon."
Ich knie mich hin, versaue mir das schwarze Kleid mit dem Staub auf dem Boden. Egal. Nur raus hier.
"Wohin geht das?", fragt Fenix und deutet auf den Tunnel vor uns.
"Ich habe keine Ahnung", gestehe ich, verfluche gerade den Gipsverband dafür, mir meine Beweglichkeit dermaßen einzuschränken, da höre ich endlich das erlösende Knacken. Eilig winde ich die Spange aus dem Schlüsselloch. Licht flackert in unsere Richtung.
"Ich weiß, dass du hier bist!" Eine tiefe, mir völlig fremde Stimme dringt bis zu uns. "Wenn du nicht herauskommst, werde ich zu anderen Mitteln greifen müssen."
Ich dränge Fenix in den Tunnel und zögere. Wenn wir beide abhauen, werden wir möglicherweise am Ende in Empfang genommen - und die dortigen Konsequenzen dürften weitaus schlimmer ausfallen. Das kann ich Fenix nicht zumuten.
"Geh vor", flüstere ich ihm zu und schiebe ihn am Rücken in die Finsternis. "Der Tunnel hat ein Ende, ganz gewiss. Das ist ein riesiges System. Lauf einfach immer geradeaus."
"Und du?"
Fenix' Augen sind vor Panik weit geöffnet. Ob vor der absoluten Dunkelheit oder der Tatsache, dass sich unsere Wege kurzzeitig trennen müssen, kann ich nicht beurteilen.
"Ich komme gleich nach", versichere ich ihm. Ich muss nachkommen. Fenix kann keine Schlösser knacken und würde somit hier festsitzen. Mit leeren Händen lasse ich ihn dennoch nicht von dannen ziehen. "Hier."
Ich schließe seine knochigen Finger um die Haarklammer und schiebe ihn voran, bevor ich nach der Stange greife. Einfach über den Kopf ziehen. Bei Xavian habe ich das auch hinbekommen. Dass das weniger erfolgreich verlief, verdränge ich lieber.
Ich positioniere mich am Rand, beobachte mit rasendem Herzschlag, wie das Licht greller wird, während Fenix von der Schwärze verschluckt wird. Schritt für Schritt kommt der Mann näher, wappnet sich sicherlich ebenfalls für einen Angriff.
Kaum taucht seine Schuhspitze in meinem Sichtfeld auf, hole ich aus. Eigentlich in Richtung des Kopfes, wäre er nicht ein Riese. Somit treffe ich genau seinen Brustkorb. Er taumelt zurück, fängt sich an der Wand dahinter ab und wirkt nicht halb so erschlagen, wie ich mir erhofft hatte.
"Du Miststück!"
Er prescht vor, weicht meinem weiteren Schlag gekonnt aus, packt meine vergipste Hand und dreht sie um. Ich schreie auf, so ruckartig zieht mir der Schmerz durch den Körper. Für einen kurzen Moment glaube ich, ohnmächtig zu werden.
Die Stange rutscht mir aus der Hand und poltert klirrend zu Boden. Das einem Donner gleichende Echo wurde gewiss von Fenix noch gehört.
Kehr bloß nicht um, Fen.
"Hättest du dich ergeben, hätte ich vielleicht Gnade gezeigt, Kleine, aber so?" Er dreht mein Handgelenk noch weiter um. Schwärze trübt mein Sichtfeld.
Nein! Nicht jetzt!
Ich reiße mein Bein in die Höhe, ziele auf seinen Schritt, da kickt er mein anderes Bein weg. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, pralle ich vornüber auf den Boden. Der Sturz presst mir die Luft aus der Lunge. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er auf dem harten Stein zerschmettern. Ich keuche, drehe mich zur Seite und zwinge mich auf die Knie. Der Adler ist schneller.
Seine Finger graben sich in meine Haare und zerren an meiner Kopfhaut, kaum schleift er mich näher zu sich. Ich schürfe mir die Knie auf dem Boden auf, muss mir das Kleid regelrecht zerfetzen. Unnachgiebig presse ich meine Lippen zusammen, um einen weiteren Schrei zu ersticken. Er dreht mich zu sich um, zerquetscht meine Kehle und ich weiß, was folgen wird. Panisch kneife ich die Augen zusammen, kralle meine Nägel in seinen Unterarm und kratze die Haut auf.
"Sie ist mein Vergnügen."
Ich würde diese Stimme unter tausenden wiedererkennen.
Vorsichtig öffne ich die Augen nicht zu mehr als einem Schlitz, um verschwommen die Hand zu erkennen, die sich auf seine Schulter legt. War ich jemals so froh, Xavian in meiner Nähe zu wissen?
Der Riese bleckt die Zähne, will sich seinen Sieg nicht mehr nehmen lassen, doch einem Ashford widerspricht man nicht.
"Wie Ihr wünscht."
Als er von meinem Hals ablässt, klärt sich mein Sichtfeld.
Oh Gott, Luft, endlich.
Noch ehe ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe, wendet sich Xavian meinem Angreifer zu.
"Vielen Dank für diese ausgezeichnete Vorarbeit."
Schlagartig sackt mir das Blut aus dem Kopf.
Oh Mist.
Er ist nicht hier, um mir zu helfen. Natürlich nicht. Wie naiv bin ich denn auch geworden?
"Selbstver-"
Xavians Augen leuchten wie eine hellblau schimmernde Eishöhle. Atemberaubend schön und zugleich mit tödlichen Tiefen. Nur, dass ich mich nicht davor fürchte, auszurutschen und hinabzustürzen, da sein Blick nicht auf mir liegt.
Es dauert nicht lange. Ich habe kaum realisiert, was er da gerade macht, als sich der Riese umdreht und geht. Mich nicht einmal zu bemerken scheint. Weil er sich nicht mehr an mich erinnert. Weil Xavian ihm diese Erinnerung gelöscht haben muss.
Ich wage es nicht zu atmen, bis die Schritte des Mannes in den Gängen des Rathauses verklungen sind. Erst dann wirbele ich ungläubig zu Xavian herum.
"Was ... bist du wahnsinnig?"
"Soll ich etwa zuschauen, wie er dich manipuliert?" Er hebt meine Hand an und inspiziert den Verband. Und da ist es, sein Versprechen, mitten in meinem Kopf. Solange ich da bin, werde ich nicht zulassen, dass dir jemand schadet. "Was hat er dir getan?"
"Er ist einer von euch", bringe ich noch immer atemlos hervor. Dass mein Handgelenk eben gefoltert wurde, werde ich ihm nicht gestehen. Vermutlich ist der Gipsverband der einzige Grund, warum meine Hand nun noch mit meinem Unterarm verbunden ist. So fühlt es sich jedenfalls an.
"Er ist ein Teil der Gesellschaft. Aber wer sich an dir vergreift, steht nicht auf meiner Seite."
Wenn er wüsste, was ich über mich ergehen lassen musste, um überhaupt erst in dieses Gebäude eintreten zu dürfen, würde er das nicht mehr sagen. Die gesamte Gesellschaft wäre nun sein Erzfeind.
"Du hast ihn manipuliert. Du kommst in Teufels Küche, wenn das jemand herausfindet."
Er blickt kurz von meinem Handgelenk auf und lächelt. "Keine Sorge, Cinderella. Nur die Dawsons oder meine Familie könnten mich manipulieren und solange ich die Ruhe bewahre, gelingt das nicht einmal ihnen."
"Und wenn du nicht die Ruhe bewahrst?"
"Ich finde nur dann keine Ruhe, wenn du in Gefahr bist, Ciana."
Ich lache auf. Weil ich nicht anders kann. Weil in mir der Drang ist, Fenix hinterherzueilen. Weil ich wissen will, warum die Anderen manipuliert werden. Weil in mir ein einziges Chaos regiert und Xavian nur noch mehr Unruhe stiftet.
"Verzeih mir, dass ich deine Schwachstelle bin."
Er lässt weder von meinen Iriden, noch von meiner Hand ab. Auch wenn das Gesagte mehr ein Scherz war, grinst er nicht. Nein, er lächelt nicht einmal. Was er jetzt sagen wird, ist personifizierte Seriosität.
"Entschuldige dich nicht für etwas, das mir zum ersten Mal das Gefühl gibt, ein normaler Mensch zu sein."
Er verleugnet es nicht. Warum verleugnet er es nicht? Und warum stecken seine Worte mein Herz beinahe in Brand, so gierig wie die Wärme darin lodert?
"Xavian, ..." Bitte lass das nicht wahr sein. Ich sollte ihm nichts bedeuten. Ich sollte nicht der Grund sein, warum er das Gefühl hat, nicht mehr der unverletzliche Ashford zu sein. Das darf einfach nicht sein. "...hör auf damit."
"Ich kann es nicht ändern. Ich will es auch n-"
"Sei ruhig!" Ich entreiße ihm meinen Arm. Am liebsten hätte ich mir die Hände auf die Ohren gepresst. Und zuvor seine Worte aus meinem Kopf gezerrt. "Sei einfach ruhig!"
Xavian verzichtet auf jede Berührung, wahrt die Grenze, die ich zog. Ich luge in den Tunnel und schlucke schwer. Welch eine bescheuerte Situation! Meine Eltern haben die Ashfords verachtet, Fen sitzt irgendwo in diesen Gängen fest und alles, woran ich denken kann, ist der Rausch dieser Wärme in meiner Brust. Für diesen Egoismus würde ich mich am liebsten selbst manipulieren.
"Mörder?", bringe ich hervor und versuche, die Kontrolle über meinen Körper wieder zu bündeln. So wie er mich anschaut, gelingt mir das keineswegs. "Warum nannte sie euch Mörder?"
Warum wirft man ihnen auf einer Gedenkfeier vor, die Toten umgebracht zu haben? Ich erschaudere. Was, wenn es mehr als ein Vorwurf ist? Kein Irrtum? Der Grund dafür, dass wir alle manipuliert werden sollen? Und warum eliminiert Xavian dann nicht auch seine Schwachstelle, wie er wohl sollte?
"Es ist ein Missverständnis. Ich erkläre es dir. Aber nicht jetzt. Du musst hier weg."
"Sehr wohl jetzt", fordere ich.
"Ciana, geh."
"Ich will Antworten! Warum manipuliert ihr alle?"
Xavian packt mich an der Schulter, neigt den Kopf in meine Richtung. Obwohl diese Bewegung bei jedem anderen Adler ein Hinweis gewesen wäre, dass eine Manipulation bevorsteht, schaue ich nicht weg. Denn seine Iriden leuchten nicht auf, das weiß ich. Und ich werde nicht enttäuscht.
"Ich gebe dir Antworten, versprochen. Aber dafür ist gerade k-"
Weiter kommt er nicht. Denn wir sind nicht mehr alleine.
"Gibt es hier ein Problem, Xav?"
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