23 • Ciana

"Was ist denn das an deiner Hand?"
Fenix hat wieder vergessen. Eine weitere Nacht, ein weiterer Rückschlag. Ich schiebe ihm seine vorbereitete Medizin zu, als könnte ich seiner Amnesie so vorbeugen. Dieses Mal mache ich reinen Tisch. Bei einem Gipsverband kann ich nicht mehr lügen. Fenix hört mir aufmerksam zu. Er schüttelt sich, malt sich die Schmerzen wohl zu deutlich aus.

"Und der Zirkus? Was machen wir denn jetzt?"
Mit vor Sorge großen Augen blickt er zu mir auf.
"Alles halb so schlimm", werfe ich schnell ein. "Ich habe schon einen neuen Job. In einer Bar. Ein wenig Kellnern bekomme ich auch so hin."
Wenn es nur das wäre, würde alles halb so schlimm stimmen. Den guten Lohn bekomme ich dort aber für andere Dienste. Zumindest laut Vertrag.

"Oh, okay. Also bist du abends länger weg?"
"Du bist doch schon groß und schaffst es auch ohne mich ins Bett zu gehen, oder?"
"Natürlich." Fenix streckt den Rücken durch und die Brust raus, als müsse er mir das beweisen. "Ich habe keine Angst."

Er hat Angst. Das hat er mir gestern noch gestanden.
"Und selbst wenn: Angst ist ganz natürlich. Jeder fürchtet sich mal", merke ich scheinbar beiläufig an. Aufmerksam beobachte ich, wie er das Glas kippt, um auch den letzten Tropfen am Grund anzusammeln. "Wie wäre es denn, wenn du dein Hemd raussuchst? Übermorgen ist wieder Gedenktag."
"Übermorgen schon wieder?"

Ich nicke. Der Tag kommt viel zu schnell und doch nur ein Mal im Jahr. Der Tag, an dem unsere Eltern starben und der auch viele andere Familien der Sub Town auseinanderriss. Eine fatale Folge an Fehlern, die sich an einem so normalen Tag ereignete und genauso gut Fenix oder mich hätte erwischen können. Doch wir haben das Wasser gut vertragen. Unsere Eltern nicht.

Ich erinnere mich noch genau an diese Zeit, Fenix weniger. Ich sehe noch immer meinen Vater vor mir, wie er versucht zu sprechen, aber keine Laute mehr aus seinem Mund dringen. Wie er mir etwas sagen möchte, mich an den Schultern packt und rüttelt, als könne er sich die Worte aus dem Mund schütteln, und doch ist es nur ein unbeholfenes Röcheln. Wie er einen Stift schnappt, kein Blatt findet und sich etwas auf die Handfläche kritzelt. Meine Mutter lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, schwer atmend, seit Minuten schon nicht mehr ansprechbar. Dann kippte er um, direkt neben ihr auf den Boden, der Stift rollte aus seiner schlaffen Hand.

Fenix schrie. Er schrie eine Ewigkeit, bis ich glaubte, taub zu sein. Er zerrte an ihren Armen, an ihren Schultern, an allem, was er zwischen die Finger bekam. Ich hingegen starrte auf die zwei Leichen. Ich starrte und starrte und begriff nicht, dass gerade etwas Furchtbares geschehen sein musste.

Zwar war ich anwesend, aber zugleich auch nicht. Und irgendwann drangen durch den Nebel in mir die fernen Schreie. Viele, schrill gemischt, der Klang von Panik und Verzweiflung. Menschen rannten auf die Straßen, riefen um Hilfe, schleppten schlaffe Körper auf das Kopfsteinpflaster. Fenix kauerte neben unseren Eltern, heulte Rotz und Wasser und schrie noch immer.

Ich prägte mir das Geschriebene auf der Hand meines Vaters ein, wischte es ab und vernichtete jede Spur davon. Vergessen habe ich es bis heute nicht - 2L. Nicht mehr. Und dennoch suchte ich überall danach. In ihrem Schlafzimmer, bei der Post, selbst beim Bäcker spähte ich auf alle Schilder, doch nirgendwo wurde ich fündig. Was auch immer mir mein Vater im Anblick seines Todes sagen wollte, er nahm es mit in sein Grab. Denn ich habe ihn genauso verfehlt, wie ich Fenix verfehle.

Die Ereignisse danach sind ein wirres Durcheinander. Vielleicht, weil ich langsam verstand, was die Leichen zu bedeuten hatten. Was die mit leblosen Körpern beladenen Kutschen zu bedeuten hatten. Die grimmig dreinblickenden Männer, stets mit Pfeife im Mundwinkel, die einen mit Fragen löcherten und erst locker ließen, wenn man ihnen mit mickrigen elf Jahren heulend auf dem Stuhl gegenüber saß. Die Konferenzen im Rathaus, von denen Fetzen über dutzende Ecken bis in die Sub Town gelangten und man kein Wort mehr glauben konnte. Untersuchungen, Dokumente über Analysen, einen Haufen Bürokratie für vierundfünfzig Verstorbene. Und nirgendwo 2L. Ich erzählte niemandem davon. Es fühlte sich an wie eine Botschaft nur für mich.

Fazit der Untersuchungen war, dass das Leitungswasser der Sub Town unglücklicherweise falsch gefiltert war. Ein Fehler, viele Tote. So schnell kann es gehen.

Am Anfang wünschte ich mir oft, Fenix und ich hätten genug von dem Wasser getrunken. Oder es schlechter verkraftet. Immer dann, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Wenn ich nachts im Bett lag und keine Luft mehr zum Atmen fand, weil mir Zukunftsängste auf die Kehle drückten. Wenn mein Bruder stundenlang in meinen Armen weinte und ich meine Fassung für uns wahren musste. Wenn man uns fragte, wie es uns ging, und ich am liebsten geschrien hätte, weil sie dem Gut auch noch Glaube schenkten. Oder zumindest so taten.

Janus war der Erste, der anders reagierte.
"Gut? Gut, Ciana? Scheiße ist das!"

Das war der Moment, in dem ich ihn zum ersten Mal mit anderen Augen sah. Ich schätzte ihn für seine forsche Ehrlichkeit, die viele abschreckt. Er ist kein Mensch, von dem man Mitleid verlangen kann, aber genauso keiner, der eine grausame Situation einfach ignoriert oder gar herunterspielt. Ist etwas beschissen, dann sagt er es so.

Vor wenigen Tagen dachte ich noch, Xavian wäre wie Janus. Ein Mensch, der hinter meine Fassade lugt und nicht wegblickt. Was das angeht, sind sie sich ähnlich. Dabei könnten sie kaum unterschiedlicher reagieren. Janus nimmt zwar kein Blatt vor den Mund, doch er zeigt keine Emotionen. Xavian ... er ist schwer in Worte zu fassen.

Er hält meine Hand, wenn ich drohe zu fallen. Saugt jedes meiner Worte in sich auf und zieht seine Schlüsse. Baut mich auf, zeigt sich verständnisvoll und bringt meinen Puls zum Rasen. Das Schlimmste daran ist, dass er nicht so sein sollte. Er sollte sich den gierigen Adlern fügen und nicht Zimtschnecken mit mir backen oder seine Bildung an mich weiterreichen. Weil es die Gesellschaft von ihm verlangt. Weil es mir umso schwerer fällt, mich seiner Nähe zu entziehen.

"Und?" Fenix dreht sich einmal um die eigene Achse, streicht sein schwarzes Hemd glatt und grinst. "Passt, oder?"
Ich zupfe am Saum und kontrolliere die Länge. Erschreckend, wie wenig er in einem Jahr gewachsen ist.
"Perfekt, mein Zauberer."

"Und was ziehst du an?"
"Ach, das schwarze Kleid."
Die Augen meines Bruders funkeln. "Und das Vogelnest?"
"Ja", kichere ich. Fenix liebt meinen Dutt, weil es ihn an ein Vogelnest erinnert, wenn ich ein paar Strähnen unordentlich binde. "Auch das Vogelnest."

"Wir werden so schön aussehen", schwärmt er und dreht sich noch einmal im Kreis. Seine Energie ist kaum zu bremsen, so erpicht ist er darauf, wieder einmal die prunkvollen Häuser der Main Town bestaunen zu können. Für ihn ist es kein Zeichen des Hasses, sondern der Abwechslung aus seinem eintönigen Alltag.

"Mama und Papa wären stolz", stimme ich zu.
Auf Fenix sicherlich. Er schlägt sich so tapfer.

Auf mich nicht. Sie hätten mir jeden Kontakt mit einem Adler verboten, allem voran einem Ashford. Genau der Familie, unter deren Führung sie tagtäglich in der Produktion schufteten.

Wenn ich an den Gedenktag denke, wirkt dieser Kontakt mit einem Mal noch verwerflicher als sonst. Als würden sie von oben auf mich blicken und nur unendlich enttäuscht den Kopf schütteln.

Ist ja gut, Mum und Dad. Ich mache es wieder gut. Für euch.

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