22 • Xavian
"Hörst du mir eigentlich zu?"
Cosmo verpasst mir einen Stoß in die Seite und reißt mich aus meinen Tagträumen. Ich stütze meinen Kopf in die Handfläche und reibe mir über die Augen.
"Nein."
"Na wenigstens bist du so ehrlich." Er klopft mit dem Stift gegen seine Stirn und wedelt mit der anderen Hand über den Aufschrieb. Immerhin steht auf seinem Blatt etwas. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich weiß, in welcher Vorlesung ich sitze. "Jetzt mal im Ernst - wie soll man sich das merken können? Wenn die so weitermachen, bin ich es, der wegen Depressionen behandelt werden muss. Und auf Doktor Ashford vertraue ich auch lieber nicht, so wie du in die Luft starrst."
"Könnt ihr mal leiser sein?" Damien dreht sich um und blickt uns aus verengten Augen an. "Manche wollen wirklich etwas verstehen."
"Verstehen habe ich schon lange aufgegeben. Hören noch nicht", merkt Cosmo an und deutet Damien an, sich wieder nach vorne zu drehen.
Dieser stößt nur einen genervten Seufzer aus, aber folgt den Worten des Professors, der sich wieder einmal in Zeichnungen verliert, die Cosmo mit nur halb so wenig Liebe zum Detail auf sein Blatt kopiert.
"Zerbrichst du dir den Kopf wegen Naomi? Sie ist doch eine ausgezeichnete Rednerin. Wirklich, die Frau ist doch in allem ein Naturtalent, oder?"
"Sie ist trotzdem nervös." Und sie ist sicherlich kein Naturtalent darin, meine Gedanken für sich zu beschlagnahmen, wie Ciana es tut. "Ist eine wichtige Rede."
"Schon klar." Angewidert beäugt er seine Skizze und stellt wohl selbst fest, dass das Gehirn auf seinem Blatt mehr einer kläglich verkümmerten Kellerassel ähnelt. "Aber tüftelt sie nicht schon seit Tagen an ein paar Sätzen herum?"
"Besser als deine Improvisation im letzten Kolloquium", bringe ich scherzhaft hervor und weiß, dass ich mir solche Neckereien mit ihm erlauben darf. Damien hätte mich dafür mit Blicken erdrosselt, Cosmo hingegen grinst vom einem Ohr bis zum anderen.
"Unwissen als Wissen verkaufen zu können, ist ja wohl ein Talent."
Er verengt die Augen, um die krakelige Schrift des Professors entziffern zu können. Ich tippe auf seine Kellerassel.
"Präfrontaler Cortex."
Sollte er mittlerweile wissen. Manchmal frage ich mich echt, wie er es so weit geschafft hat. Lieber zerbreche ich mir nicht den Kopf darüber - wäre er schon geflogen, würde ich mich noch seltener hier blicken lassen. Zumindest, wenn die Sonne uns durch die Fenster blendet. Nachts hat dieser Ort seit zwei Tagen einen völlig anderen Reiz.
"Ah ja", seufzt Cosmo und klingt nicht so, als habe der Begriff Erinnerungen in ihm geweckt. "Kann nicht jeder so ein Genie sein."
Doch ich habe mich gedanklich schon längst wieder aus diesem Saal verabschiedet, hin zu Ciana. Ich kann sie förmlich vor mir sehen, wie sie sich über das Buch beugt, nach identischen Buchstaben sucht und mir interessiert dabei zuhört, wenn ich den jeweiligen Laut benenne. Wie sie sich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe tippt, wenn sie versucht, sich an den richtigen Laut zu erinnern, oder wie sie auflacht, wenn sie wieder einmal b und d verwechselt. Ihre ungezügelte Lernbereitschaft ist ein Traum für die Hürden des Lesenlernens und doch war sie in Gedanken nicht ganz bei mir.
Nach Fenix' Zustand fragte ich nicht. Ich möchte sie für einen Moment vergessen lassen, wie niederschlagend ihr Leben ist, obwohl ich vor Neugierde selbst platzen könnte. Ihr helfen zu wollen, bedeutet ihm zu helfen. Aber sie hat ihre Grenze gezogen, mehr als nur deutlich, und ich werde es respektieren. Auch wenn ich es nicht gutheiße.
Umso aufgeregter bin ich jedoch, da es nur noch wenige Stunden sind, bis sie wieder neben mir am Tisch sitzt, ihr Knie in Momenten, in denen sie sich vollkommen auf die Wörter konzentriert, meines streift und ihre Nähe meinen Herzschlag zum Rasen bringt. Sie hat etwas an sich, was mich wahnsinnig macht. Nach mehr, nach ihr.
Wenn sich unsere Fingerspitzen unterhalb eines Wortes berühren, kostet es mich alle Beherrschung, nicht nach ihrer Hand zu greifen. Wenn sie Buchstabe an Buchstabe kettet, muss ich es mir verbieten, sie unentwegt anzustarren. Und wenn sie stockt und fragend zu mir aufblickt, weil sie den Laut vergessen hat, raffe ich meinen ganzen Verstand zusammen, um die Distanz zu ihrem noch halb geöffneten Mund nicht zu überbrücken.
Nein, sie hat nicht etwas an sich, was mich wahnsinnig macht. Sie ist mein persönlicher Wahnsinn und auch wenn ich es verleugnen sollte, kann ich es nicht.
"Bis nächste Woche", schallt es soeben von dem Mann hinter dem Pult.
Endlich. Ich sammele meine Blätter ein, vernehme, wie Cosmo und Damien einen Streit darüber austragen, ob das Mittagessen aus der Bäckerei oder einem Restaurant mitgenommen wird, und setze einen unbefangenen Gesichtsausdruck auf, kaum entdecke ich Naomi an der Treppe.
Energisch winkt sie mir zu, als könne man sie zwischen all den schlurfenden Studenten tatsächlich übersehen, und bricht in einen Wasserfall an Wörtern aus, sobald ich neben ihr herlaufe.
"Xav, du musst mir helfen. Schwarz ist natürlich klar, genauso lang und absolut schlicht. Aber ich kann mich nicht entscheiden."
"Wie viele schwarze, lange und absolut schlichte Kleider hast du denn für solche Anlässe?"
"Vier!" Sie streicht sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. "Und wie du weißt, ist meine Mutter nicht da, um mich zu beraten. Was, wenn ich das falsche wähle? Wenn die Presse über mich herzieht, weil es zu viel Ausschnitt hat oder zu streng wirkt oder was weiß ich, was denen einfällt?"
Diese Sorge ist entgegen derer, dass sie den Faden verliert, schon berechtigter. Die Presse ist bekannt dafür, dass sie reichlich Gesprächsbedarf für die Damen der Gesellschaft bietet. Wenn ich an die Frauen denke, die in ihren langen Kleidern auf den Bänken entlang des Frozen River sitzen und mit vor Bestürzung weit geöffneten Mündern über die Titelseite quatschen, kann ich Naomi nicht hängen lassen - ein falsch gewähltes Kleid würde sicherlich den Unterhaltungsbedarf mehrerer Wochen decken.
Da ich Cianas Chef keine Zweifel daran ließ, dass ich sie auch die nächsten Tage will, sitze ich also kurz darauf an Naomis Schreibtisch mit Blick auf einen Park. Zwei Kinder bauen neben einem Pavillon kichernd einen Schneemann und bewerfen einander mit zu locker zusammengepressten Bällen, sodass nicht mehr als Pulver beim Gegenüber ankommt. Die schrille Stimme des Kindermädchens dringt durch die Fenster und lässt die gesamte Nachbarschaft daran teilhaben, dass die Kinder sofort ihren Unfug unterlassen sollen.
"So", lenkt Naomi meine Aufmerksamkeit auf sich und breitet die Kleider auf ihrem Himmelbett aus. Wicked, eine orangefarben getigerte Katze, die ursprünglich unter dem Namen Winnie getauft wurde, aber ihrer Launigkeit den Spitznamen zu verdanken hat, springt vom Bett und tapst miauend aus dem Raum. Offensichtlich will sie hier nicht mehr weiterschlafen. "Das sind sie."
Ich will gerade aufstehen und ihr meinen Rat erteilen - wobei ich mich zunehmend mehr frage, warum sie keine ihrer Freundinnen um Unterstützung bittet -, da schlüpft sie aus ihrem Kleid und lässt die Hüllen fallen. Betont langsam, von der Brust über ihre schwingenden Hüften bis auf den Boden.
Nun verstehe ich.
Ich ziehe den Vorhang zu, bevor die Kinder zufällig einen Blick auf ihre Blöße haben können. Dann schauen wir einander an, mehrere quälend lange Atemzüge. Keiner spricht ein Wort, keiner regt sich. Naomi wartet darauf, dass meine Beherrschung zusammenbricht. Dass ich sie zurück auf das Bett dränge und wir diese Laken in wildem Einverständnis aufwühlen.
Vor wenigen Wochen hätte ich mich nicht davor gescheut. Vor wenigen Wochen hatte sich der bloße Gedanke an Naomis Stöhnen jedoch auch noch nicht nach Verrat angefühlt. Ich kann das nicht mehr. Nicht, wenn ich mir dabei vorstellen würde, dass es nicht blonde Haare, sondern dunkelbraune Wellen sind, in denen ich meine Hand vergrabe. Oder dass Naomis Berührung etwas von diesem unverstellten Interesse an mir fehlt, an Tiefsinn und Authentizität, an Verständnis und verbotenem Rausch.
Ich kann das nicht, weil jede Faser meines Körpers eine andere Frau begehrt.
Und so ist Naomi, so reizend sie auch splitterfasernackt sein mag, nur eine ansehnliche Hülle. Also gestikuliere ich zu ihren Kleidern.
"Worauf wartest du?"
Enttäuscht wirft sie das Haar auf den Rücken und dreht sich ein wenig, sodass ihre Kurven deutlicher hervortreten. Es ist eine Provokation, ein Spiel mit meiner Kontrolle. Doch diese Runde verliert sie.
"Fang mit dem links an."
"Was zur Hölle ist los mit dir?", faucht sie plötzlich und schießt auf mich zu. "Was soll ich denn noch machen?"
"Wolltest du nicht deine Kleider anprobieren?", entgegne ich und schraube ihre Wut nur noch weiter in die Höhe.
Sie stützt die Arme seitlich von mir ab und beugt sich zu mir, sodass nur ein Hauch an Luft unsere Lippen trennt.
"Warum willst du keinen Sex mit mir? Habe ich etwas falsch gemacht? Ist da eine andere Frau? Was ist es? Und behaupte bloß nicht, dass es dir keinen Spaß bereitete - wir wissen beide, dass das eine Lüge wäre!"
Ich lehne mich zurück, doch sie schließt nur noch weiter zu mir auf. Weil Naomi das fordert, wonach ihr ist. Weil sie eine Abfuhr nicht gewohnt ist.
"Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe aber gerade keine Lust", weiche ich aus.
"Seit Wochen! Jedes verfluchte Mal, wenn ich eine Annäherung starte, blockst du ab!" Sie krallt ihre Nägel in meinen Kiefer, dann glühen ihre Iriden auf. Doch wenn sie glaubt, dass sie sich den Sex erzwingen kann, hat sie die Rechnung ohne mich gemacht. "Xav, verflixt nochmal, lass mich dir helfen! Du hast keine Lust? Ich gebe sie dir!"
Unsere Augen tragen ein Duell miteinander aus. Manipulation trifft auf Manipulation, normalerweise in gleicher Stärke. Das haben wir unserer Abstammung zu verdanken. Manche Familien der Gesellschaft sind mächtiger als andere. Kein Wunder, dass sich unsere Vorfahren vor vielen Generationen mühelos an die Spitze arbeiten konnten, wenn uns der restliche Teil Snow Creeks unterlegen ist. Mit meiner Mutter hat mein Vater zudem ein starke Frau an seiner Seite, die sich ebenso wenig manipulieren lässt wie er selbst.
Mit Naomi ist es jedoch nicht so einfach. Die Dawsons sind nicht weniger schwach als meine Familie. Daher siegt in diesen Momenten, wer die Ruhe bewahren kann. Zu meinem Glück bin das ich. So mag sie zwar einen Vorsprung haben, doch nachdem ich Naomi zu gut kenne, habe ich genau mit diesem Versuch, meinen Willen umzuformen, gerechnet und feuere ihr meinen Widerstand entgegen, bevor sie sich in mir vergraben kann. Ich gewinne. Weil sie von Impulsivität getrieben wird, ich von Kontrolle.
Ihr spitzer Schrei erfüllt den Raum, als sie sich an meiner Brust abstößt und zum Bett stolziert. Ich erhebe mich. Für mich ist das hier beendet.
"Kein Zwang, Naomi. Das war unsere Abmachung." Eine Hand ruht bereits auf dem Türknauf. "Nimm das zweite Kleid von links."
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