21 • Ciana
Je mehr ich von Xavian erfahre, umso mehr bröckelt die Abneigung, die ich gegen ihn haben sollte. Dass das mein Leben nur noch komplizierter gestaltet als ohnehin schon, ist mir klar.
Aber als er nach meiner Haarspange fragt und ich kurz darauf Zeuge davon werde, wie er das Schloss des Seiteneingangs gekonnt knackt, biete ich ihm scherzhaft einen Komplizen-Pakt an und entlocke ihm damit diese verflucht attraktiven Grübchen. Wer hätte gedacht, dass Xavian Schlösser aufbrechen kann?
Nun streifen wir durch verschiedene Labore, vorbei an verkratzten Tischen mit mörderischen Instrumenten, bei denen ich heilfroh bin, dass ich mir einen Arzt nicht leisten kann, Vitrinen mit Reagenzgläsern und Modellen von Körperteilen, bis hin zu aus den Nähten platzenden Schränken.
Draußen mag sich zwar schon die Nacht über Snow Creek gelegt haben, doch wir verzichten auf verräterisches Licht oder Kerzen. Zugute kommt uns hierbei das fahle Mondlicht, welches nicht nur durch die großen Bogenfenster dringt und lange Schatten an die Wände zeichnet, sondern auch vom Schnee rundherum reflektiert wird.
"Hier bist du also immer, wenn du dich nicht gerade in der Bar rumtreibst?"
Ich lasse meinen Blick über ein gigantisches Plakat mit dutzenden Buchstaben und Zahlen gleiten, die in einem Raster angeordnet sind.
"Nicht so oft, wie gewünscht wird."
Überrascht blicke ich zu ihm und bin froh, dass er einen Schrank durchforstet. "Du schwänzt?"
"Das klingt fast vorwurfsvoll." Er dreht sich zu mir um und ich lasse meinen Blick zur Seite schnellen. "Sagen wir lieber: ich überlege mir, was mir meine Zeit wert ist. Ich brauche keine Grundlagenkurse zu belegen, wenn mein Vater mich bereits mit fünf Jahren durch die Fachliteratur quälte."
Als er mich zur Fensterbank dirigiert, sind seine Bewegungen merkwürdig streng und steif. Ich lege den Kopf schief. Es wirkt, als habe ihn die Erinnerung daran in ein Loch gerissen, von dem er üblicherweise Abstand wahrt. Nur, dass sich das Loch an der Stelle befindet, wo eigentlich eine unbekümmerte Kindheit sein sollte. Zumindest innerhalb der Gesellschaft.
"Was hättest du denn gerne gelesen?", lenke ich ab und erlaube ihm, meinen Arm auf einer Erhöhung zu platzieren.
"Mit fünf Jahren?" Er lässt seine Zähne aufblitzen. "Märchen. Weg von..."
Er stockt, traut sich nicht, seinen Gedanken auszusprechen.
"...der Realität", vervollständige ich. Das Gefühl ist mir selbst vertraut. Wenn ich meine Mutter nicht für Zimtschnecken in Erinnerung habe, dann für Märchen, die sie mir aus Büchern mit seitenweisen Bildern vorlas. Nachdem meine Eltern jedoch starben, musste ich sie verkaufen. Hätte ich gewusst, dass Fenix von Alice Lesen lernen würde, hätte ich sie niemals für ein paar schäbige Taler gehandelt.
Xavian lässt sich auf einen Platz vor mir sinken und tupft mein Handgelenk behutsam mit einem feuchten Tuch ab. Als ich hierher kam, wusste ich nicht ganz, was mich erwarten würde. Dass er das einfordert, was Aella vermutete? Oder mir Medizin für Fenix gibt? Dass er aber darauf besteht, meine Hand zu verarzten, daran glaubte ich nicht. Auch wenn er es selbst bereits angekündigt hatte, so ist es ungewohnt, dass sich jemand um mich kümmert. Besser ist es, keine Erwartungen zu haben, um nicht enttäuscht werden zu können.
"Welches magst du am meisten?"
Er schaut zu mir auf, so rasch, dass ich es nicht mehr schaffe, seinem Blick auszuweichen. Nachträglich mache ich es auch nicht mehr - wenn er meinen Willen steuern wollen würde, so hätte er es im ersten Moment machen können.
"Kennst du die Antwort nicht schon, Cinderella?"
"Ein Happy End also", merke ich an.
"Ist das verkehrt?"
"Es ist...weg von der Realität", wiederhole ich unsere Worte. Cinderella mag ihr Glück und ein unbeschwertes Leben gefunden haben, etwas, wovon viele Menschen der Sub Town nur träumen können.
"Man kann dennoch daran glauben."
Über diese Aussage hätte Janus gelacht. Glaube ist nur ein Hirngespinst für Adler. Doch in Xavians Stimme liegt etwas Ernstes. Er winkelt mein Handgelenk vorsichtig in eine bestimmte Position und wickelt es in Polsterwatte.
"Wie würde denn dein Happy End aussehen?", hake ich nach.
Für einen Moment schweigt er, scheint sich in seinen Bewegungen zu verlieren oder meine Frage zu verdrängen. Nun bin ich also diejenige, die eine Grenze überschreitet.
"Tut mir-"
"Ich weiß es nicht." Er zuckt scheinbar beiläufig mit den Schultern, doch es wirkt, als würde ein zermalmendes Gewicht auf ihnen lasten. "Ich weiß nur, wie es nicht aussehen würde."
Ich frage nicht nach. Es geht mich nicht an, was seine Eltern fordern oder welche Abmachung mit den Dawsons gemacht wurde. Das ist seine Welt und in dieser habe ich nichts zu suchen.
"Ich möchte nicht Pharmazie studieren und ich möchte genauso wenig eine vorgeschriebene Frau heiraten müssen. Eines habe ich geschafft, um das andere werde ich mich nicht drücken können."
Seine Eltern wollten ihm also nicht einmal sein Medizinstudium gestatten.
"Ich könnte mir keinen Menschen vorstellen, der besser geeignet wäre, ein Arzt zu sein", gestehe ich kleinlaut. Vielleicht braucht er das als Bestätigung in seinem Studium, vielleicht ruiniere ich damit aber auch all das, was er am Familiengeschäft noch attraktiv findet, und setze ihm Flausen in den Kopf. "Ich meine nur, weil du so empathisch bist." Ich reite mich nur noch mehr in mein Schlamassel hinein. "Ist aber nur meine Meinung. Was zählt die schon?"
Seine Finger streifen meine eine Spur zu langsam und verursachen ein Aufquellen dieser Wärme in meiner Brust.
"Deine Meinung bedeutet mir viel, Ciana."
Meine Güte!
Das macht es nicht leichter, mein Herz wieder in den Griff zu bekommen.
"Das war eher eine rhetorische Frage", murmele ich.
"Nicht, wenn ich dich davon überzeugen muss, dass deine Ehrlichkeit sehr wohl von Bedeutung ist." Er wendet sich kurz zur Seite. "Was ist dein Happy End?"
Schicht für Schicht bettet er Gips um mein Handgelenk und ist so vertieft in seine Arbeit, dass ich überrascht bin, welches Interesse in seiner Frage steckt. Aufrichtiges Interesse, keine Heuchlerei.
"Ich habe mir noch nie Gedanken über ein Happy End gemacht", gestehe ich und blicke auf den Linoleumboden. Träume habe ich schon lange aufgegeben, Ziele gar nicht erst in meinen Gedanken errichtet. "Ich will nur, dass Fenix gesund wird."
So sehr, dass mir die Worte kaum über die Lippen kommen, weil ich mich davor fürchte, dass mir mein größter Wunsch genommen wird.
"Und für dich? Was wünschst du dir für dich?"
Eine Familie vielleicht? Einen Mann, der mich liebevoll erwartet, wenn ich nach Hause komme? Kinder, die begeistert über ihren Büchern brüten und von vollen Tellern speisen können? Ein Haus, bei welchem ich nicht jeden Tag zu befürchten habe, dass es unter dem Gewicht des Schnees zusammenfällt? Das sind Fantasien für eine Zukunft, die ich niemals haben werde. Träume von anderen Frauen in meinem Alter vielleicht, aber sicherlich nicht meine.
"Im Zirkus auftreten zu können."
Kaum habe ich es ausgesprochen, merke ich, dass dies die richtige Antwort ist. An etwas Anderes kann ich jetzt noch nicht denken.
"Und wieder in Häuser von Adlern einzubrechen?"
Schallend lache ich auf und schlage mir die gesunde Hand vor den Mund, um es zu ersticken. Xavian grinst, die Grübchen tanzen wieder auf seinem Gesicht.
"Sobald meine Hand verheilt ist, natürlich."
Es klingt nach Ironie, dabei weiß ich nicht einmal, ob es welche ist. Mit dem Gehalt aus dem Zirkus allein kann ich Fenix und mich nicht über Wasser halten. Früher oder später wird es mich wieder zu Janus verschlagen.
Xavian wickelt eine weitere Schicht Verband um meinen Unterarm und doch verhakt er unsere Blicke miteinander. Ich halte den Atem an - erkennt er die Wahrheit hinter meiner Ironie?
"Bring dich nicht selbst in Gefahr, Ciana." Er löst seine Finger vom Gipsverband und lässt ihn mich begutachten. "Es mag sich vielleicht nicht immer so anfühlen, aber es gibt Menschen, denen du wichtig bist."
"Menschen." Ich lasse das Wort auf meiner Zunge zergehen und brauche einen Moment, um zu verstehen, warum es so befremdlich schmeckt. "Mensch. Kein Plural. Nur Fenix."
Xavian öffnet den Mund, als wolle er etwas darauf erwidern, doch dann verräumt er in Windeseile das Material und macht eine auffordernde Kopfbewegung auf den Flur. "Komm."
Wie immer folge ich ihm. Die Luft zwischen den Räumen ist weitaus besser. Nicht so stickig vom Denken. "Der Ausgang ist in die andere Richtung", stelle ich fest und werfe einen Blick über die Schulter. Ganz sicher, wir marschieren nur noch tiefer in das Labyrinth an Räumen.
"Ich weiß."
Ich verenge die Augen, fixiere sein breites Kreuz und setze einen Fuß vor den anderen. Offensichtlich hat er nicht die Orientierung verloren, sondern ein neues Ziel im Sinn.
"Wohin gehen wir?"
"In die Bibliothek."
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Was auch immer er plant, es gefällt mir schon jetzt nicht. Lesen wäre eine Demütigung und Aellas Anmerkung auch nicht weniger beruhigend.
"Was machen wir dort?"
Er verlangsamt seinen Schritt, sodass ich mühelos zu ihm aufschließen kann, und wirft mir einen kurzen Blick von der Seite zu.
"Was macht man denn in einer Bibliothek?"
Keine verschwitzten Körper zwischen Bücherregalen, immerhin. Aber auf Lesen kann ich ebenso verzichten.
"Ich möchte nicht lesen", murmele ich leiser als beabsichtigt. Warum verlässt mich schon wieder mein Mut?
"Du weißt nur noch nicht, dass du lesen möchtest."
Ich meide seinen forschenden Blick. Warum sagt er das, als wüsste er genau, dass ich nicht mehr als meinen Namen entziffern kann?
"Xavian, wirklich, ich..." möchte nicht so bloßgestellt werden. Aber das traue ich mich gar nicht erst auszusprechen. Wenn er das herausfindet, wird er mich auslachen.
"Ich bringe es dir bei."
Moment, was?
Abrupt bremse ich ab, meine Stiefel auf dem Boden quietschen.
Er wirbelt zu mir herum. Anstelle von Belustigung ist seine Mimik jedoch gezeichnet von Seriosität. Er meint es so. Genauso wie er mein Handgelenk verarztete. Oder mich noch nicht ein einziges Mal manipulierte.
Dennoch weiche ich zurück, stoße mit dem Rücken gegen die nackte Steinwand hinter mir. Er weiß es. Gleich wird er lauthals lachen und sich über meine nicht existierende Bildung köstlich amüsieren. Natürlich, immerhin sind ihm nicht einmal die Vorlesungen seine Zeit wert. Hitze steigt mir in die Wangen, gemischt mit Entsetzen, das er es vermutlich schon die ganze Zeit ahnte.
"Hey, Ciana." Er hebt eine Hand und lässt sie wieder sinken, als ich mich zur Seite drehe, um seiner Berührung zu entkommen. "Das ist nichts, weshalb man sich schämen sollte. Wirklich nicht."
Ich lasse mir das Haar vor die Stirn fallen, sodass er meine glühenden Wangen nicht sieht.
"Woher weißt du...? Seit wann?"
"Ich weiß es nicht. Ich habe es nur vermutet. Du hast die Notiz behalten, aber wusstest nicht, was darin steht. Wenn es dich wirklich nicht interessiert hätte, hättest du sie aber nicht behalten, oder?"
"Vermutlich nicht."
Hat er es überhaupt gehört, so leise wie meine Antwort war?
"Gut." Er nickt, ein zaghaftes Grinsen spielt mit seinen Mundwinkeln. "Wenn du noch immer wissen willst, was ich geschrieben habe, musst du es dir verdienen. Aber da du nicht nur Fenix, sondern auch mir wichtig bist, werde ich dich mit dieser Aufgabe nicht alleine lassen."
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