2 • Ciana
"Wo ist dein Stiefel?"
Man könnte meinen, Janus hat einen sechsten Sinn für Gefahren. Er fängt mich bereits vor dem ausgebrannten Fabrikgebäude ab und tangiert mich mit einem skeptischen Blick, der so viel sagt wie Wusste ich doch, dass du keine begnadete Diebin bist.
"Ciana." Er bläst den letzten Qualm seiner Zigarette in den mit funkelnden Sternen bespickten Nachthimmel. Dann schließt er die Augen, lässt seinen Adamsapfel zucken und vermittelt den Eindruck, dass er all seine Beherrschung sammelt, um mich nicht an Ort und Stelle zu enthaupten. "Wo ist dein Stiefel?"
Verlegen räuspere ich mich. Meine Stimme hat mich heute bereits einmal verraten. Nun werde ich nicht auch noch ihm offenbaren, welches Chaos in meinem Kopf vorherrscht.
"Die Sohle hat sich gelöst."
Die Lüge habe ich den ganzen Weg hierher einstudiert und doch verengt Janus misstrauisch die Augen, bis sie nicht mehr als zwei rabenschwarze Punkte im Gesicht sind.
"Ich musste ihn entsorgen, sonst wäre ich ständig gestolpert", fahre ich fort, doch er zweifelt die Glaubwürdigkeit meiner Aussage noch immer an. Mit aller Mühe halte ich mich davon ab, jegliches Zeichen von Nervosität zu offenbaren, derweil ich seinen Blick aufrichtig erwidere.
Es kostet mich scheinbar dutzende Nervenzusammenbrüche, bis er nickt.
Lang und beherrscht, wie alles an ihm. Denn auch wenn Janus flink und geschickt sein kann, so ist er noch mehr die Ruhe in Person. Ein junger Mann, der sich Zeit nimmt, um stets rational zu handeln. Emotionen kennt er nicht, sind nur ein Hindernis.
Es passt ganz und gar nicht zu seiner Erscheinung. Er ist groß, wirkt dadurch täuschenderweise schlaksig und unbeholfen, und irgendwie schreibe ich ihm durch seine Größe zu, immer Überblick über die Situation zu haben.
Als würde er die Welt wie ein Vogel von oben betrachten. Dabei sind es seine Augen, denen nichts entgeht. Keine Bewegung, nicht einmal ein verräterisch schneller Atemzug. Ein jedes Mal achte ich auf meine Körpersprache, wenn ich ihm gegenüber trete. Weil auch er sonst in mir lesen kann wie in einem offenen Buch. Davon hatte ich heute schon mehr als genug.
"Und das Geld?"
Jetzt kommt der Part, bei dem mir keine Lüge mehr die eigene Haut rettet. Also atme ich einmal tief ein und druckse nicht weiter herum. Augen zu und durch.
"Ich habe keines."
"Gold? Schmuck?"
Ich schüttele den Kopf. "Nichts."
Janus fährt sich durch die lockigen, blonden Haare, seufzt schwer und es ist das erste Mal, dass er mir seine Enttäuschung so ungefiltert präsentiert. "Wenigstens Medizin?"
"Nichts", wiederhole ich und hebe die leeren Hände, damit er mir meine Erfolglosigkeit endlich glaubt.
"Nichts."
Aus seinem Mund klingt es weniger wie ein Vorwurf, sondern vielmehr wie ein Todesurteil. Ich muss diese Situation wieder geradebiegen, sonst steht mir das bevor, was ich nicht riskieren darf: ein Ausstoß aus der Bande.
"Es ging nicht nach Plan", erkläre ich mich schleunigst. Meine Begegnung mit Xavian Ashford war definitiv nicht Teil des Plans, nein, keine Begegnung ist bei einem Raub geplant. Trotz allem werde ich das beklemmende Gefühl nicht los, dass das Gespräch mit ihm mehr einer Erfrischung als einer Sünde glich. "Der Sohn kehrte früher zurück."
Janus nickt erneut, als habe er bis zur Morgenröte Zeit. Dabei plagt ihn nicht der Gedanke, dass ich möglicherweise manipuliert wurde. Sie hätten mich nicht straflos gehen lassen, sondern stundenlang ausgequetscht. Umso mehr wundert es mich, dass Xavian seine Chance nicht nutzte. War ich es ihm nicht wert? Zu harmlos?
"Du hast nicht gewartet."
Es ist keine Frage. Weil er es weiß. Weil er diesen sechsten Sinn hat, der ihm vermutlich schon oftmals das Leben rettete.
Janus übernimmt die mit Abstand gefährlichsten Einbrüche. Wenig verwunderlich ist daher die Ernüchterung, dass ich mit leeren Händen vor ihm stehe, erst recht, da die Ashfords wohl in Gold baden. Kein Wunder bei den Preisen, die sie für jegliche Medizin verlangen.
Mein Schweigen ist Antwort genug. Als Janus die selbst gedrehte Zigarette im Schnee austritt, wirkt er so beherrscht, dass ich unweigerlich an Xavian denken muss. Die beiden sind sich ähnlich, nicht unbedingt optisch, aber sie können einem jeden Gedanken von der Mimik ablesen. Genau die Sorte von Mensch, die ich üblicherweise meide. Weil ich mich lieber hinter meiner sicheren Fassade verstecke, als das gebrochene Mädchen darunter aufblitzen zu lassen.
"Denk noch einmal über meine Lektionen nach, Ciana. Schreib sie dir auf, merke sie dir im Reim, wie auch immer. Wenn du bereit bist, jede einzelne davon zu beachten, kommst du wieder hierher."
Ein solcher Stein fällt mir vom Herzen, dass ich meine Züge komplett entgleisen lasse. Er schmeißt mich nicht hochkant hinaus, das ist ein gutes Zeichen. Mehr kann ich nicht erwarten.
Also bedanke ich mich knapp, schiebe eine leise Entschuldigung hinterher und will bereits unser Lager verlassen, als er mir eine Hand auf die Schulter legt und mich wieder zu sich umdreht.
Es ist das erste Mal, dass er meine Nähe fordert. Die Berührung wirkt so merkwürdig intim, weil Janus niemanden auch nur ansatzweise streift, dass mein Herz schneller pocht.
"Und kauf' dir neue Stiefel. Deine Zehen werden es dir danken."
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