19 • Xavian
Naomis Nervosität hat auf mich abgefärbt. Bei unserer wöchentlichen Promenade entlang des Frozen River konnte ich sie kaum stoppen, als sie ihre Rede immer wieder abspulte, an jeder zweiten Hauswand stehen blieb, um Veränderungen auf dem Zettel vorzunehmen, und mir die überarbeitete Version nochmals vorlas.
Obgleich die Rede zwar an das Proletariat gerichtet ist, werden auch große Teile der Gesellschaft auf der Gedenkfeier erscheinen. Umso treffender muss jedes Wort gewählt sein. Dass ihre Eltern spontan in einer anderen Stadt Geschäfte haben, kommt Naomi nicht gelegen. Nun muss sie die Rede übernehmen. Wenn sie eines hasst, dann ist es der Auftritt vor großen Menschenmengen.
Die Vorstellung machte sie bereits heute Morgen hibbelig und kostet ihr vermutlich die nächsten Nächte den Schlaf. Dabei wird sie absolut makellos sein, wie immer, wenn sie auf einer Bühne steht. Eine Erscheinung der Perfektion mit eindrucksvollen Worten und einem bestechenden Lächeln.
Selbst wenn sie stottern oder mittendrin den Faden verlieren würde, hätte sie noch immer die Gunst der Gesellschaft. So sehr es auch meiner Freiheit im Wege steht, hat sich Naomi mit ihren einundzwanzig Jahren bereits ein hohes Ansehen verschafft. Genau das, was ihre und meine Eltern erwarten.
Während ich ihre Rede heute Morgen noch ein wenig modifizierte, versicherte, dass ich direkt hinter ihr stehen werde und sie damit halbwegs beruhigte, bin nun ich es, der kaum die Füße still halten kann. Dabei ist es nicht einer Rede, sondern Ciana geschuldet. Und der Tatsache, dass sie selbst noch dann nicht auftaucht, als die Dämmerung bereits der finsteren Nacht weichen muss.
Ich verstricke meine Finger in der Augenbinde und blicke mich auf dem verlassenen Gelände um. Der letzte Professor ging bei Einbruch der Dämmerung. Nur kurz darauf löschte der Hausmeister alle Lichter und verriegelte die Tore, während ich mich im Schatten des Seiteneingangs versteckt hielt. Für Ciana dürfte es selbst mit ihrer gebrochenen Hand keine Schwierigkeiten bereiten, über die verzinkten Stangen zu klettern, dennoch laufe ich wie ein unruhiger Tiger auf und ab, um sie nicht zu verpassen. Doch sie kommt nicht.
Als ich in aller Frühe das Paket in die Sub Town versandte, hatte ich zwar dazu geschrieben, dass sie den Teil der Medizin verkaufen solle, den sie nicht benötigt, doch ein kleiner Teil in mir hoffte, dass sie es mir wiedergeben würde. Und dass dies Anlass genug ist, dass sie hier aufkreuzt. Anscheinend irre ich mich.
Ich fuchtele soeben wieder an dem absolut lichtundurchlässigen Tuch in meiner Jackentasche herum, das ich eingeschoben habe, falls sie ihres nicht mitbringt, als es im Schnee zu meiner Rechten knirscht.
"Anonymer Absender? Ist das dein Ernst?"
Sie ist weitaus weniger erfreut darüber, hier zu sein als ich. Wütend krallt sie ihre Finger in den Karton, lässt ihre Knöchel weiß hervortreten. Dass die Wut mir gilt, könnte mir in diesem Moment nicht gleichgültiger sein.
"Du bist doch gekommen."
Sie schnaubt und bleibt erst stehen, kaum kann sie mir das Paket gegen die Brust drücken und es mir geradezu aufdrängen. "Hatte ich denn eine Wahl?"
"Hast du die Notiz nicht gesehen?"
Ciana öffnet den Mund und fixiert den Karton zwischen uns. Nicht mehr - nur ein kleiner Karton und ihr nicht der vergangenen Nacht trennen uns.
"Mir egal, was da steht. Ich komme gut ohne dich zurecht."
Sie presst mir die Ecken geradezu in den Brustkorb, dennoch nehme ich ihr das Paket nicht ab. Weil ich genau weiß, dass sie abhaut, kaum ist sie es losgeworden.
"Mehr als nur gut. Das sollte auch keineswegs erniedrigend sein", erkläre ich und lege meine Hände über ihre, sodass sie nicht loslassen kann. Ihre Finger sind kalt, laufen bereits blau an, so weit muss sie es bis hierher gehabt haben. "Aber hättest du mir aus dem Weg gehen wollen, wärst du nicht gekommen."
Ihre Hand unter meiner will sich lösen, doch kann nicht.
"Nimm jetzt", fordert sie.
Das Gewicht unter unseren Händen lässt mich erahnen, dass sie nicht einmal die Medizin für ihren Bruder aussortierte. "Warum hast du nicht genommen, was Fenix braucht?"
Ciana scharrt mit ihrem Stiefel im Schnee, der trotz Dachvorsprung bis zur Türe gewirbelt wurde. Es scheint mir, als würde sie alles tun, um mir nicht in die Augen schauen zu müssen. Und das fühlt sich an, als wäre ich auf einem grausamen Entzug.
"Weil auch Fenix keinen Retter in Not braucht."
"Also ist er doch krank."
"Das habe ich nicht gesagt!", fährt sie mich entrüstet an. Als ihre Augen auf meine treffen, offenbart sich mir ein Sturm, der kurz davor ist, die Mauern einzureißen und ihre Wut gegen Verzweiflung einzutauschen.
"Dein Bruder braucht Hilfe. Du solltest sie nicht aus Gründen des eigenen Stolzes ausschlagen."
"Er ist mein Bruder! Selbst du als Adler hast mir nicht vorzuschreiben, wie ich mit meinem Bruder umzugehen habe!"
"Es geht mich auch nichts an. Aber ich werde mich nicht hinter dem Egoismus verstecken, den du nach dem Tod deiner Eltern von allen Seiten erfahren haben musst, sodass du nun jede Hilfe von dir stößt." Ich schüttele meinen Kopf. Ich kann verstehen, dass sie eine Mauer um ihre so zerbrechliche Welt errichtete. Keiner mag sich wahrhaftig um sie geschert haben, als sie am Boden zerstört war, und jetzt, da sie sich wieder auf ihre Beine gekämpft hat, glaubt sie an den Egozentriker in jedem Mitmenschen. "Hilfe anzunehmen bedeutet nicht, dass man es nicht auch alleine schaffen würde, Ciana. Manchmal ist es aber leichter zu zweit. Warum machst du es dir selbst schwerer, als es sein müsste?"
Sie senkt den Blick und inspiziert den Karton zwischen uns. Die feine Narbe unter ihrem rechten Auge schimmert im Mondlicht.
"Ich möchte nicht in deiner Schuld stehen", weicht sie aus.
Der Wind weht ihr eine dunkle Haarsträhne auf die Stirn und fesselt meinen Blick geradezu an sich. Wie von selbst löst sich meine Hand, klemmt sie ihr wieder hinter das Ohr und verharrt für einen Augenblick auf ihrer zarten Haut. Warm, elektrisierend, fast intim. Es macht mich verrückt.
"Ich stehe in deiner Schuld, Ciana. Für das, was im Zirkus geschah. Und das brauchst du nicht zu verleugnen."
"Das interessiert euch Adler doch sonst auch einen Dreck!" Sie zieht ihre Schulter hoch, um meine Hand von ihrem Gesicht zu schlagen und ihrem Zorn Raum zu verschaffen. "Tagtäglich beutet ihr uns aus! Ein Gewissen? Habt ihr nicht! Also komm mir jetzt nicht mit Schuld um die Ecke, Ashford."
Meine Finger über ihren vibrieren von dem Zittern, das wieder Besitz von ihr ergreift. Ich muss sie zur Ruhe bringen, sofort.
"Nicht alle Adler lassen sich über einen Kamm scheren."
"Welch ein Zufall, dass du die Ausnahme bist!" Sie verdreht die Augen, verleiht ihrer Ironie noch mehr Ausdruck. "Aber ich habe dein wahres Gesicht gesehen, gestern Nacht auf dem Fluss. Du bist kein Stück besser als die anderen!"
Sie vor mir kniend, mitten auf dem Eis in aller Öffentlichkeit, war ein fatales Vergehen. Denn sie fürchtet sich noch immer davor, dass ich jederzeit meine Macht ausnutze und sie zu mehr dränge. Andere Männer der Gesellschaft würden nicht zögern. Ciana wäre das perfekte Opfer - sie ist zweifelsohne nicht nur optisch reizend, sondern bietet Konter, welcher die Unterdrückung geradezu herausfordert. Zahlreiche Adler würden es genießen, ihren Willen zu brechen, um der eigenen Bestätigung beizutragen. Umso wichtiger, sie aus der Bar fernzuhalten.
"Habe ich dich jemals zu etwas gezwungen?"
"Du hast es vielleicht nicht gesagt, aber dir ist sehr wohl bewusst, welche Bedrohung du für mein Leben darstellst", zischt sie. "Ich wünschte, wir wären einander nie begegnet."
Ihre Worte gleichen einem Schlag ins Gesicht. Fest und gezielt, mit einer Wucht, die mir den Atem raubt. Nur, dass der Schmerz eines Schlages abklingen würde. Das Echo in meinem Kopf wird noch lange nachhallen und die Wunde immer wieder neu aufreißen. Dabei kann ich mir nicht erklären, wieso es mir so sehr zusetzt. Sie sollte mir egal sein. Nur ein weiterer Mensch, dessen Weg sich mit meinem kreuzte und danach wieder abkoppelt.
Aber sie ist mir nicht egal.
Sie ist der Grund, warum mein Herz seit heute Morgen in Gedanken an dieses Treffen ununterbrochen wild in meiner Brust hämmert. Ich sehne mich nach den Momenten, in denen sie meinen Blick unverhüllt erwidert und hasse diejenigen, in denen ihre Hände voller Angst vor Kontrollverlust zittern. Dieses Gefühl werde ich sicherlich nicht einfach untergraben, weil es nicht existieren sollte. Oder weil meine Eltern es mir verbieten würden. Genau das macht es nur noch reizender.
"Und trotzdem bist du hier."
"Ich wäre so viel lieber bei meinem Bruder."
Ihre Ehrlichkeit zeigt mir rundheraus, wie schwer es ihr gefallen sein muss, Fenix für ein paar Stunden zurückzulassen, möglicherweise alleine, um hierher zu kommen. Nachdem sie ihre Eltern bereits verloren hat, scheint er ihr Anker zu sein, an den sie sich klammert und nach dem sie sich richtet. Dass er krank ist, bringt die Stabilität jedoch deutlich ins Wanken. Ich löse meine Hände von ihr und stelle den Karton neben uns ab.
"Dann geh. Ich werde dich nicht dazu zwingen, bei mir zu sein."
Noch weniger möchte ich ihr die wertvolle Zeit mit ihrem Bruder klauen, wenn ich nicht weiß, wie schlecht es schon um ihn stehen kann.
Verblüfft zuckt sie zurück. "Ist das eine Falle?"
Beschwichtigend hebe ich die Hände in die Höhe. "Kein böser Hintergedanke. Geh, Ciana."
Zögernd weicht sie einen Schritt zurück, doch unterbricht den Blickkontakt nicht. Weil sie nach einem Indiz sucht, dass meine Worte nur Trug sind. Dass sie keines findet, entlockt ihr ein zaghaftes Lächeln, für das es sich lohnt, meine eigenen Interessen hintanzustellen.
"Danke."
"Nicht dafür."
Sie wendet sich zum Gehen, als sie nochmals zu mir herumwirbelt. Ihr brennt etwas auf der Zunge, aber sie weiß nicht, ob sie es sagen soll oder nicht. Ich warte, auch wenn meine Geduld zum Zerreißen gespannt ist.
Sag es, Ciana. Vertraue mir.
"Darf ich dich etwas fragen?"
"Alles", stelle ich klar.
Sie nickt. "Du studierst hier? Pharmazie?"
Da kommt noch mehr, das spüre ich.
"Medizin."
"Ist..." Sie stockt, malt mit ihrem Stiefel Kreise in den Schnee und zögert. Ist es, weil ihr die Frage peinlich ist, oder weil sie sich vor der Antwort fürchtet? "Kann man Ereignisse vergessen, wenn man an Maladis erkrankt? Etwas, was einem vor wenigen Tagen noch erzählt wurde, einfach komplett vergessen?"
Mein Herz zieht sich zusammen, weil ich sofort verstehe. Fenix hat Maladis. Und er beginnt zu vergessen. Das bedeutet, dass mittlerweile sein Gehirn betroffen ist. Meist versagen die anderen Organe zuvor, wenn nicht rechtzeitig oder richtig interveniert wird. Wer jedoch Gedächtnislücken aufweist, läuft schon Hand in Hand mit dem Tod. Man kann sich noch von ihm lösen, dazu bedarf es aber ausreichend Medizin und Pflege. Die Amnesie hingegen wird für immer bleiben.
Ich hole tief Luft und würde sie am liebsten vor der Brutalität der Wahrheit verschonen. Es wird ihre Welt nur noch mehr erschüttern.
"Gedächtnislücken..." Ich muss es sagen, alles andere wäre ihr gegenüber nicht fair. Dabei genügt die blanke Angst in ihren Iriden, dass mir schlecht wird. "... treten in dem Stadium auf, das die meisten an Maladis Verstorbenen gar nicht mehr erreicht haben. Aber auch das Stadium bedeutet nicht den sicheren Tod."
Sie nickt einfach nur. Als wäre sie bereits abgestumpft, dabei sitzt der Schock zu tief. Ihre Finger zittern hemmungslos. Es fällt ihr nicht mehr auf. Ich will sie in den Arm nehmen, sie fest an mich drücken, würde am liebsten ihren Bruder auf nun schier unmögliche Weise noch retten, da tritt sie einen Schritt zurück.
"Alles klar."
Gar nichts ist klar. Sie weiß es. Wenn sie nicht sofort handelt, bleiben ihrem Bruder nur noch wenige Tage, mit Glück eine Handvoll Wochen.
"Lass mich ihn sehen", schlage ich vor.
"Niemals."
Sie weicht weiter zurück und ich weiß, diese Diskussion muss ich gar nicht erst vertiefen. Solange sie mir nicht vollkommen vertraut, werde ich nicht weiter als bis zur Grenze der Sub Town kommen. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben - hätte ich ihr die Situation auf dem Frozen River erspart, wäre ich keine Unberechenbarkeit für sie.
Nun jedoch will sie Fenix in absoluter Sicherheit wiegen. Auch wenn sie ihn mit absoluter Abschottung nur noch in größere Gefahr begibt. Aber sie kennt mein Angebot und hat es ausgeschlagen. Ich werde sie nicht dazu zwingen, ihre Meinung zu ändern.
Statt weiter zu diskutieren, beuge ich mich zum Karton, schnappe das passende Flakon und werfe es ihr zu. Sie fängt es mühelos auf, meidet meinen Blick.
"Dreimal täglich. Das letzte Mal kurz bevor er schlafen geht, damit sein Körper über die Nacht gut versorgt ist."
Wieder ein mechanisches Nicken. Es wirkt, als wäre sie in Gedanken fort, bereits bei Fenix.
"Er kann es schaffen", versichere ich ihr. Wenn er auch nur ansatzweise über ihren Kampfgeist verfügt, wird er es schaffen. Und solange sie auf die Menge der Medizin achtet, aber daran zweifele ich nicht einen Moment.
Ciana an diesem Abend gehen zu lassen, ist grausam. Ich möchte sie in meiner Nähe wissen, derweil sie ganz erpicht darauf ist, zurück zu Fenix zu kommen. Dennoch werde ich ihr die Freiheit lassen, weil ich nicht in die Fußstapfen meiner Eltern treten will. Also klaue ich ihr nicht die freie Zeit, die sie mit ihrem Bruder verbringen sollte. In der Bar sieht das Ganze schon anders aus.
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