18 • Ciana

Am nächsten Morgen begrüßt mich Fenix erst in der Küche. Wenn ihn seine Schmerzen nicht früher wecken, ist das schon einmal kein grottiger Start in den Tag.
"Na, mein Zauberer, wie geht es dir heute?"

Er lässt sich auf seinen Platz plumpsen und reibt gähnend die Augen.
"Gut." Das ist das Einfache an ihm - er nimmt kein Blatt vor den Mund. Geht es ihm schlecht, verleugnet er es nicht. Geht es ihm hingegen besser, spielt er es nicht runter. "Was ist mit deiner Hand passiert?"

Verblüfft verenge ich die Augen. "Ich habe mich doch geschnitten", erkläre ich nochmals und bete, dass er mir meine Lüge auch heute abkauft. Ein paar Tage müssten durchaus noch drin sein, um einen Verband über einer Schnittwunde zu rechtfertigen.

"Habe ja nur gefragt", wehrt Fenix ab und hebt beschwichtigend die Hände in die Höhe. "Dachte nur vielleicht ...ach, weiß nicht, vielleicht, dass du dich schlimmer verletzt hättest?"

Ich lasse das Messer sinken, mit dem ich soeben das Brot schneiden wollte, und kann das mulmige Gefühl in meinem Magen nicht länger verleugnen.
"Aber ich habe dir schon gesagt, dass es nicht weiter schlimm ist."
"Nein, hast du nicht."
"Doch." Ich überlege. "Vor vier Tagen."

Fenix stützt sein Kinn auf der Hand ab und schüttelt beharrlich den Kopf, sodass seine dunklen Locken hin und her wippen. "Nein. Hast du nicht."
"Fen, wenn das ein Scherz sein soll, finde ich das nicht lustig."
"Ich finde das auch nicht lustig!"
Er stößt den Teller von sich und springt auf.

"Hey, warte!"
Ich eile ihm hinterher und bekomme ihn an der Schulter zu fassen, ehe er aus der Küche stürmen kann. In seinen Augen hängen schwere Tränen, die mich schmerzlich wissen lassen, wie viel Angst er hat. Vor dem Vergessen. Oder vor dem Tod. Vielleicht auch vor beidem.

"Cia...", beginnt er, bricht in meinen Armen regelrecht zusammen. Ich halte ihn fest, versuche von der Kraft zu zehren, die mir Xavian gab.
Du machst das großartig.
Also reiße ich mich zusammen.

"Mein Traum heute Nacht war verwirrend. Mein Fehler, wirklich. Du kennst es doch auch, wenn man Träume hat, die sich so realistisch anfühlen, oder? Hab auch letztens geträumt, dass ich im Zirkus dumm stürze. Verrückt, nicht wahr?"

Er schnieft und ich glaube, dass da ein ungläubiges Lachen mitschwingt. Weil es vor ein paar Wochen noch völlig absurd gewesen wäre, dass ich in meiner Routine am Tuch verunglücke. Vor ein paar Wochen war ich aber auch noch nicht Xavian begegnet.

"Tut mir leid, dass ich dich durcheinander bringe, Fen. Es ist alles in Ordnung. Alles nur mein Kopf. Hab mich gestern Abend mit dem Messer geschnitten und es gleich verarztet, damit es dir keinen Schrecken bereitet. Tut mir wirklich wahnsinnig leid, mein Zauberer. Ich sollte dringend mehr schlafen."

"Dein Traum ist ja gruselig", murmelt Fenix.
Unbeholfen tätschele ich ihm den Rücken. Ich irre mich nicht. Das war kein Traum. Er erinnert sich nicht mehr. Warum zum Henker hat er aber vergessen, was ich sagte? Ist es einfach ausgeblendet oder tatsächlich wie in ein Loch gestürzt und nie wieder hervorgekrochen gekommen?

"Manches nimmt man mit in die Traumwelt", murmele ich abwesend.
Auch wenn ich noch nie von Gedächtnislücken als Symptom gehört habe, bereitet es auch mir furchtbare Angst. Möglicherweise steht es schlechter um ihn, als er selbst wahrnimmt. Möglicherweise kennt er morgen nicht einmal mehr meinen Namen. Und - der Gedanke schnürt mir die Kehle zu - möglichweise ist Fenix bald selbst nicht mehr als ein Name.

Doch für Angst ist jetzt keine Zeit. Also überrede ich ihn, mir mit dem Einkauf zu helfen, da ich dank des Jobs in der Bar nicht mehr bis Ende des Monats warten muss, sondern sofort bezahlt werde. Ein Grund mehr, diesen Job nicht an den Nagel zu hängen.

Kurz darauf spazieren wir quälend langsam durch dichten Nebel die Gassen entlang von der Bäckerei bis zur Apotheke. Zu meiner bitteren Enttäuschung scheitert es dort jedoch nicht an meinem Geld, sondern am Vorrat und so verlasse ich das Gebäude zwar mit leeren Händen, aber mit einer Handvoll mehr Sorgen. Fenix sieht es mir sofort an und zuckt mit den Schultern.

"Wir haben noch ein wenig", meint er und krabbelt auf meinen Rücken.
Genau, nur ein wenig. Bei der Menge, die ich ihm zurzeit gebe, reicht das gerade einmal ein paar Tage.

Da seine Beine auf halbem Weg schlapp machen, nehme ich ihn huckepack, um ihn wenigstens an meinem freien Tag der Woche die Sub Town erkunden zu lassen und mit verschiedenen Menschen in Kontakt zu kommen, zumindest, wenn es ihm gut geht. Um den Arzt mache ich einen großen Bogen. Noch. Wenn der Lohn die nächsten Wochen weiterhin so aussieht, werde ich ihn aber vor dem neuen Jahr dorthin schleppen und ihn einer gründlichen Untersuchung unterziehen lassen. Dabei weiß ich nicht wirklich, ob es nicht besser wäre, im Ungewissen zu bleiben.

"Willst du kurz nach den Katzenjungen schauen?", frage ich ihn und deute auf das Haus der alten Witwe Wells, die mit ihren verschieden bunt gefleckten Katzen die Kinder der Sub Town anzieht wie ein Magnet. Auch heute tummeln sich mehrere Mütter in ein Gespräch vertieft vor dem Gebäude, während deren Kinder wohl im Inneren den winzigen Samtpfötchen hinterher jagen.

"Oh ja!"
Fenix springt vom Rücken und winkt mir zu. So erspare ich ihm immer das für ihn viel zu eintönige Treiben in der Post.
Rosalie hingegen liebt ihren Job. Gut gelaunt wie eh und je steht sie hinter der Theke und rückt sich soeben ihre Brille zurecht, als sie mich erblickt.

"Ach, Ciana, Liebes. Gerade habe ich noch das Paket verstaut."
Ich erstarre regelrecht. Nicht schon wieder. Was hat er mir heute geschickt? Zumal es nur ein paar Stunden her ist, dass wir uns zuletzt gesehen haben - was kann denn so dringend sein?

Rosalie stemmt eine offensichtlich schwere Box auf die Ablagefläche zwischen uns und atmet hörbar aus. Ich beäuge den Karton, doch von außen lässt sich nicht auf den Inhalt schließen.
"Ähm..." Ich ziehe meine Münzen hervor und zeige damit, dass ich definitiv nicht in Erwartung eines Paketes hierher kam. "Die Zahlung für Dezember."

"Alles klar." Sie sucht eine Liste hervor, fährt mit dem Zeigefinger die Namen nach, bis sie Levine gefunden haben muss, die Münzen nachzählt und einen Haken einträgt. So früh habe ich noch nie gezahlt, aber es ist ein gutes Gefühl, sich sauberes Wasser und Scheitholz für den nächsten Monat gesichert zu haben. "Wie geht es Fenix?"

"Gut", wiederhole ich seine Worte, ignoriere das beklemmende Gefühl in meiner Magengegend, wenn ich an heute Morgen denke, und hieve das Paket auf den Tisch in der Ecke. Nach Hause schaffe ich es mit meiner Neugierde gewiss nicht. Da Fenix noch nicht vor der Post herumlungert, bleibt mir noch ein Moment.

Dementsprechend fackele ich nicht lange und erblicke anstatt eines Stiefels dieses Mal einen Haufen Flakons, sorgfältig eingewickelt in Watte, damit keines beim Transport zerbrechen kann. Ich muss die Beschriftungen nicht entziffern können, um zu verstehen, was Xavian mir schickte. Kunterbunt zusammengewürfelte Medizin, zumindest den verschiedenen Farben und Konsistenzen nach zu urteilen.

Es wäre Wahnsinn, dieses Paket anzunehmen. Noch mehr Schuld bei ihm begleichen zu müssen? Eine Katastrophe. Wie alles die letzten Tage. Zumal sich ein winziger Teil von mir gekränkt fühlt, weil ich ihm deutlich gemacht hatte, dass Fenix meine Angelegenheit ist und ihn meine Meinung nicht zu interessieren scheint.

Ich schiebe die Notiz ein, die er wieder einmal mitschickte, reiche Rosalie das Paket und frage nach einer Rücksendung an den Absender.
"Oh, tut mir leid, Liebes. Anonymer Absender."

"Aber..." Ich kann es unmöglich an seine Eltern schicken, deren Adresse sich noch immer in meinen Erinnerungen eingebrannt hält. Xavians Wohnung hingegen könnte ich vielleicht mit Glück auf einer Karte auffinden, mehr nicht.
"Da kann ich leider nichts machen." Rosalie schiebt mir den Karton zu und zwinkert. "Wer so etwas Schweres durch ganz Snow Creek schickt, muss sich etwas dabei gedacht haben."

Ich ziehe das Paket von der Theke und nicke knapp. Für wen möchte er denn hier den Helden spielen?

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