13 • Xavian

"Ich habe uns einen Tisch reserviert."
"Im Golden Palace?"
"Xav, ich bitte dich! Zwischen den runzeligen Leichen und schmierigen Kellnern?"

Ich schmunzele. Naomi liebt das Golden Palace. Kein Wunder, dass wir fast jedes Mal dorthin gehen. Anfangs schob ich ihre Begeisterung für das mit Blick auf den Frozen River gelegene Restaurant auf die Gesprächsschnipsel der älteren Damen und Herren, die sie wie eine Süchtige aufsaugt. Mittlerweile weiß ich, dass sie alles daran setzt, dass ich möglichst wenig Kontakt mit dem anderen Geschlecht habe, wobei ihr die ausschließlich männlichen Bedienungen gelegen kommen.

"Dachte, wir passen da gut rein", gebe ich grinsend von mir.
Cosmo klopft mir lachend auf die Schulter, dann dreht er sich suchend nach den anderen Beiden um, die wir hier am Rand der Brücke treffen.

Mit seinen rötlichen Haaren und abgefahrenen Ideen zeichnet ihn etwas absolut Ungestümes aus, das mir meine Eltern niemals erlaubt hätten. Nicht einmal als Freund.

Doch da sie nicht wissen, mit wem ich mich in der Universität herumtreibe, habe ich Cosmos wilde Natur vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Vielleicht, weil er all das verkörpert, was ich begehre - frei und enthemmt. Ein junger Mann, der in den Tag hinein lebt und vor Freude am Leben zu strahlen scheint. Genau das Umfeld, das ich nach der vergangenen Woche brauche, um für ein paar Stunden unbekümmert sein zu können.

Naomi und ihre wöchentliche Promenade entlang des Flusses habe ich auf morgen vertröstet und zu meinen Eltern bewahre ich vorerst Abstand. Dafür war ich sogar die letzten zwei Tage vorbildlich zu den Vorlesungen gegangen.

"Ah, endlich!" Energisch winkt Cosmo unseren Freunden zu, bevor er uns mitten durch die mit frischem Schnee bepuderte Main Town gen Süden führt.
"Cos, aber nicht in der Sub Town, oder?", wirft Silver ein.
Cosmo lacht schon wieder. Ich glaube, ich habe ihn noch nie nicht lachen sehen.
"Entspann dich. Alles im Rahmen unserer Eltern."

Er sollte Recht behalten. Zumindest mit dem Part der Sub Town.
"Tada", verkündet er und deutet eine Verbeugung vor einem Gebäude an, durch dessen Glasfront ein bunt durcheinander gewürfeltes Lichtermeer auf den Gehsteig fällt.

Silver rümpft unzufrieden die Nase. "Ein Bordell?"
"Eine Bar. Die weiteren Leistungen könnt ihr mir überlassen, wenn ihr euch keinen Ärger mit euren Bräuten einfangen wollt, aber ich brauche ein wenig Ablenkung."

"Bin dabei", mischt sich Damien zum ersten Mal an diesem Abend in das Gespräch ein.
Silver hingegen schüttelt den Kopf. "Meine Mutter bringt mich um. Oder Evie."

"Deine Mutter schneidet noch nicht einmal ihr Gemüse selbst. Mit was soll sie dich umbringen? Ihrer Tageszeitung?", entgegnet Cosmo und verdreht die Augen. "Kein Rückzieher jetzt, Jungs. Naomi und Evie werden nichts von uns erfahren. Und seien wir mal ehrlich: als ob einer von euch auch nur eine Andere anschauen würde, wenn man solche Zukünftigen hat."

Silver zuckt unbeholfen mit den Schultern und wagt einen fragenden Blick zu mir. Auf Cosmos Gesicht flackert jedoch ein Hauch Seriosität, sodass ich ihm seinen Wunsch unmöglich ausschlagen kann. Wovon auch immer er Ablenkung braucht, ich werde ihn nicht hängen lassen. Solange ich dabei nur ein wenig trinke, wird mir niemand etwas ankreiden können, allen voran nicht Naomi.

In der Bar ist es stickig - bei den zahlreichen Gästen heute Abend wenig verwunderlich. Cosmo hat einen Tisch am Fenster ergattert, perfekt am Rand und doch auf halbem Weg zwischen Eingang und Theke. Aufreizend bekleidete Damen eilen zwischen der Theke und den Tischen hin und her, bringen die Getränke und lassen sich ganz beiläufig tief in den Ausschnitt schauen.

Naomi wird mich alleine dafür umbringen, dass ich Fuß hierein gesetzt habe. Wie ich das meinen Eltern erklären sollte, darüber grübele ich besser gar nicht erst. Einfach nicht auffallen, dann ist das hier kein Problem.

"Wenn das nicht Ashford ist!"
So viel zu meinem Vorhaben.

Ich setze ein lockeres Lächeln auf, winke die anderen Jungs schon einmal an den Tisch und wappne mich mit ausweichenden Phrasen. Vielleicht ist es aber auch der Protest gegen meinen Vater und sein für mich vorbestimmtes Leben, dass ich mich auf das Gespräch mit dem Mann einlasse, dessen Name mir zwar entfallen ist, aber dessen mit Vollbart und Glatze markantes Gesicht mir durchaus vertraut erscheint.

Noch ehe ich ihm meine Schwäche für Namen gestehen muss, verwickelt er mich schon in ein Gespräch. Wie es denn meinen Eltern nach dem Einbruch gehe. Wie mein Studium so laufe. Warum Naomi so selten bei seiner Frau vorbeischaue. Als würden sich um uns herum nicht viel zu leicht bekleidete Frauen durch eine Masse an erregten Männern arbeiten. Als hätten sich unsere Wege auf dem Gehweg gekreuzt. Gut, fasele ich daher. Und natürlich werde ich Naomi ausrichten, dass ihre Gesellschaft vermisst wird.

Viel zu abgelenkt bin ich jedoch von dem Bild der Untreue, welches sich mir hier so hemmungslos offenbart: für die Gesellschaft ist es definitiv keine Ausnahme, dass die Männer außerhalb der eigenen Ehe nach Vergnügen suchen. Auch den Frauen werden keine Grenzen gezogen. Der Gedanke widert mich an. Wozu heiratet man dann überhaupt?

Auch wenn ich meine Eltern für vieles verachte, so muss ich ihnen eines zugutehalten - die Liebe, die sie füreinander nach all den Jahren in den Alltag integrieren. Mein Vater schaut keiner anderen Frau hinterher, umgekehrt gilt das gleiche für meine Mutter. Diese Art von Ehe ist jedoch in der Main Town zur Seltenheit geworden. Vermutlich zerbreche ich mir einfach viel zu sehr den Kopf darüber, was von mir gedacht wird, wenn man mich hier sieht.

"Darf ich fragen, wie es um die Pläne hinsichtlich der Main Town steht?"
Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen, lege mir leere Worte zurecht...und erstarre.
Ciana. Nur wenige Schritte von mir entfernt.

Ich weiß nicht, was zuerst da ist: die tiefe Freude darüber, dass ich sie wiedersehe, oder die schockierende Sorge, dass sie nicht nur hier arbeitet, sondern auf dem Weg zur Tanzstange ist, als ein Mann sie an der Taille packt, auf seinen Schoß zwingt und ihr Worte ins Ohr raunt.

Steif versucht sie sich aus seinem Griff zu lösen, doch er überstreckt ihren Hals und drängt seine Finger zwischen ihre Lippen. Ich balle die Hände zu Fäusten.
Leg jetzt keine Szene hin, ermahne ich mich.

Sie beißt die Zähne zusammen, erlaubt ihm kein Vordringen in ihre Mundhöhle, bis er an ihren Haaren zieht und sie reflexartig nachgibt. Ein Spiel der Dominanz und Unterwerfung, mitten in diesem Trubel, und keiner scheint es zu bemerken. Nur die Männer am Tisch schauen gebannt zu, während ihr Freund die Finger immer wieder in Cianas Mund versenkt und ihr Worte zuflüstert, die ich zwar nicht hören, aber mir denken kann. Für diese würde ich ihm am liebsten die Zunge abhacken. Und davor seine Finger.

Erst als er alles gesagt zu haben scheint, Versprechen und Drohungen, was er mit ihr anstellen will, lässt er sie los. Nicht, ohne rein zufällig ihre Brust zu streifen. Ciana wankt kurz, fängt sich sofort wieder und setzt ihren Weg fort, als sei nichts geschehen. Dabei ist gerade mehr als genug geschehen.

Selbst als sie auf die Erhöhung klettert und sich ein Tuch umbindet, um sich vor unseren Augen zu bewahren, kann ich noch immer nicht wegschauen. Als wäre sie das Licht in einer viel zu finsteren Nacht. Ich weiß, das Licht wird erlischen, wenn das so weiter geht. Dabei kenne ich kaum mehr als ihren Namen. Oder ihre Leidenschaft für die Luftakrobatik. Oder den Grund dafür, warum sie ihre rechte Hand versucht zu schonen. Versuchen reicht so niemals aus.

"Sir Ashford?"
Vermutlich war er schon mehrere Male gewillt, meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, doch ich kann nur mit aller Mühe meinen Blick von ihr lösen. Was zur Hölle macht sie hier? In dieser Bar? Und warum ist da dieser unnachgiebige Drang in mir, sie von dieser Erhöhung zu holen und vor den gierigen Augen und Finger der Anderen zu schützen?

"Verzeihung." Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und schenke ihm damit genau das Gefühl der Verbundenheit, von dem er vermutlich noch heute Nacht - oder auch erst morgen - seiner Frau berichten wird. "Bezüglich des Ausbaus werden in naher Zukunft weitere Informationen veröffentlicht."

Dann nicke ich zu Cosmo, Silver und Damien und gebe damit das Zeichen, dass dieses Gespräch beendet ist.
"Mein Beileid", murmelt mein rothaariger Freund, kaum habe ich mich aus den Fängen des noch immer namenlosen Herren befreit und so Platz genommen, dass ich Ciana aus dem Augenwinkel beobachten kann. Sie foltert ihre Hand regelrecht. Noch mehr ihre Leidenschaft, weil sie ihr Talent für lüsterne Gedanken und nicht für begeisterte Kinderaugen schändet. Hier geht es nicht um den Zauber ihrer Kunst, sondern um dessen Entfremdung in die Erotik. Das ist nicht sie. Das ist nur das, was ihr Sturz im Tuch mit ihr gemacht hat. "Mit dir möchte man echt nicht tauschen."

"Ganz schön obszön", murmelt Silver, leert sein Glas und schüttelt den Kopf. "Tut mir leid, Jungs. Das kann und will ich mir nicht geben."
Neugierig legt sich sein Blick auf mich, als warte er darauf, dass ich mich ihm anschließe, doch ich reagiere nicht. Vermutlich wäre das der Punkt, an dem ich auch gehen sollte, Naomi zuliebe. Aber ich kann nicht. Als wäre mein Körper nicht mehr in meiner Macht, seit ich Ciana erblickte.

Silver knallt ein paar Münzen auf den Tisch und ist davon, bevor Cosmo ihn zum Bleiben überreden kann.
"Der ist eh öde", urteilt Damien und verdreht nur genervt die Augen. "Aber wir sind heute für Spaß gekommen. Oder?"
Cosmo prostet ihm zu und macht eine Kopfbewegung zur Theke. "Die Rothaarige, gute Wahl?"

Damien zieht eine Augenbraue in die Höhe. "Bisschen alt, findest du nicht?"
"Alt bedeutet Erfahrung."
Hätte mich auch gewundert, wenn Cosmo nicht das Abenteuer gesucht hätte.
"Wenn du meinst."

Damien lugt zu Ciana und seine Iriden werden dunkel. Blanke Begierde. Er will sie heute Nacht. Keine Andere. Ich kralle meine Hand um das Glas und bin froh, dass es nicht zerbricht. Die Vorstellung, dass sie ihn befriedigt, seine Wünsche erfüllt, sein Objekt der Lust wird, weckt tief in mir ein Feuer, das ich nicht zügeln kann.

"Die ist eher mein Fall", murmelt er abwesend, als wäre er bereits in Fantasien abgetaucht. Mehr als das werde ich nicht erlauben, erst recht nicht einen Übergang von Fantasie in Realität.

"Weiß definitiv ihren Körper einzusetzen", stimmt Cosmo ihm zu, doch sein Interesse gilt bereits der anderen. Wenigstens einer in diesem Raum klebt nicht förmlich an Ciana. Denn sämtliche Augenpaare sind nur darauf gerichtet, wie sie sich in der verführerischen Musik treiben lässt.
"Wird sie mir später beweisen", glaube ich Damien sagen zu hören.

Am liebsten hätte ich ihn am Kragen gepackt, über den Tisch gezogen und ihn davor gewarnt, auch nur so über sie zu denken. Aber diesen Fehltritt darf ich mir nicht erlauben.

Also leere ich mein Glas in einem Zug, sammele Silvers Münzen ein und deute zur Theke.
"Ich zahle und bin dann auch raus."
Cosmo legt den Kopf schief. Vermutlich schiebt er meine Reaktion auf Naomi. "Nun gut. Wir sehen uns in der Uni wieder."
Damien bekommt nichts mit, so beschäftigt ist er damit, Ciana mit seinen bloßen Blicken auszuziehen.

"Für Tisch vier", murmele ich und schiebe der großen Blondine hinter der Theke ein paar Taler zu.
Sie nickt knapp, meidet jeden Blickkontakt mit mir und fokussiert sich stattdessen auf das Glas, das sie mit einem Tuch abtrocknet, obwohl es schon längst keine Wassertropfen mehr aufweist. Ich luge kurz über die Schulter, doch Damien lenkt Cosmo mit einem Gespräch ab. Meine Chance.

"Ich nehme eure Tänzerin."
"Cat? Steht nicht zur Auswahl", grummelt sie und stellt das polierte Glas zur Seite, um nach dem nächsten zu greifen.
Cat. Wie passend. Unabhängig. Mit eigenem Kopf und doch ein wenig scheu.

"Heute schon", wirft die rothaarige Frau mit Blick über die Schulter ein und deutet auf die üppig gefüllten Plätze. "Viel Nachfrage. Aber leider hat Cat schon ein Angebot, mein Lieber."
Ich schlucke schwer. Ein Angebot, dabei hat Damien noch gar nicht sein Interesse bekundet. Vermutlich der aufdringliche Mann von eben.
"Das höchste Angebot gewinnt, nicht wahr?"

Ich ziehe eine Handvoll Münzen hervor und sehe Überraschung in den Gesichtern der Damen aufblitzen. Sie wissen, welcher Wert gerade zwischen uns liegt. Aber ich werde nicht verlieren. Nicht heute Abend. Nicht für Ciana.
"Ich nehme sie. Und das ist keine Frage."

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