11 • Ciana
Die Bar, zu der mich Anya führt, ist nicht eines von den maroden Gebäuden in der Sub Town, bei denen man vorher sein Testament hinterlegt haben sollte, weil das Dach jeden Augenblick auf einen stürzen könnte. Vielmehr ist es ein Palast aus Glas, Lichtern in allen nur erdenklichen Farben und ohrenbetäubend lauten Gesprächen. So sehr es mich an den Zirkus erinnert, umso befremdlicher ist es, als ich feststelle, dass die Kundschaft nur aus Männern besteht. Allesamt älter als ich.
Hatte ich denn etwas Anderes erwartet?
"Wir gehen hinten rein." Anya stößt mir ihren Ellenbogen in die Seite und weißt um die Ecke. "Dann entkommen wir den Adleraugen ein wenig länger."
Ich folge ihr eine Treppe hinauf, vorbei an Spiegeln, Kleiderständern und Schubladen mit reichlich Schminke.
"Warte hier."
Anya ist davon, bevor ich alle neuen Eindrücke eingefangen habe. Es riecht so intensiv nach Parfum, dass mir schwindelig wird. Ich kralle mich an einem Stuhl fest und atme gepresst ein. Reiß dich zusammen, Cia. Du schaffst das.
"Oh hi, Süße."
Eine Frau, vermutlich knapp unter Dreißig, zieht den Vorhang zu meiner Rechten zur Seite, doch ich komme gar nicht dazu, sie genauer zu betrachten, weil ich panisch den Blick nach links reiße. Direkt auf eine Reihe an Spiegeln.
Hilfe!
Eilig inspiziere ich hochinteressiert den Boden zwischen uns. Den Stiefel, den mir Xavian wiedergab. Etwas an ihm scheint mir zuzurufen, dass ich hier schleunigst abhauen sollte. Dass ich meine Hand schonen und dann wieder zurück an das Tuch sollte. Es gibt nur ein Problem - ich habe keine Monate Zeit. Ich lebe gerade von Tag zu Tag, habe für morgen kein Essen mehr Zuhause und kein Geld, um welches zu besorgen. Also lasse ich meinen Blick weiter zu den Zehen gleiten, die am Rand meines Sichtfeldes hin und her trippeln.
Sie steht nackt neben mir - völlig nackt. Nichts auf ihren Brüsten, nichts um ihre Hüfte, nur bloße Haut.
"Hallo", murmele ich daher und spüre Hitze in meine Wangen aufsteigen. Damit habe ich nicht gerechnet. Sie muss mir meinen Schock regelrecht vom Gesicht ablesen können.
"Ach, du musst das Frischfleisch sein, von dem Anya sprach." Eine Hand schiebt sich in mein Sichtfeld und ich greife verlegen zu, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. "Ich bin Aella."
"Ciana", nuschele ich und meide es noch immer, sie anzuschauen.
"Meine Augen sind hier oben, Süße." Sie drückt meine Hand. "Bin kein Adler, keine Sorge."
Anschauen könnte ich sie, aber will ich das auch? Ihre Aufgeschlossenheit trotz ihrer Blöße überfordert mich. Dennoch brauche ich diesen Job, also hebe ich den Kopf und beiße meinen Blick regelrecht in ihrem Gesicht fest, um alles darunter auszublenden. Wenn es denn so einfach wäre.
"Du bist ja goldig", kichert sie und wickelt sich ihre feurig rote Lockenpracht in einem schmuddeligen Knoten zusammen. "Schon mal Sex mit einer Frau gehabt?"
Ich schüttele den Kopf - mit einer Frau? Überhaupt nicht.
Meine Antwort scheint Aella zu gefallen, so wie ich ihr ein Lächeln auf die Lippen zaubere.
"Können wir ändern, Süße. Ist besser als mit den Adlern, vertrau mir."
"Cat?" Anya lugt um die Ecke, zum Glück. "Kommst du?"
Ich nicke eifrig und sehe gerade noch, wie sich Aella vor dem Spiegel begutachtet.
"Cat", höre ich sie sagen. Es klingt, als würde sie meinen Spitznamen wie weiche Butter auf ihrer Zunge zerfließen lassen. "Krallen und Biss. Gefällt mir."
Anya stolziert vor mir in ein abgelegenes Zimmer, hält mir die Tür auf und deutet auf einen Stuhl gegenüber eines älteren Mannes, der nur knapp von seinen Papieren aufschaut.
"Das ist sie", kündet Anya mich an und bleibt auf der Schwelle stehen. Offensichtlich möchte sie mich nicht alleine lassen.
Der Mann schiebt die Papiere in eine Mappe und lehnt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Stuhl zurück. Dann betrachtet er mich. Lange. Intensiv. Ungeniert.
Alles in mir schreit danach, mich unter seinem Blick zu winden, doch ich zwinge mich zur Ruhe. Anya wirkt nicht, als würden ihr hier große Gefahren drohen. So schlimm kann es nicht sein.
"Alter?"
Seine Stimme ist messerscharf.
"Neunzehn Jahre, Sir", antworte ich und hätte mich am liebsten unter dem Tisch verkrochen. Aber Janus hat mich gut darauf vorbereitet, die Kontrolle zu bewahren.
"Jungfrau?"
Ich falte die Hände im Schoß, weil mir die Antwort nach meiner Begegnung mit Aella unangenehm ist. Sie fragte nicht, ob ich überhaupt schon Erfahrung habe, sondern ob ich bereits Sex mit einer Frau hatte. Als wäre alles andere selbstverständlich.
"Sie ist Luftakrobatin", wirft Anya von hinten ein.
"Das war nicht meine Frage."
"Sie kann an die Stange. Die ist seit Monaten unbesetzt."
Der Mann richtet sich sein lichtes Haar. Über was auch gesprochen wird - es war so nicht geplant.
"Sie ist an der Hand verletzt", erkennt er.
"Sie kann das ausgleichen. Starker Rumpf und andere Hand." Anya lässt nicht locker, aber da die beiden das Gespräch hervorragend ohne mich führen, halte ich mich zurück. Zudem ich ihnen nicht folgen kann. Von welcher Stange sprechen sie? "Es ist einen Versuch wert. Hinter die Theke und zu den anderen Diensten kann sie auch noch, wenn ihre Hand nicht mitmacht."
Der Mann reibt sich über seinen Bart und verengt die finsteren Augen, als versuche er mich einzuschätzen. Als könne er mir ansehen, wie viel ich ihm bringe.
"Gut. Du bist an der Stange. Was die Anderen einholen, wird gerecht aufgeteilt." Er zieht ein Blatt hervor, nimmt ein paar Änderungen vor, dann dreht er es in meine Richtung. "Ist Nachfrage da, wirst aber auch du deine Dienste vollbringen müssen."
Ich nicke. Nicht jede Nacht, immerhin.
Er legt einen Stift auf das Papier und tippt auf eine Linie am Blattende.
Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe. Mit dieser Stange scheint mir etwas bevorzustehen, was Xavian sicherlich nicht unter Stillegen der Hand verstand, doch als Adler versteht er genauso wenig von meiner Not. Zumal ich noch immer von der Stange weichen kann, wenn mein Handgelenk streikt.
Also greife ich den Stift im eingeübten Dreipunktgriff und schreibe die Abfolge, die mir Fenix lehrte. Es dauert viel zu lange, als dass mich mein neuer Chef nicht durchschauen könnte, doch er nickt nur.
"Sei morgen Mittag da, damit du dich mit allem vertraut machen kannst..." Er nimmt das Papier zu sich und schielt auf meine Unterschrift. "Ciana. Anya, du gehst dich umziehen."
Auf dem Gang ist reges Treiben. Mehrere Frauen richten sich ihre Shirts, auch Aella hat sich ein knappes Kleid übergeworfen. Anya führt mich wieder zum Hinterausgang und weist zur Treppe.
"Was war das eben?", frage ich und kann den Vorwurf in meiner Stimme nicht untergraben.
Meine Freundin verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich habe dir die besten Bedingungen ausgehandelt, Cat."
Sie blickt kurz über meine Schulter, um sicherzugehen, dass keiner unser Gespräch mitverfolgt.
"Solange es mit deiner Hand geht, bleibst du besser an der Stange, okay? So musst du zumindest nicht jede Nacht die Adler befriedigen. Aber eine Warnung vorab: nicht jeder ist für dieses Geschäft gemacht. Scheu dich nicht davor, einen Rückzieher zu machen. Kein Job ist es wert, dass man an ihm zugrunde geht."
Mit diesen Worten scheucht sie mich davon. Und obwohl sich dieser Tag wie ein kleiner Sieg anfühlen sollte, empfinde ich keine Euphorie.
Weil mir konträr zu den verschiedenen Lichtern alles an diesem Ort finster erscheint. Das ist definitiv nicht die Magie des Zirkuses, hier passe ich nicht hinein. Aber ich werde keinen Rückzieher machen, nein, ich kann keinen Rückzieher machen. Diese Wahl habe ich nicht.
Wie zur Bestätigung grummelt mein Magen. Ich presse mir die Hand auf den Bauch. Heute nicht, heute reicht das Brot nur für Fenix.
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