Teil 34

Ich könnte sie küssen.
Ich könnte sie jetzt küssen.
Einfach auf sie zugehen, sie in meine Arme ziehen, ihren Duft einatmen und sie küssen.
Mein mehr oder weniger betrunkener Zustand würde mein Verhalten in dieser Situation sogar entschuldigen, doch ich konnte es nicht.
Ich konnte es einfach nicht.
Ich wollte das es echt war, dass sie den Kuss erwiderte, es auch wollte. Ich wollte bei vollem Sinne sein, wenn ich sie das erste mal küsste. Denn ich würde mich noch Jahre später an diesen Moment erinnern wollen. Die Welt würde untergehen. Berge würden sich in mir verschieben, ich wusste es. Dieses Gefühl der Unsicherheit und Unentschlossenheit löste nur sie in mir aus. Wenn ich in ihrer Nähe war, fühlte ich mich machtlos, schwach, langweilig und dumm. Im Vergleich zu ihr war jeder dumm. Sie hatte diese Art von Intellekt, den nicht viele Menschen hatten. Ihr Verstand war scharf wie eine Klinge, genau wie ihre Zunge. Sie war so impulsiv und direkt und die Tiefe ihrer Worte faszinierte mich immer wieder aufs neue. Ich sah sie an. Sie war der sich aufbrauende Sturm und gleichzeitig das Licht, die Sonne die folgte.

Von dem unordentlichen Dutt auf ihrem Kopf liefen einzelne dünne Strähnen wie Honig auf ihre Schultern zu und umrahmten ihr Gesicht. Die blauen Augen sahen müde aus, doch ihre Wildheit hatten sie nicht verloren. Die Sommersprossen auf ihrer Nase und um ihre wunderschönen Augen malten ein Bild in ihr Gesicht, vollendeten das Kunstwerk.

Plötzlich sah sie auf und lächelte mich verlegen an.
"Du, äh, kannst auf dem Boden schlafen, wenns kein Problem für dich ist"
So kannte ich sie gar nicht. Sie war plötzlich schüchtern und zurückhaltend geworden, die direkte sarkastische Liv war einem unschuldigen Mädchen gewichen. Ich wusste nicht welche der beiden ich mehr mögen sollte. Ich liebte die Wildheit in ihren Augen, die Impulsivität, das spöttische Grinsen, die Grübchen die dabei entstanden schon viel zu sehr. Doch so richtig konnte ich es mir noch nicht eingestehen. Es war so spannend diese und hoffentlich noch tausende weitere Seiten von ihr zu entdecken und kennenzulernen. Sie war mir von Anfang an ein Rätsel gewesen. Wie ein Gemälde, von dem, umso mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, mir immer mehr gezeigt wurde, bis ich schließlich seine Vollkommenheit im Ganzen würde betrachten können. Jetzt schon hatte ich Schatten gesehen. Große Schatten. Sie drohten die Schönheit und Wildheit des Kunstwerks zu zerstören, doch ich wusste ich konnte das verhindern. Und ich wusste ich muss mich nicht für eine ihrer Seiten entscheiden, denn nur wenn alle Teile des Gemäldes zusammen sind, könnte ich das Rätsel, welches Liv hieß, lösen. Und würde auch nur ein, wenn auch kleiner, Teil fehlen, kann ich dieses Rätsel nie lösen. Und noch nie wollte ich ein Rätsel so sehr lösen wie dieses.

"Äh ja klar. Ist schon okay. Aber gegen ein Kissen hätte ich nichts einzuwenden" ich grinste und gerade als ich aufstehen wollte, fiel mein Blick auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett. Darauf lag eine Ausgabe "Leaves Of Grass" von Walt Whitman. Ich mochte Gedichte sehr, aber mit diesem Werk hatte ich nie wirklich etwas anfangen können.
Sie beeindruckte mich jedesmal aufs neue. Nie hätte ich damit gerechnet, dass Liv Dinge wie diese las. Ich nahm das Buch in die Hand und sah wie sie kaum merklich zusammen zuckte. Fragend sah ich sie an und zog eine Augenbraue hoch. "Was ist?"
"Nichts" gab sie schnell zurück und wich meinem Blick aus. Ich schlug das Buch auf, vielleicht auch nur um ihre Reaktion zu sehen, und staunte erneut. Etliche Stellen waren angestrichen, fast jede Seite war bekritzelt mit Gedanken und Notizen, die tiefer gingen als alles woran ich beim Lesen dieser Gedichte je gedacht hätte.
Ohne das ich es bemerkt hatte stand Liv plötzlich vor mir und nahm mir das Buch aus den Händen. "Mussten wir für die Schule lesen" sagte sie nur knapp und legte es wieder zurück auf den Nachttisch.
"Hier das Kissen kannst du haben" sagte sie und überreichte mir ein riesiges graues Kissen, auf dem stand "Keine Toleranz für Nervensägen".
Ich lachte. "Hey, soll das ne' Message sein?"
Jetzt lachte sie auch und die Frechheit war zurück in ihre Augen getreten. "Vielleicht." Gab sie nur zurück und hob grinsend die Brauen.

Als ich mich auf dem Boden niedergelassen und ein bisschen über die Härte des Bodens gemeckert hatte, warf Liv mir schließlich noch zwei Decken hin. Die eine legte ich unter mich, mit der anderen deckte ich mich zu. Auch wenn ich gerne noch ein bisschen wach geblieben wäre und mit ihr geredet hätte, übermannte mich der Schlaf, kaum das ich einigermaßen gemütlich lag. Naja, so gemütlich wie man auf einem Boden eben liegen konnte. Ich wusste das ich immer noch stockbetrunken war, aber komischerweise kam es mir gar nicht so vor. Ich konnte zwar meine Gedanken nicht richtig steuern, aber ansonsten fühlte ich mich ziemlich normal. Liv stellte sich den Wecker auf fünf Uhr, dass ich verschwinden konnte bevor ihre Eltern mich entdeckten.

Fünf Uhr...alles in mir sträubte sich bei dem Gedanken so früh aufzustehen aber ich war hier hergekommen, also musste ich auch die Konsequenzen tragen. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf und ein leichter, immer stärker werdender, Anflug von Kopfschmerzen machte sich breit.

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