Kapitel 4: Seine Intensive "Liebe"

Ich ging jede Woche einmal zur Nachhilfe und Lucas wurde mir immer sympathischer. Ich war her in einen Jungen verliebt, denn ich durch einen guten Freund kannte, doch Lucas konnte ich mir schnell als guten Freund vorstellen. Er war aufrichtig, freundlich und respektierte meine Meinung. Nach der Nachhilfe quatschten wir nach einiger Zeit auch über belanglose Dinge, da er, genauso wie ich Zeit hatten.

Lucas studierte Psychologie und war im fünften Semester. Er war 21 und erzählte mir, er habe nach seinem Abitur in einer kleinen Stadt im Staat Oregon ein Auslandsjahr in Deutschland gemacht, da er Deutsch in der Schule gelernt hat. Je mehr er erzählte, desto erstaunter war ich. Es gab nichts, was er nicht schon Mal gemacht hat, es klang trotzdem aber ziemlich glaubwürdig. Ob das alles wirklich stimmt oder er es mir erzählt hatte um mir zu imponieren, kann ich im Nachhinein nicht sagen. Aber zu dem Zeitpunkt war ich wirklich beeindruckt, egal, was er über sich erzählte.

Mein Leben schien für mich so unglaublich langweilig und, im Hinblick auf meine Vergangenheit, ziemlich unschön. Was kann ich über mich erzählen? Meine Drogenzeit? Über meine Narben, die ich über meinen ganzen Körper verteilt sind von Verbrennungen und Schnitten, die ich mir selbst zugefügt habe? Oder etwa über meinen gescheiterten Selbstmordversuch mit 15?

Doch irgendwann vertraute ich ihm auch blind. Ich erzählt ihm über meine schlimme Jugend. Über meine Eltern, die nie zu Hause sind. Über meine Schwester, die ich zwar über alles liebte aber trotzdem mir manchmal wünschte, ich müsste mich nicht um sie Sorgen, damit ich such etwas Freizeit hatte. Und über meine offensichtliche Wunde am linken Oberarm, die ich mit elf bekommen habe, als mich meine Mutter das erste Mal in meinem Leben verprügelte, mit einem Gürtel.

Natürlich passierte das nicht auf einmal. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich ihm öffnen konnte. Tatsächlich war dies ein extremer Zufall. Ich war in der Theatergruppe unserer Schule und wir hatten direkt vor meiner Nachhilfestunde einen Auftritt, in der ich ein kurzärmliges Kleid getragen habe. Ich habe es zeitlich geschafft nur meine dicke Strumpfhose anzuziehen und meinen Mantel zu schnappen, dann eilte ich auch schon los, um nicht zu spät zu kommen. Man sah meine Narben und Verbrennungen am Unterarm und meine große Narbe am linken Oberarm.

Natürlich fielen ihm zuerst die Schnitte und Verbrennungen auf, doch dazu konnte ich nicht viel sagen. Es waren schlimme Momente, in denen die Schnitte meinen innerlichen Schmerz linderten, zumindest redete ich mir dies ständig ein. Im Nachhinein ist das natürlich absoluter Schwachsinn, aber in der Zeit, wo man sich total mies fühlt, war ich davon überzeugt, dass es mir gut tat.

Einmal trafen wir uns zufälliger in der Stadt, was ich wirklich komisch fand. Ich hatte einen Lieblingsbuchladen, der etwas versteckt in einer kleinen Straße, etwa zwei Subway Stationen weiter vom Time Square entfernt, und in den ich wirklich selten bin. Ich habe leider nicht so viel Zeit etwas alleine zu machen.

Den Wocheneinkauf machte ich mit Emmi zusammen, erstens, weil ich sie mit sieben Jahren nicht alleine zu Hause lassen konnte, und zweitens wollte ich so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen, denn in letzter Zeit taten wir das nie. Ich musste wegen meinem Abitur mehr lernen als je zuvor und hatte deswegen kaum Zeit um Dinge mit Emmi zu unternehmen. Aber sie zeigte Verständnis, zumindest so viel wie es eine Siebenjährige eben konnte.

Aber als ich damals Lucas traf, war das wirklich komisch. Ich dachte natürlich, er würde den Buchladen auch kennen, weswegen er hier war. Doch das stimmt natürlich nicht. Er war nicht wegen den Büchern hier. Er war wegen mir hier.

Ab Januar ungefähr fing er anscheinend an, mich zu verfolgen. Natürlich für mich unoffensichtlich. Ich habe ihn nur dieses eine Mal am Buchladen gesehen, aber da hat er sich nicht irgendwo versteckte. Er stand mitten im Buchladen, als ich diesen betrat. Aber dass er mich tatsächlich verfolgt hatte, war für mich ein Schock, ein extremer. Auch das ist natürlich viel später heraus gekommen, als die ganze Situation schon am eskalieren war.

Hätte mir das jemand erzählt, hätte ich die Person für wahnsinnig gehalten. Denn ich hätte Lucas sowas niemals zugetraut. Zwar benahm er sich immer etwas komischer, je öfters wir uns sahen. Zunächst schien es mir nicht aufzufallen, irgendwann dachte ich mir schon, dass er vielleicht in mich verschossen war. Berührungen, die recht "zufällig" schienen, egal was für einen Witz ich erzählte, er lachte und eben die ständigen Komplimente ließen mich bald diese Meinung bilden.

Auch wenn er es als "Liebe" bezeichnen würde, alle normalen Menschen würden das abstreiten. Es war eine kranke Obsession, ein Wahn, den ich auch nicht verstand, als die Situation aktuell war. Irgendwie verstehe ich ihn bis heute nicht. Ich erwähnte bereits, dass ich mich selbst wahrscheinlich niemals daten würde und erwartete dies auch nicht von einer anderen Person, aber gerade so ein Verlangen zu einer Person wie mich zu entwickeln, das konnte ich beim besten Willen nicht verstehen.

Tatsächlich fragte er mich einmal, ob ich mit ihm ins Theater gehen möchte. Er habe Karten von einer Freundin bekommen, die angeblich im Theater arbeitete und wüsste nicht, mit wem er gehen sollte. Auch wenn ich erst 18 war, ich liebte das Theater. Ich selbst spielte seit ich vier bin im Theater, jedoch immer wieder mit Pausen, gerade in den letzten Jahren, da ich mich ja viel um Emmi kümmern musste. Ich war auch wirklich am überlegen, einen Babysitter einzustellen, aber den Gedanken verwarf ich schnell wieder. Ich wollte meine Schwester nicht an tausend fremde Menschen herum reichen, so wie es unsere Mutter mit uns getan hat. Ich wollte besser sein als meine Mutter. Vielleicht wünschte ich mir im Inneren auch, dass Emmi mich irgendwann mehr mag als Mama, die Emmi bewusst nur zehn Mal im Leben gesehen hat.

Es war März, fast April als wir zusammen ins Theater gingen. Ich habe Emmi über das Wochenende zu einer Freundin gefahren, also hatte ich Freitag bis Sonntag für mich alleine. Am Freitag Abend gingen Lucas und ich ins Theater. Es wurde Goethes Faust aufgeführt und ich habe mir extra ein schickes, jedoch schlichtes schwarzes Kleid von einer Freundin ausgeliehen. Ich weiss noch genau, wie ich mich Stunden im Bad zurecht gemacht habe, weil natürlich gerade an diesem Abend meine Schminke nicht wollte, wie ich wollte.

Ich habe Ohrringe angezogen, die einen schwarzen Stein als Kern besaßen und ringsum mit einem Rahmen aus Weißgold geschmückt waren. Dazu trug ich ein schwarzes, etwas breiteres Armband in Gothik-Optik und eine ebenfalls schlichte Kette mit schwarzen Steinen. Die Kette und die Ohrringe habe ich aus dem Schmuckkästchen meiner Mutter genommen, da ich einfach keinen passenden Schmuck hatte.

Mein Septum habe ich raus genommen. Um meine Haare machte ich mir aber Sorgen. Sie waren frisch gefärbt und natürlich wieder violet. In meiner Schule und meinem Freundeskreis hatte keiner etwas dagegen, aber in so einer feinen Gesellschaft wie in einem klassischen Theater kann es mal zu komischen Blicken kommen. Ich hoffte einfach, dass sie bloß gucken und nichts sagen.

Auch Lucas hat sich heraus geputzt. Er war sehr schick in seinem Anzug und wirkte tatsächlich wie ein Gentleman. Seiner verwuschelten Haare waren diesmal ordentlich zusammengekämmt, was ihm meiner Meinung nach nicht so gut stand wie die verwuschelten Haare. Mit denen sah er so wild und sympathisch aus, mit der Frisur, die er im Theater trug, wirkte er irgendwie gestellt. Wie ein Junge, der von seiner Mutter wegen einer wichtigen Angelegenheit herausgeputzt wurde.

Lucas wartete vor dem Theater auf mich. Es war das erste Mal, dass ich ihn rauchen sah. Zwar wusste ich, dass er rauchte, von mir wusste er es auch, aber wir haben nie voreinander geraucht. Er wollte einen guten Eindruck vor mir machen, obwohl ich wegen sowas natürlich keinen Menschen verurteilte. Ich war selbst Raucher. Aber als er mich dann in die Richtung des Theaters kommen sah, machte er schnell die Zigarette im Aschenbecher aus, der neben ihm stand.

Als ich ankam, hielt er mir seinen Arm hin. "Geehrte Dame", meinte er und hob seine rechte Augenbraue, weswegen ich kurz kicherte. Wirklich, die Rolle des Gentlemans passte irgendwie nicht zu ihm. Zu ihm passte eher das Verrückte, der wilde und freiheitsliebende Lucas, so, wie ich ihn eben kennengelernt habe. Aber er gab sich wirklich Mühe, das muss ich ihm lassen.

Tatsächlich schauten ein paar Leute etwas blöd, als Lucas und ich das Foyer betraten. Wir waren offensichtlich sehr jung und die meisten Leute hier waren mindestens 30, die meisten sogar älter. Natürlich waren die Blicke auch deshalb etwas komisch, aber ich fühlte mich irgendwie am meisten angestarrt. Wegen meinen Haaren, wegen meinem Make-Up, meinem Schmuck oder meinem Kleid, keine Ahnung. Vielleicht war es aber auch die schlechte Erinnerung an meine Schule. Ich wurde nie beleidigt, aber die Blicke reichten aus, um ein Unwohlsein in mir auszulösen.

Lucas schnappte mit deiner linken Hand, die noch frei war, meine linke, die durch seinen rechten Arm ging. Ich blickte zu ihm hoch und erkannte sein Lächeln. Er neigte sich zu meinem Ohr und flüsterte mir ein: "Keine Sorge, für mich bist du die allerschönste von allen" zu. Diesen Satz werde ich niemals vergessen. Es ist ein Satz, den er noch viel öfters sagen wird.

Doch in diesem Moment war es unfassbar schön. Zum ersten Mal fühlte ich mich von einer Person, die nicht meine kleine Schwester ist, geliebt, egal ob freundschaftlich oder mehr, seine Intension war mir ja zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich klar. Aber seine dunkle Stimme, die so angenehm in meinem Ohr zu hören war, und dieses Kompliment, es machte einfach alles perfekt. Der Moment war wie eingefroren. Eine Erinnerung, die bis heute schmerzt.

Der Abend ging schnell vorbei. Er fragte mich, ob ich nicht noch Lust hätte was zu machen, irgendwie etwas essen zu gehen oder zu ihm. Und das war der Moment, wo es mir nun klar war, was er wirklich von mir wollte. Das war der Moment, in dem ich mich am besten hätte umdrehen sollen und mich nie wieder bei ihm zu melden. Aber ich wusste ja nicht, wozu er in der Lage ist.

Ich verneinte bloß, es war schließlich auch relativ spät -ich denke es war um die 12 Uhr nachts- und ich wollte mich etwas ausruhen. Da ich mit dem Auto gekommen war, begleitete er mich noch zum Parkplatz und umarmte mich herzlich. Wieder hatte ich dieses warme, geborgene Gefühl in mir.

Doch das sollte für heute nicht die letzte Begegnung gewesen sein.

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