Verloren
Keira wollte nicht bei Thiago bleiben. Der Gedanke daran, dass sie mit solch einem Menschen in einem Haus leben musste, war beängstigend, doch sie hatte keine Wahl. Es waren nun bereits drei tage vergangen, was bedeutete, dass sie morgen wieder einen neuen Namen bekommen würde. Sie. Eine Mörderin würde es tun. Sie würde erneut töten. Nein, es ging nicht. Wie sollte sie das durchstehen? Wie sollte sie erneut eine Nacht durchstehen, in der sie ein Leben nahm? Ein unschuldiges Leben? Wie sollte sie damit klarkommen, dass dieses Loch in ihrer Seele noch größer wurde? Wie?
Die düsteren Gedanken wurden von einem klingeln ihres Handys unterbrochen. Auf dem Display erschien der Name ihrer Mutter, der sofort ein ekliges Brennen in ihrer Magengegend auslöste. Sie ignorierte ihre Nachrichten schon seit Tagen und sie machte sich sicher unfassbare Sorgen, doch Keira wusste nicht, ob sie die Kraft dazu hatte. Den Mut ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie Probleme hatte oder ihr irgendeine Lüge aufzutischen.
Keira musste mit ihr sprechen, also hob sie das Telefon an ihr Ohr, nachdem sie den Anruf angenommen hatte. "Hey Mama" meinte sie und ihre Stimme klang dabei völlig erstickt. Wenn sich ihre Mutter bisher noch keine Sorge gemacht hatte, dann vermutlich jetzt.
"Keira. Warum antwortest du nicht auf meine Nachrichten?" fragte sie und ihre Stimme war so scharf wie immer. Eine Stimme, die Keira schon als Kind immer unwohl fühlen ließ. nie hatte sie wärme oder Sanftheit gehört. Nur wenn Besuch da war, dann kam es vor, dass sie diese Sanftheit vortäuschte.
Gerade wollte Keira antworten, da bemerkte sie Thiago, der geradewegs in die Küche hineinspazierte, in der sie sich bisher aufgehalten hatte. Kurz trafen ihre grünen Augen die des schwarzhaarigen und er musterte sie. Sein Blick wanderte zu dem Telefon und dann wieder zu ihren Augen. Noch immer hasste sie diesen Mann aber sie hatte sich dran gewöhnt, dass er einfach aus dem Nichts auftauchte, weshalb sie nicht mehr zusammenzuckte, wenn er den Raum betrat.
"Tut mir leid Mama. Wir haben hier in New York einfach Season für die Touristen, weshalb ich einige Überstunden im Café machen muss. Außerdem zieht eine Freundin gerade um... und hatte keine Zeit zum antworten" log Keira die Frau am Telefon an. Es war eine einfache Lüge aber doch recht glaubhaft. Zumindest hoffte sie das.
Die nächsten Sätze ihrer Mutter waren ihr nur allzu bekannt, weshalb sie kaum zuhörte. "Ja, ich weiß ich sollte lieber weiter zur Schule gehen. Natürlich werde ich nicht ewig Kellnerin bleiben und ja Sebastian geht es prima. Er braucht nur eine Auszeit, weil er die letzten Wochen so viel Stress hatte. Einer seiner Freunde hat seine Eltern verloren" log sie einfach weiter. Ihre Stimme war kalt und die Lügen kamen einfach so aus ihrem Mund.
Dann sagte ihre Mutter etwas, das Keira verdammt sauer machte. Nicht nur weil es ganz sicher nicht stimmte aber vor allem weil es um Sebastian ging. Ihr Bruder, den der Mann, der sich mittlerweile gegen den Küchentische lehnte, immer noch festhielt.
"Sebastian nimmt sich eine Pause wenn er sie verdammt nochmal braucht. Er ist nicht schwach nur weil er es schafft seine Gefühle zu zeigen, etwas zudem ihr viel zu feige seid. Wenn du nichts besseres zu tun hast, als an deinen "perfekten" Kindern rumzumeckern, dann denk mal drüber nach eine Therapie zu machen! Wenn du es wagst Sebastian nochmal als schwach zu bezeichnen, obwohl er ein wundervoller Mensch ist, auch wenn ihr ihm das Leben zur Hölle gemacht habt, dann bist du dümmer als ich dachte!" warf sie ihrer Mutter vor. Das Thiago das Ganze beobachtete war ihr grade egal. Sie war einfach zu wütend. Ihre Mutter nannte ihn schwach, obwohl er grade die Hölle durchmachte... Noch nie zuvor hatte sie sich gegen ihre toxische Mutter aufgelehnt doch jetzt...
Ihre Mutter schien völlig fassungslos zu sein, denn sie schwieg, bevor Keira einfach auflegte. Sofort fiel ein Haufen Anspannung von ihr ab und sie ließ die Küchentheke los, von der sie überhaupt nicht gemerkt hatte, dass sie sie festgehalten hatten. Erleichtert amtete sie auf, als sie das Handy zurück in ihre Hosentasche steckte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie das verarbeitet hatte. Erst war sie eine Mörderin und dann noch eine schlechte Tochter. Der letzte Teil ihrer gebrochenen Seele bekam einen weiteren, schmerzhaften Riss. Ein Riss, der ihr erneut vor Augen führte, dass Thiago eingesperrt war. Alleine und verängstigt.
Plötzlich kam Thiago auf sie zu. Der Engländer trug eine kurze Hose und ein schwarzes Shirt, dass seine Muskeln perfekt umspielte. Muskeln die ihr grade total egal waren und die dennoch zeigten, wie schnell er sie einfach umbringen könnte. Umbringen oder schlimmeres.
"Deine Mutter scheint ja eine reizende Frau zu sein" brummte er, als er vor ihr stehen blieb. In den letzten Tagen schien Thiago es sich zur Aufgabe gemachte zu haben sie zu quälen, in dem er versuchte mit ihren Gefühlen zu spielen. Er wollte, dass sie sich in Sicherheit wägte und vielleicht sogar Sympathie für ihn empfand, weshalb er seine Hände neben ihren Hüften auf der Küchentheke platzierte. Sofort stieg ihr wieder dieser Duft von verregnetem Wald und Schießpulver in die Nase.
"Nimm es dir nicht so zu Herzen kleines. Ich finde du bist ganz wunderbar" flüsterte er, als er ihr langsam näher kam. Sein Blick wanderte zu ihren Lippen, denen er ganz nah war. Etwas, dass sie vermutlich normalerweise einfach verlegen gemacht hätte oder sie genervt hätte, doch jetzt machte sie es wütend. Die letzten Tage war sie so mit den Alpträumen beschäftigt gewesen, dass sie Sebastian fast vergessen hätte, doch auf einmal war es wieder völlig präsent.
"Fass mich nicht an du verdammter Hurensohn" zischte sie ihm entgegen, als sie die Hände auf seine Brust legte, um ihn wegzuschieben. Er sollte weg von ihr. Bloß weg. Dieser Psychopath sollte einfach nur von ihr. Dieser Mann war der Grund für all das. Er war der Grund dafür, dass sie leiden musste und es schien ihm völlig egal zu sein. Diesem verdammten Mistkerl.
"Was denn? Hast du nichts gelernt Prinzessin? Was passiert, wenn du böse zu mir bist?" fragte er und dabei klang seine Stimme so kalt und sanft zugleich, dass es ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Allerdings nicht nur das, sondern auch seine Hand, die erst über seinen Arm strich und denn langsam hochfuhr, zu ihrer Schulter, über ihr Schlüsselbein. Er wollte es wieder tun. Die Panik stieg in ihr hoch und sofort begann sie schneller zu atmen. Keira presste sich gegen die Küchentheke, so weit weg wie möglich, doch er hatte sie einfach eingekesselt.
"Thiago hör auf" flüsterte sie erstickt, als sich seine Hand langsam um ihren Hals legte. Der Engländer beobachtete ihr panikerfülltes Gesicht mit einem amüsierten Grinsen. Wie Krank. In Keiras Augen bildeten sich langsam die Tränen und sie begann zu zittern. Was wenn sie wieder in dieses Loch fiel? Das loch voller Dunkelheit, das bereits drohte sie mit sich zu reißen.
"Wieso Prinzessin? Wenn du brav bist tu ich dir nichts, das Prinzip hast du doch sicher bereits verstanden oder? Muss ich dir das nochmal erklären? Die siehst eigentlich ganz niedlich aus, wenn du schläfst" raunte er ihr grinsend zu. Dann bemerkte er die Tränen. "Aber aber kleines... kein Grund zu weinen. Sei brav, dann fass ich dich auch nicht an" erklärte er ihr, während Keira noch immer panisch versuchte ihn wegzudrücken. Erfolglos natürlich.
"Du verdammter Mistkerl. Wo ist mein Bruder? Morgen soll ich wieder dein krankes Spiel spielen und noch immer lässt du mich nicht wissen, was dein Plan ist! Ich habe keine Ahnung ob mein Bruder überhaupt noch lebt und d-du versuchst mit meinen Gefühlen zu spielen, in dem du so tust, als wäre es dir auch nur ansatzweise wichtig, wie es mir geht" warf sie ihm vor. Es musste einfach gesagt werden. Scheinbar war sie gerade jetzt in der Stimmung dazu, um allen Leuten die Wahrheit direkt ins Gesicht zu sagen.
Thiago sah auf sie hinab und sie hätte schwören können, dass seine Augen für einen Augenblick weicher wurden. Doch das war sicher nur Einbildung gewesen, denn im nächsten Moment drückte er etwas zu. Es schien, als wäre ER jetzt derjenige der wütend war. Aber wieso? Weil sie ihm widersprochen hatte?
"Jetzt hör mal Keira. Denkst du ich mach das hier alles aus Spaß? Als würde es mir Freude bereiten dich zu quälen und zu sehen, wie du dich jede Nacht in den Schlaf weinst. Denkst du ich will deinen Bruder in diesem Drecksloch gefangen halten? Wenn ja, dann würde ich dich an mein verdammtes Bett fesseln und sonst was mit dir tun. Ich würde dich jeden Tag daran erinnern, was du getan hast aber das tue ich verdammt nochmal nicht also wag es nicht so von mir zu denken. Wag es niemals wieder zu denken, dass mir das hier Spaß macht. Du wirst morgen diesen Mord begehen und dann, irgendwann bekommst du deinen Bruder zurück. Bis dahin hältst du dich an diese eine verdammte Regel: Sei einfach brav" brachte er entgegen, als er ihren Hals noch immer zudrückte, allerdings nicht fest genug, um ihr ernsthaft weh zu tun. Wie immer.
Keira konnte nicht recht verarbeiten, was er da alles auf einmal sagte. Auch wenn es keine einzige ihrer Fragen beantwortete, sorgte es dennoch dafür, dass sie darüber ins Grübeln kommen würde, was seine Motive anging. Wenn es nicht zum Spaß war, wofür dann? Was brachte ihn dazu so etwas zu tun, wenn er es nicht aus Freude daran tat? Das erste mal in dieser ganzen Zeit, dachte sie daran, dass er vielleicht einen Grund für all das hatte. Nicht, dass das hier etwas ändern würde.
Thiago ließ sie los und sah sie noch einigen Sekunden an, bevor er sich vorbeugte, um ihr einen ganz kurzen Kuss auf die Stirn zu drücken. Es war nur ein feiner Impuls gewesen und dennoch verblüffte es Keira. Innerhalb weniger Tage war ihr Leben so sehr auf denn Kopf gestellt worden, dass ihr empfinden von richtig und falsch in diesem dunklen Loch verschwunden war. Wie sollte man seine Grenzen zeigen, wenn der einzige, mit dem man zeit verbrachte, ein grausamer Mörder war?
Bevor Keira auf diese Geste, die solch eine Sanftheit ausdrückte reagieren konnte, war er auch schon aus der Küche verschwunden. Einfach weg. Er ließ sie alleine zurück.
Total verwirrt.
Total verängstigt.
Verloren.
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