Mistkerl

Nach dieser bizarren Situation im Bad, hatte Keira sich gewaschen, umgezogen und war unsicher in das Zimmer geschlichen. Eigentlich wollte sie hier nicht schlafen, geschweige denn länger bleiben als nötig aber wo sollte sie hin? Es war mitten in der Nacht, sie war noch immer total geschockt und alleine in eine Wohnung sein wollte sie eigentlich auch nicht. Das bezaubernde Schlafzimmer machte es ihr nicht leichter diesen Ort zu hassen. Der karamellfarbene Boden passte perfekt zu den babyblauen Wänden. An der hinteren Wand stand ein recht großes Bett, was frisch gemacht war. Über dem Bett war ein Fenster, welches jedoch zugezogene Vorhänge hatte und sie somit vor den neugierigen Blicken der Nachbarn schützte. An der rechten Wand stand eine weiße Kommode und daneben ein Schrank. Was und ob sich daran etwas befand wusste Keira nicht und sie war zu erschöpft um darüber nachzudenken. Sie war für so ziemlich alles zu erschöpft, weshalb sie sich ohne weiter drüber nachzudenken ins Bett warf und nach circa 2 Stunden voller Tränen, Angst und Schmerz, schaffte sie es einzuschlafen.

Das Licht fiel ihr aufs Gesicht, was sie langsam aus dem Reich der Träume zurückholte. Keira öffnete die Augen und musste einige Male blinzeln, bis die Bilder vor ihren Augen scharf wurden. Wo war sie? Hektisch setzte sie sich auf, wobei ihr etwas schwindlig wurde und sie die hämmernden Kopfschmerzen bemerkte. "Wo zum Teufel..." murmelte sie, als sie sich umsah. Dann kam auf einmal alles wieder zurück. Thiago, der Mord, das Blut und sein Haus. Sie war noch immer in Thiagos Haus. Im haus des Mannes, der ihr all das angetan hat.

Als sie sich umsah, fiel ihr ein kleiner Zettel auf dem Nachttisch auf. Lag der gestern auch schon da? Wenn, dann hätte sie ihn vermutlich sowieso nicht bemerkt. Zögerlich griff sie danach. Bestimmt war es eine neue Art und Weise, wie er sie versuchte zu quälen. Dieser verdammte...

Keira öffnete den Zettel, auf dem geschrieben stand "Zieh dich um, wenn du willst. Im Schrank sind Klamotten, die dir passen sollten. Mach dich frisch und dann komm runter. Ich will nicht ewig mit dem Frühstück warten". Er wagte es allen erstens jetzt noch Witze zu machen? Eigentlich hätte sie das ja wütend machen sollen, doch momentan war da nichts. Nichts außer dem Selbsthass und dem Ekel.

"Soll er doch meckern" meinte sie mit ihrer heiseren Stimme. Sie hatte gestern so viel geweint, dass es sich anfühlte, als hätte sie den ganzen Abend scharfes Essen gegessen. Als hätte die braunhaarige nicht schon genug Sorgen.

Auch wenn es ihrer Kämpfernatur widersprach, stand sie auf und ging zum Schrank. Dort waren tatsächlich viele verschiedene Klamotten und sie entschied sich erneut für eine Jogginghose, diesmal aber eine hellblaue und dazu helles Tanktop. Das sollte wohl für dieses Arschloch reichen.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie ins Bad, wo sie sich das Gesicht wusch und ihre langen, braunen Haare kämmte. Während der ganzen zeit versuchte Keira zu vermeiden, in den Spiegel zu sehen. Sie ertrug den Anblick ihres blassen Gesichts, mit den tiefen Augenringen einfach nicht. Das Gesicht einer Mörderin. Einer kaltblütigen Mörderin.

Als sie im Bad fertig war, verließ sie das Bad und ging die Holztreppe hinunter, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Vermutlich hatte Thiago sie hier hoch getragen. Allein der Gedanke daran, dass er ihr so nah war und sie es zugelassen hatte, rief bei ihr einen gewissen Ekel hervor. Er hatte die Situation einfach ausgenutzt, dieser verdammte Dreckssack.

Gerade wollte sie in einen Raum abbiegen, wo sie die Küche vermutete, als sie auf einmal unsanft an Arm gepackt wurde. Die Adern durchzogene Hand gehörte logischerweise zu Thiago, der sie mit einem ersten Gesichtsausdruck ansah. Irgendetwas schien ihn in Alarmbereitschaft versetzt zu haben.

"Die Bullen tauchen gleich hier auf. Sie werden uns fragen ob wir etwas gesehen haben und wo wir gestern waren. Du bist meine Freundin und wir haben uns einen schönen Abend gemacht, doch du hast ein bisschen zu viel Wein getrunken, weshalb du jetzt aussiehst wie eine wandelnde Leiche und nicht ganz auf der Spur bist, kapiert? Wenn sie mich drankriegen, dann dich genauso und wir wollen doch nicht, dass dein lieber Bruder verhungert oder?" erklärte er ihr und der letzte Satz klang so drohend, dass Keira nicht anders konnte als mitzumachen. Sie wusste genau, dass Thiago sicher irgendwelche Beweise aufbewahrte, die zeigten, dass sie Jackson getötet hatte. Sie hatte ihn getötet...

Keira konnte es nicht verhindern aber als sie an gestern dachte, stiegen ihr unwillkürlich die Tränen in die Augen. Sie hatte all das noch längst nicht verarbeitet und selbst der bloße Gedanke daran, löste in ihr solch einen Schrecken aus, dass sie sich am liebsten wieder im Bett verkriechen würde.

Thiago schien dies zu bemerken, denn er legte eine Hand an ihre blasse Wange, die durch die Berührung begann zu brennen. "Kleines sieh mich an. Du darfst jetzt nicht weinen. Nur noch ein bisschen. Du musst nur noch ein bisschen länger stark sein und dann kannst du weinen" hauchte er ihr mit seiner männlichen Stimme entgegen. Eine Stimme, die bei Keira Angst, Zorn, Ekel und Geborgenheit gleichzeitig auslöste. Sie befand sich geradewegs in einer Spirale aus toxischer Besessenheit und zärtlichem heilen. Die Wunden die er verursachte versuchte er zu heilen. War das etwas gutes oder etwas schlechtes? Eine Frage, auf die sie noch keine Antwort gefunden hatte.

"Ich..." begann sie und sah ihm weiter in die dunklen Augen. "Ich Versuchs" war ihre einzige Antwort, bevor sie einen Schritt zurücktrat um sich von ihm zu lösen. Dann atmete sie hörbar aus. Die junge Frau hatte gar nicht gemerkt, wie sie den Atem angehalten hatte, als er sie so berührte. Wie eigentlich immer, wenn er ihr so nah war. Das war ein abgekartetes Spiel, dass sie gerade dabei war zu verlieren.

Thiago schien ebenfalls erleichtert, dass sie jetzt kein Theater machte und nickte nur. Dann fuhr er sich durch die Haare, welche noch immer etwas zerzaust waren. Er schien auch nicht allzu viel geschlafen zu haben, was sich deutlich an seinen Augenringen zeigte. War es für ihn etwa doch nicht so leicht zu morden? Ihr das alles anzutun und sie so zu quälen?

Bevor sie weiter über den Engländer nachdenken konnte, hörte sie jedoch ein Klingeln, dass sie sofort nervös werden ließ. Sie war so beschäftigt gewesen, mit den Gedanken an ihren Bruder und Thiago, dass sie gar nicht realisiert hatte, dass die Polizei vor der Tür stand. Was wenn Keira nicht überzeugend genug lügen konnte und sie erkennen würden, dass sie die Mörderin war. Was wenn sie Beweise dafür fanden, dass sie die Täterin war. Sie hatte sich übergeben. Was wenn die Polizei dadurch DNS oder sowas hatte?

Diese Gedanken wurde jedoch von Thiago zerstreut, der sich im Vorbeigehen zu ihr hinunter beugte und flüsterte "Ich habe alles sauber gemacht. Sie werden keine Beweise finden". Dann lief er zur Tür, mit einem charmanten Lächeln. Keira blieb erstmal im Hintergrund und beobachtete die Szene mit nervösem Puls.

"Officer, was kann ich für sie tun?" fragte er mit einer höflichen Stimme und lehnte sich lässig an die halb geöffnete Tür. Die Beamten, eine Frau, Mitte 30 und ein etwa 45 jähriger Mann, standen vor der Tür, bekleidet mit der bekannten Uniform.

"Wir müssten sie zu einem Mord befragen, der hier in der nähe stattgefunden hat. Sind sie alleine, Mister...?" fragte die Frau ihn und wartete offensichtlich darauf, dass er ihr seinen Namen nannte. Thiago war völlig entspannt, als wären die beiden nicht die Mörder des Mannes, der nun vermutlich in einer Leichenhalle war.

"Callen. Michal Callen, Ma'am" nannte er ihr einen falschen Namen. Dann drehte er sich zu Keira. "Und nein ich bin nicht alleine. Darling kommst du mal bitte her? Die Polizisten wollen uns zu einem Mord in der Nähe befragen" sagte er, als wären die beiden schon jahrelang ein Paar. So liebevoll hatte seine Stimme gestern Abend auch geklungen. Fast melodisch.

Wie ferngesteuert kam Keira zur Tür und versuchte sich an einem zaghaften Lächeln den Beamten gegenüber. Plötzlich spürte sie Thiagos Arm, der sich um ihre Hüfte legte und sie sanft zu sich zog. Auf einmal berührten sich die Körper der beiden und sie wusste nicht, ob er das tat, damit ihre Tarnung realistischer Aussah oder um sie zu ärgern. Vielleicht genoss er es ja so mit dem Feuer zu spielen. Vielleicht gab es ihm einen Kick.

"Keira Harper" beantwortete sie die Frage der Polizistin, die sie ihr vermutlich als nächstes hatte stellen wollen. Die Frau nickte und notierte sich die Namen. Dann begann der Mann zu sprechen. "Zwei Straßen gab es heute Nacht einen Mord. Ist ihnen so gegen 11 Uhr etwas aufgefallen? Ein Auto vielleicht? Oder Menschen die hier eigentlich nicht hingehören?" fragte er und blickte erst Keira und dann Thiago prüfend an. Wusste er es vielleicht schon?

"Jetzt wo sie es sagen.... Wir haben einen gemütlichen Fernsehabend gemacht, doch Keira hatte etwas zu viel Wein, weshalb ihr übel wurde. Sie bat mich darum ob wir einen kleinen Spaziergang machen könnten, weshalb wir so gegen viertel vor elf das Haus verließen. Als wir an der Ecke Greenwald Park waren, fiel mir ein schwarzer PKW auf, den ich vorher noch nie gesehen habe. Ich weiß nicht ob er etwas damit zu tun hatte aber vielleicht hilft ihnen das ja weiter" erklärte Thiago wie selbstverständlich.

Die Polizistin schrieb alles genau mit. "Haben sie sich das Kennzeichen merken können, Mr. Callen?" fragte sie, doch als Thiago das verneinte, wandte sie sich zu Keira. "Und ihnen Ma'am? Ist ihnen irgendwas aufgefallen?" erkundigte sie sich, während sie die junge Frau genau musterte. Es war nicht zu sehen, dass sie eine schwere Nacht hinter sich hatte. "Sagen sie, geht es ihnen wirklich gut?" hakte sie dann doch nach.

Keiras Herz begann schneller zu schlagen. Schnell. Ausrede. Ausrede. Dann fiel ihr etwas ein. "Ja, es ist alles in Ordnung ich hab nur... zu getrunken gestern und dann war da noch diese Sache... Mein Hund ist vor zwei Tagen verstorben. Ich komme immer noch nicht ganz damit klar" log sie die Polizistin einfach an. Es war eine Lüge, die ihr einfach plötzlich eingefallen war, doch sie schien zu funktionieren, denn die Frau nickte. Hatte sie es geschluckt?

"Mein Beileid. Ist ihnen gestern irgendetwas aufgefallen" fragte sie nochmal nach, doch Keira verneinte das ebenfalls. Sie war gerade einfach nur froh, dass sie sich rausreden konnte und die Polizistin nicht misstrauisch zu sein schienen. Und sie war froh über Thiago, der neben ihr stand. Er war ein angsteinflößendes Arschloch doch... nur durch seine Kühnheit konnte sie dem Verdacht der Polizei entgehen, das wusste sie.

"Danke sehr. Wir melden uns, falls wir weitere Fragen haben. Einen schönen Tag noch" verabschiedete sie die Polizistin mit einem freundlich Lächeln, bevor sie und ihr Kollege sich von dem Haus entfernten und mit den Befragungen weitermachten.

Erleichtert atmete Keira auf. Schnell löste sie sich von Thiago, der ihr viel zu nah war, für ihren Geschmack und ging dann zurück in den Flur. Der Engländer folgte ihr einige Sekunden später, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Auf seinem markanten Gesicht war schon wieder dieses arrogante Grinsen, dass sie so sehr hasste. Es machte sie wütend und sorgte dafür, dass sie ihm eine reinhauen wollte, auch wenn sie momentan nicht im geringsten die Kraft dazu hatte.

"Nicht schlecht Prinzessin. Allerdings finde ich "er hat mich die ganze Nacht durchgenommen und deshalb habe ich keinen Schlaf bekommen" eine viel bessere Lüge" raunte er ihr zwinkernd und mit provozierender Stimme zu, bevor er ohne auf ihre Reaktion zu warten, in der Küche verschwand.

Mistkerl.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top