Ich habe dir vertraut

Song: I Think Im in love - Kat Dahlia

Er hatte tatsächlich zugestimmt Keira zu ihrem Bruder zu bringen. So ganz konnte sie es immer noch nicht glauben, doch sie war dennoch überglücklich. Endlich würde sie ihn wiedersehen, ihren Bruder Sebastian. Den Mann, der immer für sie da gewesen war, egal wie alleine sie sich gefühlt hatte.

Nun saß Keira hinten auf Thiagos Motorrad, ihre Augen verbunden und die Arme um den Engländer gelegt. Ihr Herz schlug immer schneller und sie wusste nicht wieso. War es die Aufregung wegen des Treffens oder etwas anderes..? War es... er? Nein. Wie konnte sie an sowas denken, in so einem Moment? Kurz bevor sie ihren Bruder endlich wiedersah, dachte sie an seinen Entführer.

Gerade wollte Keira sich das aus dem Kopf schlagen, da spürte sie wie der muskulöse Körper vor ihr vibrierte. Lachte er gerade? Dann schien Thiago plötzlich langsamer zu werden und hielt schließlich an. Wieso? Waren sie schon da? Jetzt schlug ihr Herz noch schneller und sie konnte die Aufregung in ihrem ganzen Körper spüren. Der Fakt, dass sie eine Augenbinde umhatte, machte das ganze noch angespannter. Verdammt. Gleich würde sie ihn wiedersehen. Sebastian. Sie war so aufgeregt nur wegen Sebastian. Nur wegen Sebastian.

Genau in diesem Moment stieg Thiago von dem Motorrad ab, doch statt ihr die Augenbinde abzunehmen, tat er etwas, dass ihren Atem stocken ließ. Etwas, mit dem Keira in so einem Moment nie gerechnet hätte. Noch immer saß sie auf dem Motorrad, die Augen verbunden und ohne wissen, wo die beiden eigentlich waren. Genau das nutzte Thiago aus.

Seine kalte Hand legte sich auf ihre Hüfte, während er wieder aufs Motorrad stieg, diesmal aber zu ihr gedreht. Der Engländer zog sie zu sich, so dass sie nun auf seinem Schoß saß. Die Spannung zwischen ihnen war auf einmal so elektrisierend, dass Keira eine Gänsehaut bekam. Was tat er hier? Warum machte er das mit ihr? Thiago quälte sie und das wusste er ganz genau. Doch warum? Warum tat er das hier alles? Bloß aus Spaß?

Plötzlich spürte Keira den warmen Atem des Engländers auf ihren Lippen. Ein Kribbeln durchfuhr ihren ganzen Körper und sie konnte nicht verhindern, dass sie den Wunsch verspürte ihn zu küssen. Bisher hatten sie solch eine Spannung aufgebaut, doch geküsst hatten sie sich nie. Ja, er hatte sie berührt und in der Küche hatten sie sich fast geküsst, allerdings ein richtiger Kuss, dass war bisher nicht passiert. Doch wollte sie das? Wollte sie von ihm geküsst werden?

"Willst du es? Willst du, dass ich dich küsse?" hauchte Thiago genau in dem Moment gegen ihre Lippen. Seine zweite Hand wanderte zu ihrer Wange. Mit einer überraschenden Sanftheit fuhr er über ihre rosige Wange, die unter seiner Berührung förmlich zu brennen begann. Ein Brennen, dass in ihr ein Verlangen auslöste, dass Keiras Hirn für einige Sekunden aussetzten ließ. Wie schaffte er das nur? Er machte sie einfach nur verrückt und genau das war der Grund, warum sie nickte. Keira gab ihm die Erlaubnis sie zu küssen. Nein, nicht die Erlaubnis, es war der Wunsch danach, den sie äußerte.

Es dauerte keine zwei Sekunden, da lagen seine Lippen schon auf ihren, als hätte er ewig auf diesen einen Moment gewartet. Seine warmen, sanften Lippen, die ihre trafen. Eine sanfte Berührung, die dafür sorgte, dass in ihrem Bauch Schmetterlinge explodierten. Es war nur ein leichter Kuss, doch dabei blieb es nicht. Dafür fühlte sich dieser Kuss einfach viel zu gut, als dass Keira es nicht hätte tun können. Nach einem kurzen Zögern legte sie die Arme um seinen Nacken und vertiefte den Kuss. Anfangs war es nur sanft, doch dann wurde es ganz plötzlich leidenschaftlich. Mit einem mal waren all die Hemmungen verschwunden und Keira küsste ihn so leidenschaftlich, dass er keuchte. Thiago keuchte in den Kuss hinein. Also war nicht nur ihr Körper am kribbeln. Auch er spürte dieses Kribbeln.

"Scheiße" hauchte Keira leise gegen seine Lippen, als sie sich von ihm löste. Sie hatte ihn gerade geküsst. SIE hatte IHN geküsst. Verdammt. Und das auch noch kurz bevor sie ihren Bruder wiedersah. Wie konnte sie nur? Und wieso fühlte es sich so verdammt gut an ihn zu küssen. Wieso wollte Keira es so sehr und wieso wollte Thiago es auch... Sie hatte so viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte.

"Küsse ich so schlecht Prinzessin?" fragte Thiago gegen ihre Lippen. Da sie noch immer eine Augenbinde trug, konnte sie nicht sehen, dass in seinen Augen der Wunsch brannte sie erneut zu küssen. Doch er tat es nicht. So gerne er es auch tun wollte, er tat es nicht.

Keira antwortete nicht. Stattdessen drehte sie denn Kopf weg. Es war ihr peinlich, wie sehr es ihr gefallen hatte und dass sie ihn so geküsst hatte. Sie hasste es so sehr und dennoch konnte sie nicht verhindern, dass die Situation ihr gefiel und ja, vorher hätte sie sicherlich Angst gehabt, doch nun saß sie hier, auf seinem Motorrad, mit verbunden Augen und sie... vertraute ihm. Thiago würde sie zu ihrem Bruder bringen und Keira würde vielleicht irgendwann das alles verarbeiten. Irgendwann...

Dann spürte die Braunhaarige plötzlich, wie er ihre Unterschenkel griff und sie an sich drückte. "Halt dich fest kleines" flüsterte Thiago ihr sanft ins Ohr, was erneut eine Gänsehaut in ihr auslöste. Noch bevor sie sich beruhigen konnte, hob er sie auch schon hoch und trug sie, wie Keira vermutete, in Richtung des Hauses, in dem ihr Bruder gefangen war. Gefangen, von Thiago, in dessen Armen sie gerade war und den sie vor kurzer Zeit geküsst hatte. Das Gefühlschaos in ihr wurde glücklicherweise verdrängt von der unfassbaren Nervosität. Wie sollte sie ihm das alles erklären? Wie sollte Keira ihm sagen, dass sie...

All das waren Gedanken, die sie so sehr beschäftigten, dass sie fast umgekippt wäre, als sie plötzlich wieder Boden unter den Füßen hatte. Wann hatte Thiago sie denn bitte abgesetzt? Kurz darauf erblickte Keira auch wieder das Tageslicht, als er ihr die Augenbinde abnahm. Einige Sekunden musste sie blinzeln, bis sich ihre Augen wieder an das zugegebenermaßen recht schwache Licht gewöhnt hatten. Es schien, als wären die beidem im Flur eines kleinen, dunklen Hauses. Es roch nach altem Holz und überall hatte sich staub gesammelt. Einige alte Bilder an den Wänden waren kaum noch zu erkennen und schien schon auseinanderzufallen. Die Tapete an den Wänden blätterte ebenfalls teilweise ab und der Boden knarrte laut, als Keira Thiago durch den engen Flur folgte. Was war das für ein Haus? Lebte hier etwa Sebastian? Oder war er gefesselt? In einem Käfig? Oder schlimmeres?

Keira versuchte all die bösen Gedanken zu vertreiben, während sie ein unangenehmes Kribbeln im bauch spürte. Sie war unfassbar aufgeregt und ihr Herz schlug stetig schneller, während sie durch das dunkle Haus ging. Jeder Schritt brachte sie ein Stück näher zu Sebastian, ihrem Bruder. Sie würde ihn umarmen können und dann alles erklären. Es würde alles wieder gut werden. Irgendwie.

Endlich waren sie an einer Tür angekommen. Thiago schien genau zu wissen, dass Keira der Anblick nicht gefallen würde, denn er drehte sich zu ihr um und griff sanft nach ihrer Hand. Seit dem Kuss war da diese Spannung, die sie bisher einfach verdrängt hatte, aus Sorge um ihren Bruder und durch die Aufregung, doch jetzt, wo sie ihm direkt in die Augen sah, merkte sie es. Der Engländer sah sie anders an als normalerweise. Wieso? Was würde sie dort drin erwarten? Würde das etwas daran ändern wie sie über ihn dachte? Sah er sie deshalb so an? Weil er Angst vor ihrer Reaktion hatte.

"Keira..." begann Thiago, als er sie zu sich gezogen hatte. Sofort roch sie wieder den Geruch von einem verregneten Wald und Schießpulver. Ein Geruch, der in ihr so viele Gefühle und Erinnerungen wachrief. Etwas, dass sie jetzt eigentlich gar nicht gebrauchen konnte.

"Versprich mir, dass egal was hinter dieser Tür ist, du lässt mich dir alles erklären. Vielleicht nicht heute oder morgen aber das alles hat einen Grund" erklärte er mit seiner weichen Stimme. Was war nur hinter dieser Tür? Und was war der Grund für all das hier. Sanft legte der Engländer ihr die Hand auf die Wange und sie spürte, wie Thiagos Daumen über ihre Haut strich. Eine kleine Berührung, die davor sorgte, dass sie unfassbar verängstigt und beruhigt zugleich war. Hinter dieser Tür erwartete sie ein schlimmer Anblick, doch er schien zu wissen, dass Keira das verkraften könnte. Er würde es ihr erklären.

"Ich will aber nicht mehr warten. Ich will nicht grundlos Menschen... töten" hauchte die Braunhaarige ihm entgegen. Es musste doch einen Grund für all das geben.

"Ich weiß Prinzessin. Du wirst es verstehen, doch gib mir erst dein Versprechen. Bitte" flehte er jetzt schon fast. Seine raue Stimme klang fast gequält, als würde der Gedanke daran, dass Keira ihm nicht mehr verzeihen könnte, Thiago zerreißen.

Erneut trat er einen Schritt näher an sie heran und sah ihr tief in die Augen. Ausnahmsweise hatte er kein schelmisches Grinsen auf dem Gesicht oder einen dummen Kommentar auf den Lippen. Nein, diesmal war sein Blick so voller Ehrlichkeit, wie auch seine nächsten Worte es zu sein schienen.

"Ich will dich nicht verlieren Keira. Ich kann dich nicht verlieren. Nicht so" hauchte er ihr gegen die Lippen. Wann war er ihr schon wieder so nah gekommen? Und warum schlug ihr Herz plötzlich wieder so schnell? Sollte sie ihm das Versprechen geben? Konnte sie ihm dieses Versprechen geben, auch wenn sie es nicht einhielt?

"Ich verspreche es dir" meinte sie dann nach kurzem Überlegen. Sie würde es zumindest versuchen. Thiago hätte es ihr gesagt, wenn ihr Bruder... Tod wäre. Er hätte ihr davon erzählt oder sie irgendwie darauf vorbereitet. Sicherlich war er einfach nur abgemagert und sowas. Schließlich war er ein Gefangener richtig? Es war nur das. Thiago hätte ihm nicht weh getan. Nein. Warum sollte er auch?

Auf dem Gesicht des Engländers zeigte sich ein Lächeln, bevor er sich aufrichtete. Kurz musterte er sie nochmal, als wollte er das sanfte Lächeln auf ihrem Gesicht in seinem Gedächtnis speichern, bevor sie sah, in welchem Zustand ihr Bruder war. Würde Keira das wirklich verkraften? Ja. Ja, sie würde das schaffen.

*Song: Mercy - Shawn Mendes

Mit erhobenem Kinn und rasendem Herzen nickte sie Thiago zu, bevor dieser die Tür öffnete und ein dunkler Raum zum Vorschein kam. Sofort schlug ihr der Geruch von durchnässtem Holz und modrigen Wänden entgegen, der im Rest des Hauses ihre Nase nur leicht gekitzelt hatte. Nun aber stand sie auf dem kleinen Podest und überblickte den Raum. Wo war er? Auf der alten Matratze war er nicht... War er im Bad? Er musste im Bad sein.

"Sebastian?" rief Keira mit einem letzten Funken Hoffnung in ihrer Stimme. Er würde antworten. Garantiert. Sie bekam keine Antwort. Er hörte sie einfach nicht. "Sebastian!" rief sie erneut, nur lauter, als sie die Treppe hinunterstolperte. "Sebastian wo bist!". Keira spürte, wie sich langsam die Tränen bildeten, als sie zur Tür des kleinen Bades lief. Er musste dort sein. Vielleicht hörte er sie einfach nicht. Er musste doch hier sein. Sie hatte ihn endlich gefunden. Sebastian musste hier sein.

Mit zittrigen Fingern griff sie nach der Klinke des Badezimmers und drückte diese vorsichtig nach unten. Es knarrte einige Sekunden lang, bis die Tür ganz offen war. Die Tür war offen und er... er war nicht da. Innerhalb von zwei Sekunden zerbrach ihr Herz erneut. Es war doch gerade am heilen. Es war wieder zerbrochen. In hundert kleine, dunkle Teile.

Keira schossen die Tränen in die Augen und sie drehte sich ganz langsam zu dem Podest um. Ihr Gesicht war kreidebleich und sie versuchte all das zu verarbeiten. Er war nicht hier. Er war weg. Ihr Bruder war weg.

Erst nach einigen Sekunden fiel ihr Blick auf Thiago, dessen Gesichtszüge vollkommen entgleist waren. Er starrte sie an und schien es selber nicht fassen zu können, doch Keira war das egal. Sie kümmerte es nicht, dass er davon nicht gewusst zu haben schien, denn sie war verdammt wütend.

"Ich hab dir vertraut die verdammter Mistkerl! Was hast du mit ihm gemacht!" schrie sie ihn an. Ihr Körper begann zu zittern und in ihrem Kopf ratterten die Szenarien. Was war nur passiert mit Sebastian? Die Tränen strömten über ihre Wange und langsam sackte sie zu Boden. Wie konnte er ihr das nur antun?

"Ich habe dir vertraut..." hauchte sie mit zittriger Stimme, bevor sie endgültig zusammenbrach.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top