Die Nacht der Nächte

Keiras Herz pochte, als sie die alte Treppe hinaufstürmte. Ihre Knie waren zittrig, doch das Adrenalin pumpte so stetig durch ihre Adern, dass sie es schaffte all das einfach auszublenden, während sie den Flur durchquerte. Nur noch weniger Schritte, dann hatte sie die Freiheit erreichte. Weg von Dario und ihrem Bruder. Weg von all dem. Das war eine schlechte Idee gewesen. Sie hätten nie herkommen sollen. Sebastian hatte sich gegen sie entschieden. Nein. Er hatte sich für Dario entschieden. Er wollte bei Dario sein und nicht bei ihr... bei seiner eigenen Schwester.

Endlich hatte Keira die Tür erreichte. Ohne zu zögern riss sie sie auf und sofort schlug ihr die frische Waldluft entgegen. Sie hatte es nach draußen geschafft. Doch würde Thiago ihr folgen? Würde er es schaffen Dario zu entkommen?

Noch immer schlug Keiras Herz schneller, als sie durch den Wald stolperte. Alle paar Sekunden drehte sie sich panisch zur Tür. Der Gedanke daran zu sehen, wie Dario durch diese Tür trat um sie zu verfolgen, war wohl der Antrieb für sie. Der Grund warum sie schneller rennen konnte, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Keira es endlich geschafft. Sie hatte das Motorrad erreicht. Am liebsten hätte sie vor Erleichterung geseufzt, doch dann realisierte sie es. Keira konnte ohne Thiago nicht von hier weg. Sie hatte es geschafft, doch wenn Thiago gegen Dario verlor...

Ihre Atmung wurde schneller und mit jeder Sekunde wurde die junge Frau immer nervöser und ängstlicher. Jedes Geräusch ließ Keira aufschrecken. Ein leises Geflüster des Windes, ein Tier, welches völlig sorgenfrei war oder ein anderer Laut, den der Wald von sich gab.

Plötzlich hörte Keira Schritte. Schwere Schritte und sie klangen, als würde sie sich direkt auf die junge Frau zubewegen. Verdammt. War das Dario? Ihr Herz pochte so schnell, sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Mist. Würde er ihr etwas antun? Würde er sie töten? Verprügeln? Oder schlimmeres? Wie wütend war er auf Thiago?

Immer näher kamen die Schritte und immer stärker raste Keiras Herz. Wäre das Darios Rache? Ihr etwas anzutun, um Thiago damit das Herz zu brechen? Um ihn genauso zu brechen, wie Thiago wohl Dario gebrochen hatte.

"Keira!" rief plötzlich eine Stimme, die ihr Herz beruhigte. Thiago. Es war Thiago. Nicht Dario. Erleichtert rannte die junge Frau in Richtung des Engländers, doch als sie ihn erblickte, gefror ihr das Blut in den Adern. Er sah schrecklich aus. Auf seiner Kleidung war überall Blut und es schien zum Teil seins zu sein, denn Thiagos Nase blutete stark, genauso wie einige Wunden in seinem Gesicht. Oh Gott. Er war doch nicht schwer verletzt?

"Ist er...." fragte Keira noch immer voller Adrenalin. Hatte Thiago den Spanier getötet? So viele Fragen schwirrten durch ihren Kopf, doch die Antworten darauf konnte nur er ihr geben. Thiago jedoch sagte nichts. Er sah sie einfach nur an, mit einem Blick, der ihr eine Gänsehaut bescherte. Der Blick sah... beinahe tot aus. So leer und gefühllos.

"Wir müssen von hier weg" knurrte Thiago und Keira zuckte kurz zusammen bei seinem harschen Ton. Sie war unter Schock und dann war er so kalt. Das machte sie nur noch unsicherer. Dennoch gehorchte sie und stieg nach ihm auf das Motorrad. Was war dort drin geschehen?

Einige Sekunden später fuhren die beiden los und hinaus aus dem Wald. Sie hatte damit gerechnet, dass er viel zu schnell und waghalsig fuhr, doch das tat er nicht. Thiago starrte einfach nur gerade aus und schien völlig in seinen Gedanken versunken zu sein. Immer wieder stellte Keira sich die gleiche Frage: was war passiert?

Nach einer halben Stunde Fahrt waren die beiden endlich angekommen. Keira erblickte die Fassade des unscheinbaren Hauses und fühlte sich sofort etwas sicherer. Es war nicht ihr eigenes Haus, dennoch verspürte sie bei ihm immer das Gefühl von Zuhause.

Geh rein" befahl Thiago dann wieder in emotionsloser stimme, sobald er angehalten hatte und sie abgestiegen war. Wieso war er so kalt zu ihr? Ja, er war manchmal harsch aber das hatte sie noch nicht erlebt.

Als die beiden dann endlich im Haus waren, musterte Keira ihn zögerlich. Sollte sie ihn fragen? Vermutlich war es das einzig Richtige. Sie musste erfahren, was Thiago mit Dario getan hatte und was ihn so verstörte.

"Was ist passiert?" hauchte die junge Frau leise und lehnte sich an den Küchentresen. Thiago war sichtlich etwas überfordert mit der Frage. Es schien als würde sein Kopf versuchen etwas zu verarbeiten, was er selbst jedoch einfach bloß vergessen wollte.

"Nichts." antwortete er kalt und drehte sich in Richtung der Küchentür. "Ich will darüber nicht reden" war alles, was Thiago sagte, bevor er die Küche verließ. Ernsthaft? Er ließ sie einfach so stehen? Empört folgte Keira ihm.

"Was ist da drin passiert? Thiago, ich hab das recht zu wissen, was mit den beiden ist!" forderte sie, doch das schien bei ihm alles andere als gut anzukommen. Er drehte sich zu ihr um und sie konnte die Wut in seinen Augen sehen. Scheiße.

"Ich sagte ich will nicht darüber reden!" fuhr der Engländer sie an und wurde dabei laut. "Frag mich nie wieder danach, kapiert?" knurrte er noch, bevor er die Treppe nach oben nahm. Entsetzt und verwundert starrte Keira ihm nach. Was war gerade passiert? Dass er so mit ihr redete, schockte sie.

Die junge Frau stand eine Weile einfach nur verwunderte da. Was sollte das? Wie schlimm war es gewesen, was er hatte tun müssen? Und wieso wollte er ihr nichts davon erzählen? Hatte sie nicht ein Recht darauf das zu erfahren? Zu wissen, was mit dem Mann war, der sie und Thiago töten wollte?

Nach dem Keira zu keiner Antwort gekommen war, entschied sie sich in ihr Zimmer zu gehen. Sie hörte das leise Rauschen von Wasser, was ihr verriet, dass Thiago wohl unter der Dusche war. Gut. Er musste sein hitziges Gemüt abkühlen. Vielleicht konnte sie danach mit ihm reden.

Erschöpft und verwirrt öffnete sie die Tür ihres Zimmers, welches sie länger nicht betreten hatte. Keira hatte immer bei dem Engländer geschlafen und sich höchstens mal frische Sachen zum anziehen geholt. Nun hier zu sein und nicht zu Thiago ins Zimmer zu können nagte doch etwas an ihr. Sie brauchte nach sowas eine Umarmung und die Möglichkeit sich sicher zu fühlen. Alleine fühlte sie sich verletzlich und angreifbar.

Die nächste halbe Stunde streifte Keira nur im Zimmer auf und ab. Manchmal sortierte sie einige Sachen, als Versuch den Stress unter Kontrolle zu kriegen, doch es half nichts. Ihr Kopf raste noch immer. Sie versuchte so vieles auf einmal zu verarbeiten. Die Worte ihres Bruders, wie Thiago sie behandelt hatte und die Angst, die in dem Kopf der jungen Frau immer präsent war. Die Angst davor, dass Dario zurückkommen könnte oder vielleicht auch andere Feinde von denen sie nichts wusste. Thiago war so professionell und konnte mit sowas umgehen, doch sie... im Endeffekt war Keira doch nur ein normales Mädchen. Sie war keine Kämpferin oder Killerin. Sie war normal... zumindest vor einiger Zeit. Ob sie jetzt noch normal war? Ein komischer Mensch um sich an all das zu erinnern was passiert war. Der Anruf von Thiago, die Angst um ihren Bruder, dann die morde und der Kampf gegen Thiago und schlussendlich die Gefühle, die sie entwickelt hatte. All das fuhr ihr nach und nach durch den Kopf.

„Prinzessin?" hörte Keira plötzlich eine vertraute Stimme durch die Tür. Thiago. Etwas skeptisch stand sie auf und ging zur Tür. Sollte sie ihm öffnen, nachdem er sie so angegriffen hatte? Vielleicht wollte er es ihr ja jetzt erklären.

„Was willst du?" fragte sie vorsichtig, nach dem sie die Tür geöffnet hatte. Zugegeben, mit dem Anblick hatte sie nicht gerechnet. Thiago stand vor ihr in einer grauen Jogginghose und  ohne Shirt. Seine nassen Haare hingen ihm ins Gesicht und er musterte sie mit seinen dunklen Augen. Verdammt sah das gut aus.

„Mich entschuldigen" antwortete er und lehnte sich gegen den Türrahmen. Seine Augen ließen nicht von ihr ab. „Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen kleines, dass weiß ich" fügte er hinzu. Sollte sie ihm einfach so verzeihen? Vergeben, dass er so mit ihr gesprochen hatte?

Einige Sekunden schwieg Keira, bevor sie zur Seite trat, um ihn in ihr Zimmer zu lassen. Thiagos Augen leuchteten etwas auf und er steuerte schnurstracks auf ihr Bett zu, wo er sich setzte. Es schien, als würde ihn irgendwas nicht loslassen. Als wäre da noch etwas anderes, als das, was heute passiert war. Doch was?

„Ich verzeihe dir" meinte Keira dann, als sie ihm zum Bett folgte. „Ich weiß, dass war hart für dich, doch ich will trotzdem wissen, was passiert ist. Sind wir noch in Gefahr? Will Dario uns immer noch etwas antun?" fragte sie sanft und setzt sich neben ihn. Sie musste es einfach wissen.

Thiago jedoch seufzte erst einmal. Es schien als wäre es schwer für ihn einfach darüber zu reden. „Ich kann darüber nicht reden Keira. Es geht nicht. Alles was ich dir sagen kann, ist dass wir fürs erste nicht in Gefahr sind, doch Dario will immer noch Rache und Sebastian sicher auch" erklärte er ihr. Sie waren also noch immer in Gefahr, auch wenn die beiden wohl fürs erste Ruhe geben würde.

„Verstehe" meinte sie leise und nickte. Eigentlich wäre das Gespräch damit wohl vorbei, doch das war es nicht. Thiago schien irgendwas einwenden zu wollen, denn er setzte zum sprechen an.

„Da ist noch was, was ich dir wohl sagen sollte..." begann er und Keira runzelte die Stirn. Was meinte er? „Heute Mittag... naja... du... ich..." stotterte er und schien es einfach nicht rausbringen zu können. Was meinte er denn? Sie verstand nicht ganz und sah ihn bloß verwirrt an.

„Du hast was zu mir gesagt" meinte er, doch sie verstand immer noch nicht. Sie hatte so viel zu Thiago gesagt und es war so viel passiert. Sprach er etwa über eine der schlimmen Situation? Hatte sie etwas falsch gemacht?

„Ich versteh nicht" gestand Keira und sah ihn noch immer verwirrt an. „Du verstehst nicht? Ach Keira" brummte er und schien sich zusammenreißen zu müssen. „Verdammt ich liebe dich auch" platzte es plötzlich aus ihm heraus. Das meinte er? Auf einmal realisierte sie, worauf er hinaus wollte. Als sie es ihm gestanden hatte. Er hatte nichts dazu sagen können.

„Keira ich liebe dich, verstehst du das? Ich hätte nie gedacht, dass du auch nur ansatzweise so empfindest, doch Gott verdammt ich liebe dich so sehr" gestand Thiago ihr. Er liebte sie auch. Natürlich wusste sie, dass er sie nicht verabscheute und seit dem sie das gesagt hatte, war so viel passiert, dass sie nicht mal darüber hatte nachdenken können, was er sagen könnte.

„Ich liebe dich auch" lächelte Keira und spürte, wie die Schmetterlinge im Bauch tanzten. Sie liebten einander. Etwas, was ihr doch Hoffnung schenkte in dieser Zeit voller Angst. Vielleicht war da doch eine Möglichkeit auch Glück. So lange hatte sie gelitten, doch vielleicht musste sie das jetzt nicht mehr. Vielleicht konnte sie glücklich werden.

Plötzlich blieb Keira die Luft weg, als Thiago sie einfach ins Bett drückte. Sie keuchte leise und sah ihn überrascht an. Was hatte er denn jetzt vor? Seine dunklen Augen zeigten bloß einen Hauch Lust. War es Lust auf sie?

Ohne etwas zu sagen, neigte sich sein Kopf hinunter zu ihrem Ohr und allein von seinem heißen Atem bekam sie eine Gänsehaut.

„Lass mich dir zeigen, wie sehr ich dich liebe"

Und nun wusste sie es.

Heute Nacht wäre es soweit.

Die Nacht der Nächte.

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