Teil 8

Am nächsten Morgen holte Henry mich zum Frühstück ab. "Erholsame Nacht?" fragte er. Ich schnaubte verächtlich und warf ihm einen trüben Blick zu. Dann gingen wir schweigend zum Speisesaal. Irgendwie fühlte ich mich aufgebracht, aber nicht wie sonst, es war eher so eine innere Unruhe. Viele Dinge beschäftigten mich zur Zeit und die Tatsache gleich wieder von Aaron kritisch beobachtet zu werden, machte es auch nicht besser. Ich wurde wieder am Tisch angekettet, wie ein Tier. Meine Laune wurde immer besser. "Was guckt ihr beiden denn so düster?" stichelte Oliver und dabei lachte er, als hätte er gerade den Nobelpreis für Humor gewonnen. Ich stocherte in meinem Haferbrei herum und machte keine Anstalten, auf seine Frage auch nur auf irgendeine Weise einzugehen. "Schlecht geschlafen." log Henry und zuckte mit den Schultern. Ich hätte wetten können, dass auch ihm viele Gedanken durch den Kopf gingen. Nur zu gerne hätte ich gewusst, was er in diesem Moment dachte und als ich ihn so ansah, langsam kauend, unausgeschlafen und in Gedanken vertieft, verspürte ich ein Gefühl von Zuneigung in mir hochkommen. Ich schüttelte nur den Kopf, verwirrt durch meine eigenen Gedanken. "Cat. Du redest heute auffällig wenig." stellte Oliver fest und blickte mir tief in die Augen, doch bevor ich etwas entgegnen konnte, hob Henry den Kopf. "Lasst sie doch schweigen, wenn sie schweigen will. Bitte." sagte er und etwas flehendes lag in seiner Stimme. Oliver schaute finster, aber er beließ es dabei. Was sollte das nun wieder? Wir sollten nachher dringend reden. 

Das restliche Frühstück zog sich in die Länge, da ich nicht aufstehen durfte, bevor die Beamten fertig gegessen hatten und an diesem morgen ließ Oliver sich viel Zeit und hatte vor allem sehr großen Gesprächsbedarf, also hörten wir ihm schweigend zu, während er über die Qualitätsunterschiede der heutigen und der damaligen Handschellenverarbeitung predigte. "Also." sagte er, schmatzend und über beide Ohren grinsend. "Cat, deine Handschellen sind aus bestem Stahl, glänzend poliert und überaus strapazierfähig, nahezu unzerstörbar! Jedenfalls mit menschlicher Kraft." fing er an. Er erzählte und erzählte, bis Henry irgendwann aufstand. "Ich denke, die Frühstückszeit ist nun um. Cat muss gleich zur Selbsthilfesitzung. Wir würden dir zwar unglaublich gerne weiter lauschen, Oli, aber das überschreitet das Zeitlimit. Und meine Nerven. Sven, würdest du bitte das Tablett mitnehmen, das wäre sehr nett von dir." bemerkte er harsch und löste meine Handschellen von dem Tisch. Ich war ein bisschen perplex. Ich hatte heute gar keine Selbsthilfegruppe. "Äh.. Ja. natürlich." stammelte Sven, der mindestens genauso verwirrt war wie ich. "Danke." sagte Henry noch kurz, bevor er die Handschelle um sein Handgelenk klicken ließ und mich bestimmt und zügig in Richtung Ausgang begleitete. An der Tür zur Mensa standen zwei weitere Beamte, die das Geschehen beobachteten und uns mit skeptischem Blick ansahen, als wir in ihre Richtung spazierten. Ich drehte mich einmal kurz um und bemerkte, dass Aaron mich böse aus einer hinteren Ecke anfunkelte. Ich spürte seinen Blick auf mir ziemlich deutlich. Er hatte jetzt offenbar auch einen Beamten zugeteilt bekommen, das fand ich schon irgendwie lustig, da er sich vorher noch darüber lustig gemacht hatte. Was für eine Bullenhure. 

"Entschuldigung!" bellte der eine Beamte uns an. "Kollege. Wieso wollt ihr früher gehen? Es gibt noch zehn Minuten Frühstück."  Henry wirkte entschlossen. "Mein Häftling hat Migräne. Ich werde sie auf die Krankenstation und danach auf die Zelle bringen, sie braucht Ruhe." log er und zuckte mit seiner Seite der Handschelle. Ich vermutete, dass das bedeuten sollte, dass ich mitspielen soll. Also machte ich ein schmerzverzerrtes Gesicht. "Sie wird immer ganz unruhig und verunsichert damit die anderen Häftlinge, wenn sie Schmerzen hat. Ich denke, das kommt ihnen entgegen." führte er das Ganze aus und machte ein ernstes Gesicht. Der Beamte nickte. "Na, dann. Gute Besserung." fügte er hinzu und ich machte als Antwort nur ein noch schmerzerfüllteres Gesicht. Als wir uns ein paar Meter entfernt hatten und uns keiner mehr hören konnte, hakte ich nach. "Was war das auf einmal für eine Aktion?" Henry zögerte kurz, schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. "Ich war einfach nur genervt von Olivers Gerede, tut mir Leid. Ich hab echt schlecht geschlafen und absolut keine Lust auf so ein belangloses Geschwafel. Normalerweise macht mir das nichts aus, aber heute komme ich nicht damit klar. Und du hast den Anschein gemacht, als würde es dir ähnlich ergehen. Also dachte ich, ich könnte uns beide aus der Situation retten." Ich musste laut lachen. "Da liegst du vollkommen richtig." sagte ich und musste wieder laut anfangen zu lachen. Henry bedeutete mir, dass ich leiser sein soll, lachte aber auch in sich hinein und grinste mich breit an. 

In meiner Zelle angekommen, ließen wir uns beide erstmal wie nasse Säcke auf das Bett fallen und fingen so sehr an zu lachen, dass mir der Bauch weh tat. Das fühlte sich wirklich gut an. "So habe ich lange nicht mehr gelacht." sagte ich zögerlich und warf Henry einen flüchtigen Blick zu. "Ich auch nicht." antwortete er und grinste mich erneut an. Eine kurze Weile schwiegen wir und ich musste wieder an die Situation von gestern denken. "Ich muss dich was fragen." fing ich an und Henry sah mich aufmerksam an, sein Blick war entspannt und eigentlich war es doch dumm, diese lustige Stimmung damit aufs Spiel zu setzen. Aber ich musste es wissen. "Warum warst du gestern so aufgebracht, nach der Gruppensitzung?" Sein Blick verdunkelte sich. "Das ist schwer zu erklären. Und ich weiß nicht, ob dich das was angeht." erklärte er und damit stellten sich mir hundert neue Fragen. "Aber du weißt alles von mir, jedes Detail, jeden Fehler den ich begangen habe und jede Entscheidung die ich getroffen habe. Also, fast jede. Meinen ganzen Lebensverlauf und du willst mir nichtmal das erzählen? Schlimmer als das, was ich dir erzählen könnte, kann es nicht sein. Und wenn du willst, kannst du mich danach auch etwas privates fragen, was du noch nicht weißt, dann sind wir quitt." sagte ich und hoffte, dass er darauf eingehen würde. 

Er schwieg eine Zeit lang. Nervös tippte er mit dem Fuß gegen den Bettpfosten, dann sah er mich wieder aufmerksam an. Sein Blick erhellte sich und seine Augen funkelten freundlich. "Also gut, du Quengeltante." Ich musste lachen. "Der Grund, warum ich gestern so aufgebracht war, ist, dass ich Sandra von früher kenne. Genauer gesagt, ist sie meine Ex Freundin." erklärte er und ich war schockiert und belustigt zugleich. "Was?! Diese schrille Klugscheißerin ist deine Ex Freundin?" entwich es mir und ich schlug mir die Hand vor den Mund, weil ich wirklich nicht glauben konnte, dass das wahr ist. "Wieso schockiert dich das so sehr?" fragte Henry, er wirkte nachdenklich und ein bisschen verlegen, was für ihn eigentlich sehr untypisch war. "Weil.. weil.. Henry! Guck dir sie an und guck dir dich an! Ich bitte dich. Du bist absolut gutaussehend und lustig und charakterstark und die ist altbacken, hässlich und eine besserwisserische Wichtigtuerin. Hattest du da ne Geschmacksverirrung?" sprudelte es aus mir heraus. Ich konnte das einfach nicht für mich behalten. Er fing an zu lachen, sah mich kurz fragend an, wurde danach aber wieder ziemlich ernst. "Ja, anscheinend." sagte er, zog eine Augenbraue hoch und warf mir einen kurzen, freundlichen Blick zu."Gutaussehend also?" fragte er gespielt beiläufig, aber ich lachte nur und ignorierte es. "Und?" hakte ich weiter nach. "Es war komisch sie gestern wiederzusehen, nachdem wir uns 2 Jahre nicht mehr gesehen haben. Aber ich denke, das war auch gut so, denn sie hat mich nach den ersten 2 Minuten schon wieder genervt. Hat mir gesagt, dass ich besser hätte Pilot werden sollen oder sonst was anderes, aber dass der Beruf hier nicht zu mir passen würde. Was weiß die schon. Ich liebe diesen Beruf, was denkt sie wer sie ist, mir sowas zu sagen. Das hat mich einfach wahnsinnig wütend gemacht."

"Das kann ich sehr gut nachvollziehen.." sagte ich und dachte dabei an Aaron.


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