Teil 4

Am nächsten Tag holte Henry mich um 12 Uhr für die erste Anti -Aggressions Gruppenstunde ab. Da ich ja als "besonders gefährlich" galt, musste immer mein zuständiger Beamter, also Henry in meiner Nähe sein. Egal was ich tat, er war immer dabei.

Auch heute war es nicht anders. Er schloss meine Tür auf und trat herein. "Los geht's!" sagte er euphorisch, wahrscheinlich um mich aufzuheitern. Die Handschellen klimperten fröhlich an seinem Hosenbund, so als würden auch sie mich begrüßen. Er nahm sie ab, legte mir die eine Seite der Handschelle um mein Handgelenk und die andere an sein eigenes, um zu verhindern dass ich davonlief oder mich losreißen konnte. Ich verdrehte die Augen, "Muss das wirklich sein? Wo soll ich denn hinlaufen?" fragte ich mürrisch, doch Henry warf mir nur einen kühlen Blick zu und klickte die Handschellen zu. Trotzig zerrte ich an dem Metallriemen der Handschelle, sodass Henrys Arm zur Seite zuckte und er mit dem Handgelenk gegen die Tischkante stieß. Dann grinste ich ihn amüsiert an. Das war meine Art ihm zu zeigen, was ich von der Anti-Aggressionsgruppe hielt. Es war definitiv nicht die damenhafte Art, aber damit konnte ich mich eigentlich noch nie identifizieren und im Jugendvollzug wäre ich damit auch nicht weit gekommen.

"Warum hast du das gemacht?" fluchte Henry und rieb sich das Handgelenk. "War aus Versehen" murmelte ich und grinste ihn weiter an. Lachend schüttelte er den Kopf und zerrte mich aus der Zelle. "Benimm dich!" befahl er mir mit ernstem Blick, bevor er die Tür abschloss. Wir gingen den Flur entlang, in Richtung des B- Traktes, in dem die Gruppenstunde statt fand. "Was sonst?" fragte ich spöttisch, mit der Absicht, ihn ein bisschen zu provozieren. Nur aus Spaß natürlich. Denn der kam hier immer viel zu kurz, und Henry war die einzige Person, bei der ich wenigstens ein bisschen locker lassen und lachen konnte. Und das war definitiv besonders, denn Menschen, denen man Vertrauen schenken konnte, konnte man hier an einer Hand abzählen, so viel stand fest.

Er ging nicht auf meine Stichelei ein, obwohl er normalerweise immer einen Konterspruch parat hatte. Generell wirkte er die letzten Tage etwas angespannter als sonst, aber ich wusste nicht, ob ich ihn darauf ansprechen sollte, schließlich war unsere Beziehung ohnehin schon freundschaftlicher als erlaubt. Eigentlich durfte er nicht mehr Zeit mit mir verbringen, als es nötig war, jedoch hing er täglich bei mir auf der Zelle rum und beklagte sich über die anderen Beamten und über die Häftlinge. Einerseits tat er das, um seine Gedanken loszuwerden, aber manchmal glaubte ich, dass er mich einfach ein bisschen ablenken wollte.

Ich beobachtete ihn eine Weile von der Seite und mir fiel auf, dass seine Arme muskulöser geworden waren. Seine Brust war breiter geworden und sein Gang war aufrechter als sonst. Er trug seit einiger Zeit kein Gel mehr in den Haaren, sodass einige Haarsträhnen zur Seite abstanden. Sein Haar war schwarz, dicht und relativ kurz und ich fand schon immer, dass er selber ein Häftling hätte sein können. Auch von der Statur hätte er einen guten Kneipenschläger abgegeben. Aber sein Gesicht war freundlich und seine grünen Augen mit den Lachfältchen verrieten, dass er niemals jemandem absichtlich schaden würde. Ich beäugte ihn weiter skeptisch. "Seit wann trainierst du?" fragte ich neugierig. "Mal hier, mal da." antwortete er unverbindlich und ließ die Frage somit eigentlich offen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top