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„Marzia?", fragt ihre beste Freundin sie weinend. Storm hatte sie in den letzten Stunden mindestens dreihundert Mal angerufen. Okay, dreihundert Mal ist ein bisschen übertrieben, aber es waren wirklich viele Male. Marzia ist jedoch arbeiten gewesen und bei der Arbeit hatte sie ihr Handy auf stumm gestellt und in ihre Jackentasche verstaut, damit sie sich konzentrieren konnte. Nun hat sie Feierabend und steht vor dem Laden, um ihre beste Freundin zurück zu rufen. Marzia wundert es, dass Storm sie weinend anruft, denn so kannte sie ihre beste Freundin nicht. Storm weint nicht oft und wenn sie es tat, dann still, heimlich und alleine.

„Eis?", fragt Marzia. Sobald Storm dies befürwortet, geht Marzia noch einmal in den Laden zurück und kauft eine große Packung Schokoladeneis. Sie wusste zwar immer noch nicht, was vorgefallen war, dennoch konnte Schokoladeneis jedes Problem lösen. Nach ungefähr zehn weiteren Minuten, die die beiden telefonieren, kommt Marzia bei Storm Zuhause an und diese öffnet im großen Schlabberpulli und Jogginghose die Tür.

„Sind das nicht Lians Klamotten?", fragt Marzia, als sie gerade den roten Hörer auf ihrem Telefon gedrückt hatte, da Storm nun vor ihr steht. Dies holte nur noch mehr Tränen aus Storm hinaus.

„Was ist denn los, Süße?", fragt sie und nimmt Storm erst einmal in den Arm, bevor diese überhaupt die Tür schließen kann.

„Lian ist los", schluchzt sie.

„Was ist vorgefallen? Wollen wir uns erst einmal in dein Zimmer setzen?", fragt Marzia und schleift ihre Schuhe von den Füßen, um sich mit Storm auf ihr Bett zu setzen.

„Lian hat mich geküsst", erklärt Storm ihr.

„Nicht gut?", fragt Marzia.

„Ist das nicht offensichtlich?", fragt Storm und zeigt auf ihr Gesicht, welches völlig verschmiert ist. Sie war von gestern noch geschminkt gewesen und die Wimperntusche war nun verlaufen, sodass sie wie ein kleiner Pandabär aussah.

„Aber du magst Lian doch, oder?", fragt Marzia.

„Ja, aber als besten Freund. Und ich glaube, ich hab alles kaputt gemacht", erwidert sie.

„Wieso hast du alles kaputt gemacht?", fragt ihre Freundin sie.

„Weil er mir alles offenbart hat. Seine Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf und das einzige, was ich rausbringe ist, ich muss gehen. Ich hätte mich dem stellen müssen. Aber ich kann ihn nicht mehr anblicken, wenn ich weiß, was er für mich fühlt. Ich dachte immer, er mag mich. Einfach so. Er ist nicht wie die anderen Jungs."

„Storm. Es hat ganze neunzehn Jahre lang gedauert, dass er sich in dich verliebt hat. Ich finde, das kann man ihm nicht verübeln. Ich glaube, er wusste es eine lange Zeit selbst nicht einmal. Findest du es nicht mutig, dass er sich dem stellt, obwohl du seine beste Freundin bist und er denkt, er hätte niemals eine Chance bei dir? Es würde niemals etwas bei euch laufen. Er denkt, du bist besser. Er denkt, er ist es nicht wert"

„Tut er das wirklich?", fragt Storm. So traurig hatte sie noch nie geklungen.

„Ja, das tut er. Du gibst ihm aber auch allen Grund dazu"

„Was habe ich denn gemacht?"

„Du lachst, wenn er so etwas andeutet. Er denkt, dass du das schönste Mädchen im ganzen Universum bist. Du bist alles für ihn, du bist sein Universum", erklärt Marzia ihm.

„Und trotzdem tust du ihm so verdammt oft weh, ohne dass du es selbst bemerkst. Mit vielen deiner Kommentare. Wenn du bestimmte Dinge sagst"

„Aber was denn?", fragt Storm nun verzweifelt.

„Ich kann nichts Konkretes sagen. Aber er ist immer für dich da. Seit dem Tod deiner Mama. Er ist der einzige, der sich versteht und vermutlich auch der einzige, der dich jemals verstehen wird. Ich glaube, er ist das Beste, was dir je passiert ist. Wirf das nicht weg", versucht Marzia sie ein wenig in die richtige Richtung zu lenken.

„Kann ich dich fragen, was er genau gesagt hat? Du meintest, seine Wort gehen dir nicht mehr aus dem Kopf?", fragt Marzia, nachdem Storm eine Weile nichts mehr sagt.

„Und was ist, wenn ich dir sage, dass ich seit Tagen an nichts anderes mehr denken kann? Dass du im Kreis meiner Gedanken umherschwirrst. Die ganze Zeit. Dass ich dich am liebsten jede Sekunde lang küssen würde, aber mich die ganze Zeit zusammen gerissen habe. Du hast es doch gerade erst provoziert. Das hat er gesagt", antwortet Storm. Sie kriegt das Bild von ihm nicht mehr aus dem Kopf. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

„Wow. Das klingt überhaupt nicht nach ihm. Meint er, dass du den Kuss provoziert hast?", fragt sie. Storm nickt einfach nur.

„Und weshalb?", fragt Marzia.

„Weil ich wissen wollte, was mit ihm los ist. Er wirkte gestern traurig, aber er wollte nicht raus, mit der Sprache. Dann hat er gefragt, ob ich es wirklich wissen möchte. Als ich dies mit einem Ja beantwortete, hat er mich einfach geküsst. Weil eben das los war", erklärt sie sich.

„Hattet ihr nicht neulich schon so ein Gespräch, wo klar wurde, dass du keine Gefühle für ihn hast beziehungsweise, dass aus euch nichts werden kann?", fragt Marzia nun noch einmal. Storm hatte das Schokoladeneis inzwischen geöffnet und löffelte daraus.

„Ja, hatten wir. Aber wie du siehst, endet die ganze Scheiße nur noch im Streit. Vielleicht sollte ich ihm erst einmal aus dem Weg gehen, damit er sich entlieben kann und wir wieder klar kommen. Damit alles wieder normal werden kann", erklärt sie Marzia.

„So einfach geht das nicht. Du kennst ihn seit neunzehn Jahren. Er ist dein bester Freund. Lass das nicht kaputt gehen, Storm."


„Ich weiß aber nicht, was ich noch tun soll. Egal, was ich mache. Es ist falsch. Ich habe ihn nicht darum gebeten, sich in mich zu verlieben"

„Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt"

Nachdem Marzia sie mit dem Schokoladeneis alleine gelassen hatte, weil sie noch verabredet war, konnten Storms Gedanken sich nur noch um Lian drehen. Marzia hatte mindestens fünfzig Mal nachgefragt, ob man Storm wirklich alleine lassen könnte und ob sie wirklich gehen solle oder nicht doch da bleiben solle, um ihr seelische Unterstützung zu geben. Storm sitzt nun auf der Couch und zieht sich einen Liebesfilm hinein, um sich ausheulen zu können und sich alle Snacks, die sie Zuhause finden kann, in den Rachen zu schieben. Nachdem sie sich ausgeheult hat, beschließt sie zu dem Grab ihrer Mutter zu fahren. Sie schiebt das Fahrrad aus dem Schuppen und begegnet ihrem Vater.

„Alles okay, Spätzchen?", fragt dieser.

„Ja", lächelt sie ihn an. Inzwischen hatte sie sich abgeschminkt, sodass er eigentlich nichts merken sollte.

„Hast du geweint?", fragt dieser.

„Ja", gibt Storm zu, weil Lügen keinen Sinn gemacht hätte.

„Wo willst du denn jetzt hin?", fragt er.

„Zu Mom", erwidert sie.

„Wollen wir heute Abend Pizza bestellen und darüber reden?", fragt er sie.

„Ja, gerne", lächelt Storm und umarmt ihren Vater, bevor sie den Helm aufsetzt und davon radelt.

Als sie am Grab ankommt, steckt sie erst einmal die Blumen in die Vase, die sie auf dem Weg noch besorgt hatte.

„Hey, Mom. Ich wünschte, du wärst noch unter uns", beginnt sie zu reden.

„Ich habe ein riesengroßes Problem. Wahrscheinlich hast du es schon mitbekommen, weil deine Geisterfreunde da oben getratscht haben", lacht Storm.

„Es ist unglaublich, dass du mich zum Lachen bringen kannst, obwohl du noch nicht einmal unter uns bist oder ich dich je kennen lernen durfte"

„Jedenfalls, falls du es noch nicht mitbekommen hast, Lian hat mich geküsst und mir seine Liebe gestanden. Er kann es nicht lassen und ich bin einfach weggerannt. Ich habe Angst, unsere Freundschaft zerstört zu haben. Das zwischen uns kann nicht funktionieren, oder?", fragt sie in den Himmel. Auf einmal antwortet ihr jemand.

„Süße, dein bester Freund und du, richtig?", fragt die Stimme. Storm erschrickt und schreit kurz auf. Sie ist aus der Hocke aufgesprungen und dreht sich um. Hinter ihr steht eine alte, lächelnde Dame.

„Tut mir Leid, Kleines. Ich wollte dich nicht erschrecken und ich wollte auch nicht lauschen, aber ich denke du kannst den Rat einer alten Dame, wie deine Mutter es wahrscheinlich heute auch wäre, gebrauchen, oder?", lächelt sie. In ihrem Lächeln steckt so viel Liebe, dass Storm die Frau sofort ins Herz geschlossen hat, obwohl sie sie noch nicht einmal kennt.

„Weißt du, wenn ich hier heute besuche?", fragt sie. Storm schüttelt den Kopf, ihre Sprache ist verschlagen.

„Meinen Mann", erklärt die Dame und es ist so viel Trauer in ihren Augen, dass Storm am liebsten weinen würde.

„Das tut mir Leid"

„Das muss es nicht. Mein Mann und ich hatten die schönsten Jahre meines Lebens. Wir haben uns kennengelernt, als wir kleine Hosenscheißer waren. Wir haben alles zusammen gemacht und wurden beste Freunde. Bis er sich eines Tages in mich verliebte. Ich dachte zuerst, es kann nicht funktionieren, denn wir kannten uns doch schon so unglaublich lange und er war immerhin mein bester Freund. Ich wusste nicht, wie dies funktionieren sollte. Doch eines Tages küsste er mich, als wir am Strand bei einem Sonnenuntergang waren und in diesem Moment war es um mich geschehen. Ich wusste dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen wollte. Er war seit Kindertagen mein bester Freund und ich kannte ihn besser, als jeden anderen. So konnten keine bösen Überraschungen auf mich zukommen. Er kannte mich in-und auswendig, so wie ich ihn. Ich hatte nur noch nie erkannt, wie viel Potenzial er als meinen Freund, meinen richtigen Freund haben würde. Er war perfekt und ich liebte ihn von Tag eins an über alles. Ich habe es nur viel zu spät erkannt", lächelt sie. Während sie die Geschichte erzählt, laufen ihr Tränen über das Gesicht.

„Wieso haben sie es zu spät erkannt?", fragt Storm nun verwundert.

„Weil dies erst vor einem Jahr geschehen ist. Er hat mich nur geküsst, weil er Krebs hatte. Und in einem Stadium war, in dem ihm nicht mehr geholfen wurde. Es hätte mit uns funktioniert. Das weiß ich nun. Doch nun weilt er nicht mehr unter uns. Ich hätte mein ganzes Leben mit ihm verbringen können, jeden wundervollen Tag neben ihm aufwachen und neben ihm einschlafen können, ihn jederzeit küssen können, denn er ist verdammt gut darin" , grinst sie.

„Süße, mache nicht den gleichen Fehler, wie ich. Schnapp dir deinen Jungen", lächelt die Dame.

„Wow. Das ist eine wunderschöne, aber auch unglaublich traurige Geschichte. Danke, dass sie dies mit mir geteilt haben. Haben sie ihn im letzten Jahr auch noch geheiratet?", fragt Storm sie nun. Inzwischen hatten die beiden sich auf eine Bank gesetzt.

„Nein. Ich habe ihn vor einer Woche geheiratet. Danach ist er verstorben", sagt sie nun und holt ein Bild von den beiden heraus. Ihr Mann sitzt in einem Krankenhausbett und die beiden küssen sich. Sie hält den Ring in die Kamera. Nun tropft eine einzelne Träne auf das Bild.

„Was ist mit dir? Wann ist deine Mutter von uns gegangen?", fragt sie.

„Als ich geboren wurden bin"

„Oh, das tut mir Leid"

„Ja, mir auch. Mein Dad meistert das alles aber wahnsinnig gut. Ich liebe ihn sehr und wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde. Ich wünschte, ich würde meine Mutter auch kennen. Papa erzählt immer sehr viel von ihr. Ich soll wohl vieles von ihr haben", lächelt Storm.

„Erinnerungen von einem Menschen sind das Schönste, was man sammeln kann. Denn wenn man sich noch an den Menschen erinnert, ist er noch lange nicht gestorben. Du wirst deine Mama immer hier tragen und ich meinen Mann ebenfalls", sagt sie und zeigt auf ihr Herz.

„Ich muss mich jetzt aber beeilen, denn mein Mann mag es nicht, wenn man zu spät kommt", lacht sie. Die Frau hatte Zeiten, in denen sie bei ihrem Mann auftaucht. Sozusagen Besuchszeiten, die die beiden zu Lebzeiten ebenfalls hatten.

„Danke", sagt Storm noch einmal und umarmt die fremde Frau.

„Vielleicht sieht man sich ja Mal wieder", lächelt die Frau und winkt ihr noch einmal zu.

„Meinst du, das war ein wertvoller Tipp? Ich hätte sie gerne noch einiges gefragt. Woher weiß ich, dass ich Lian wirklich mag? Sie wusste es nach einem Kuss, aber den habe ich schon bekommen. Ich weiß es trotzdem noch nicht. Außerdem hat sie mir keinen Rat zu meinem Streit gegeben. Ich muss sie suchen gehen und sie noch einiges Fragen. Sonst komme ich mit meinen Problemen doch niemals weiter", erklärt sie dem Grab ihrer Mutter. Nach ein paar Stunden gibt Storm die Suche auf und geht wieder an das Grab zurück.

„Ich konnte sie nicht mehr finden. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt" Auf einmal merkt Storm, dass es in ihrer Hosentasche zu vibrieren anfängt. Sie bemerkt, dass sie drei verpasste Anrufe von ihrem Vater hat. Inzwischen ist es schon fast dunkel geworden und sie beginnt zu fluchen.

„Scheiße. Dad, es tut mir Leid. Ich bin auf dem Weg nach Hause", sagt sie und tritt in die Pedale.

„Hey, Süße. Alles okay. Ich vergesse bei Mama auch immer die Zeit. Die Pizza wird allerdings kalt, also wäre es wirklich besser, wenn du kommst. Pass auf dich auf, Ich hab dich lieb.", sagt er und legt auf. Storm tritt ordentlich in die Pedale, sodass sie bald Zuhause ankommt und dort erst einmal von ihrem Vater in den Arm genommen wird.

„Es gibt deine Lieblingspizza", grinst er sie an.

„Hawaii?", freut Storm sich.

„Ohne Schinken", grinst er sie an.

„Das hat der Lieferdienst gemacht?", fragt sie.

„Ich hab sie eben überzeugt und meinte, ich kaufe sonst woanders ein. Natürlich wollen sie nicht, dass ich bei der Konkurrenz einkaufe", grinst ihr Vater. Er konnte die Stimmung einfach immer auflockern.

Nachdem sie die halbe Pizza schon aufgegessen hatten, beginnt ihr Vater mit dem ernsten Teil des Gesprächs.

„Und, Storm. Was ist los? Geht's dir wieder besser?", fragt er sie.

„Die Pizza hat es wieder gut gemacht", lächelt sie.

„Wirklich?", fragt er.

„Nein. Mein ganzes Gehirn und auch mein Herz spielen verrückt. Ich weiß nicht, worauf ich hören soll und was ich hier eigentlich mache"

„Warum, was ist denn passiert? Was bedrückt dich?", fragt er.

„Lian hat mich geküsst"

„Na, endlich. Das wurde aber auch Zeit", grinst ihr Vater sie an. „Und was ist jetzt dein Problem?"

„Ich bin das Problem, Dad. Ich bin weggelaufen. Das zwischen Lian und mir kann doch nichts werden. Ich weiß nicht, wie daraus etwas werden soll. Wir sind seit Jahren beste Freunde"


„Daraus entstehen die besten Beziehungen. Wenn man vorher miteinander befreundet ist, hält es länger. Ist wirklich so. Achte Mal darauf. Marzia und Stean sind das beste Beispiel. Außerdem, was soll schief gehen?", fragt er.

„Dass er mich am Ende nicht mehr mag, weil ich zu anstrengend bin"


„Nach neunzehn Jahren? Das würde ihm aber spät auffallen"

„Dass es nicht funktioniert und wir unseren Freundeskreis zerstören"

„Das wird nicht passieren"

„Und, was wenn doch? Du bist kein Hellseher"

„Mom und ich waren auch im selben Freundeskreis und haben ihn nicht zerstört"

„Ja, Mum ist aber auch gestorben!", brüllt Storm nun. In letzter Zeit wird sie viel zu schnell wütend und kann sich nicht kontrollieren. Sie weiß selbst noch nicht einmal, weshalb dies so ist.

„Los, geh in dein Zimmer", wird nun auch ihr Vater lauter. Wenn er solche Kommentare über seine Frau, auch noch von der eigenen Tochter hört, dann ist der Spaß vorbei und sie kann sich gehackt legen. Inzwischen hatten die beiden ihre Pizzas aufgegessen und Storm schmeißt ihren Karton wütend in den Mülleimer, um daraufhin in ihr Zimmer abzuhauen. Sie wusste selbst, dass sie zu weit ging, aber sie war wütend. Sie war noch nicht einmal wütend auf ihren Vater, denn der tat alles dafür, sie glücklich zu machen, sich um sie zu kümmern und ihr das Best mögliche zu ermöglichen. Sie war sauer auf sich selbst und ließ es nun an anderen aus, was nicht fair ist.

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