4 - Briefe
Kälte. Es war das Erste was er spürte. Und er spürte es für eine sehr lange Zeit.
Die Erde unter seinen Fingern begann zu bröseln, als er seine starre Hand bewegte. Lord Holmes spürte etwas Wärme aus dem Boden in seine Fingerkuppen kriechen, durch die Adern in Arme wandern und ihn Stück für Stück wieder zum Leben zu erwecken. Seine Sinne erwachten, begannen den Nachtfrost zu spüren, das Krabbeln der Käfer zu hören, das Rascheln der Blätter wahr zunehmen und dann öffnete er die Augen.
Über ihm wehten Baumwipfel unter dem rötlich schimmernden Nachthimmel. Er war wohl einige Stunden abwesend gewesen, aber nicht genug, um die Wunden heilen zu lassen.
Der leere Geschmack in seinem Mund trieb ihn förmlich dazu aufzustehen und das nächste tierische Wesen zu verschlingen. Trotzdem konnte er sich nur sehr mühsam bewegen. Jedes seiner Glieder fühlte sich starr und steif an, dabei war sein Körper so blutleer, wie selten zuvor.
Es widerte ihn zwar an, aber um wenigstens etwas im Magen zu haben stopfte er sich ein paar Hand voll Erde samt Kleintiere und Wurzeln in den Mund. Er musste das widerliche Zeug fast wieder hochwürgen, aber es gab ihm einen Funken Kraft.
Taumelnd stemmte er sich gegen einen der Bäume und verschaffte sich einen Überblick über die Lage. Der Wald um ihn herum war still und unberührt. Abgesehen von seiner Schleifspur, die einen sichtbaren Weg durch das Unterholz zeichnete. Immerhin war es noch nicht Morgen, also konnten Menschenaugen die Spur kaum verfolgen. Der Lord brauchte etwas Zeit um sich zu orientieren. Gut, dass er es nicht bis zur Höhle geschafft hatte. Die Spuren zu beseitigen würde nur noch auffälliger sein, und so konnte sein Versteck mit größerer Wahrscheinlichkeit unentdeckt bleiben.
Es wunderte ihn, dass der Wald noch nicht in Flammen stand. Wahrscheinlich ist dieser Sir Graham Lestrade sofort informiert worden und plant seinen Angriff noch. So wie Holmes ihn einschätze würde er wohl eher die Watsons davon überzeugen zu fliehen anstatt das Leben mit einer Jagd aufs Spiel zu setzen. Es war eine Frage der Angst ob nach dem Monster gesucht wurde. Schließlich war es verwundet und Sir Lestrade wusste wohl einiges von Moriarty, am Ende hatte er noch eine ungewollte Überraschung auf Lager. Außerdem hatten die Watsons genug Freunde, die sie unterstützen würden den Wald zu durchforsten.
Lord Holmes zog die zerrissene Jacke aus und das blutige Hemd über den Kopf. Sofort begann er im herbstlichen Nachtwind zu frösteln. Doch viel wichtiger war was aus seinen Wunden geworden war. Vorsichtig tastete er den Oberkörper ab, bis seine dürren Finger über harte Krusten fuhren. Sobald er Druck ausübte spürte er wie sein Gewebe schwach aufschrie. Die handgroße Wunde hatte sich immerhin einigermaßen geschlossen, es war kein Loch mehr. Dafür hatte sich am Rücken eine Narbe gebildet. Doch er fühlte wie instabil seine Wirbelsäule war. Es war trotzdem ein Trost, dass sie wieder vollständig war, ohne fehlendes Gewebe. Der Schaden den der Dolch in ihm zurück gelassen hatte würde jedoch nur beseitigt werden können, wenn er bald etwas nahrhaftes zu essen bekam.
Es begann immer heller zu werden, doch der Lord war unentschlossen was er tun sollte.
Da heulte ein Wolf. Er musste im westlichen Teil des Waldes sein, weit weg von seiner Höhle. Eigentlich hielt er sich gerne von den Wölfen hier fern, denn die Rudel waren stark und er konkurrierte ungern in ihrem Gebiet. Aber etwas an dem Ruf gab ihm Hoffnung. Schleppend taumelte er von Baum zu Baum, dem Ruf hinterher. Etwas klägliches in dem Heulen ließ den Lord weiterlaufen, bis er die Tiere riechen konnte. Und Blut, frisches Blut. Er lugte hinter einem Baum hervor, und erkannte einen wunderschönen schwarzen Wolf. Das Tier zerrte an etwas herum und hielt kurzzeitig inne um einen Hilferuf los zu lassen. Er grub an etwas herum, dass der Lord nicht sehen konnte.
Er näherte sich. Sein Jägerinstinkt muss wohl ziemlich ausgeschöpft sein, denn der Wolf schreckte auf und spitzte die Ohren. Holmes hielt inne, doch konnte das Gleichgewicht nicht halten und stolperte nach vorne. Die beiden Jäger sahen sich direkt in die Augen. Das große Tier mit den wachen traurigen Augen, begann als erstes zu knurren. Doch es war kein Angriff, es war ein drohendes Signal. Er wollte etwas beschützen. Da entdeckte Holmes, was der Wolf die ganze Zeit über getan hatte. Unter einem Baumstamm eingeklemmt lag ein weiteres Tier. Graues Fell quoll unter dem gesplitterten Holz hervor. Der schwarze Wolf stellte seinen Posten ein und begann zu fiepen. Holmes sah zu ihm und verstand seinen Hilferuf. Vorsichtig näherte er sich den Fellhaufen am Boden und der Schwarze ließ ihn passieren. Als er den dicken Stamm anfasste, merkte er sofort, dass er es nicht schaffen würde ihn zu heben. Er hatte nicht einmal die Kraft sich zu verwandeln. Der Dunkle fiepte ihn kläglich an, also versuchte Holmes es andersherum.
"Ich drückte das weg und du ziehst ihn da raus, verstanden?" Auch wenn Holmes klar war, dass dieses Tier ihn weder verstehen noch antworten konnte lehnte er sich mit dem Rücken an das modrige Holz und zählte bis drei. Dann stemmte er sich mit allem was sein Körper noch zur Verfügung hatte dagegen. Der Wolf verstand und begann erst zu buddeln, dann als der Lord zu schreien begann biss er in das graue Tier und zerrte daran. Holmes merkte wie es feucht und warm seinen Bauch hinunterlief, und sein Rücken aufgeschabt wurde. Die Schmerzensschreie hallten durch den Wald und seine Finger wurde immer schwächer.
Da endlich war nichts mehr unter dem Stamm und er ließ los. Erschöpft fiel er auf die von Blättern übersäte Erde. Erst als ein leises Winseln zu hören war öffnete er die Augen und begann sich zu erheben. Er schaffte es zittrig in eine sitzende Position, wobei Sterne vor ihn her tanzten. Aber er roch etwas, an ihm. Der Lord hob die Hände zum Gesicht und sah wie aufgeplatzt sie waren. Blut lief in seinen Schoß, er versuchte es aufzufangen, er war so weit es sogar selbst zu trinken. Da stieß ihn der Wolf sanft mit den Schnauze. Unterwürfig sah er zu dem geschwächten Mann auf. Daraufhin kroch der Lord seufzend zu dem grauen Tier.
Wie vermutet war es ein weiterer Wolf. Nur sah dieser nicht mehr so toll aus, wie sein schwarzer Begleiter. Eine Delle offenbarte mindestens einen totalen Rippenbruch auf einer Seite, wenn nicht gar der ganze Brustkorb zersplittert war. In den abgeknickten Beinen steckten Holzstücke bis in die Pfoten. Mitleidig betrachtete Holmes den Wolf zu seinen Füßen. Als er eine Hand vorsichtig auf dessen Rücken legte spürte er das verklebte vor Dreck triefende Fell. Doch nicht nur das Fell war weich, sondern alles was er darunter ertasten konnte. Er verzog das Gesicht beim Gedanken an das Innere des Tiers. Da stach ihm der fremde Blutgeruch wieder in die Nase.
Er suchte, und fand.
Ein rot-brauner Striemen führte vom geschlossenen Auge über den seltsam geformten Kopf des grauen Wolfes auf den Boden. Das war das letzte Indiz für den Tod des großen Grauen. Der Lord ließ sich zurück fallen. Er wusste, dass er es nicht tun konnte, solange der Schwarze hier war aber er brachte es nicht zustande den Wolf weg zu jagen.
"Es hat keinen Sinn mehr."
Das dunkle Tier sah ihn mit den treuen Augen an und hörte auf seinen Begleiter an zu stupsen.
"Es wird nicht besser wenn du hier bleibst."
Oh nein. Gleich würde er ...
Ein klägliches Heulen erfüllte den Himmel und alles um sie herum.
Keine Minute später wurde es erwidert. Dumpf, rufend, ein Wolfsrudel.
Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Zu Holmes' Überraschung aber scharrte der Wolf kurz vor ihm im Boden, grummelte ihn an, machte kehrt und sprang die nächste Anhöhe hinauf. Mit einem letzten traurigen Blick machte sich das schöne Tier auf und davon.
Der Lord konnte es nicht fassen. Erst als er ganz sicher war nichts Lebendes im Umkreis wahr zu nehmen krabbelte er zu dem toten Wolf. Er hatte keine Zeit darüber nach zu denken, was alles passierte. Der Durst trieb ihn fast in den Wahnsinn.
Es war eine Ewigkeit her, dass er einen anderen Jäger ermordet hat, und diesmal war er es nicht einmal gewesen. Behutsam drehte er den Wolf zu sich hin, bis das unförmige Gesicht in seinen Händen lag. Er strich durch das struppige Fell von der feuchten Schnauze bis zwischen die Augen, wo er seine knochigen Finger liegen ließ. Er betrachtete das getrocknete Blut, die Erde und Blätter und all die Spuren der Nacht die darauf lasteten.
Er wollte Moriarty hassen. Dafür dass er es unmöglich gemacht hatte hier zu leben, wahrscheinlich überhaupt irgendwo zu leben. Er wollte ihn dafür hassen, dass er die Watsons ausgenutzt und gefährdet hat, dass er an ihrem Tisch saß, die Hände voll Blut und all die Jahre friedlich geschlafen hatte. Er wollte ihn dafür hassen, dass er seine ganze Familie auf dem Gewissen hatte und er ihn umbringen musste. Doch am meisten hasste er ihn dafür, dass er tot war. Denn nun konnte er es ihn nicht spüren lassen, was er ihm angetan hatte.
Der Lord hatte sich so in seine Gedanken hineingesteigert, dass er nicht gemerkt hat wie seine Finger in den leblosen Kopf des Wolfes eingesunken waren. Das war es doch was Moriarty gewollt hatte. Wenn er kein Monster sein konnte dann durfte es niemand sonst sein. Doch Lord Holmes ließ sich von ihm nicht in den Wahnsinn treiben. Schließlich war nicht seine ganze Familie tot. Er hatte noch Rosie. Im Glauben an sie konzentrierte er sich auf das hier und jetzt.
Mit einem widerlichen Knacksen brach er Tierschädel entzwei und legte Fleisch, Blut und Gehirn frei. Bevor er etwas tun konnte siegten die Instinkte und das Monster machte sich über seine Beute her.
Es dauerte nicht lange, bis Lord Holmes die letzten Knochen zerbrach und das Gelatine daraus sog. Blank geleckt lagen die letzten Überreste neben zerrissenem grauen Fell und der Haut, die sich nicht vom Fell trennen ließ.
Zufrieden lehnte Holmes an einem Baum und blinzelte in den immer heller werdenden Himmel. Zwar zog eine dunkle Wolkendecke über ihn hinweg, aber das Leben sah wieder ganz anders aus. In seinem Inneren rumorte es. Er konnte dabei zu sehen, wie seine Bauchdecke Stück für Stück zu wuchs, die aufgeplatzte Haut seiner Finger verheilte, die Blessuren verschwanden und seine Muskeln zu arbeiten begannen. Dieser Wolf hatte ihm sein Leben gerettet, obwohl er ihm seines nicht retten konnte. Welche Moral dahinter steckte war dem Lord heute egal. Sei es Schicksal gewesen, es zählte nur, dass er aufstehen konnte. Trotzdem noch etwas unsicher auf den Beinen lief er durch den Wald in Richtung Burg. Sollte er gesehen werde, hatte er genug Kraft weit weg zu laufen. Mit jedem Schritt wurde der Himmel über ihm dunkler und der Wolkennebel dichter. Als er den Waldrand erkannte begann es zu regnen und er verlangsamte sein Tempo. Wachsam wanderte er durch das Dickicht, um die Burg betrachten zu können.
Graue Schleier umgaben das große eckige Gebäude, sodass nicht einmal er etwas erkennen konnte. Kein Wagen fuhr über den Weg, kein Geräusch war zu hören. Es war totenstill. Holmes wusste nicht was er tun sollte, denn in die Burg konnte er nicht, aber einfach zu verschwinden und nie wieder kommen war auch keine Option.
Also saß er da, zwischen den Bäumen um die Lichtung herum und wartete. Der Regen durchnässte seine zerfetzten Kleider, spülte aber gleichzeitig das getrocknete Blut aus seinem Gesicht, von den Händen und seinem ganzen Körper. Es fühle sich gut an.
Auf einmal bewegte sich etwas im Nebel. Ein dunkler Schatten kam aus dem Nebelschwaden, der um die Burg herum waberte. Holmes wagte es nicht sich zu bewegen. Der Schatten wurde immer größer, bis ein Mensch in dunkelblauem Umhang zu erkennen war. Die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen, die Schuhe schwarz und vor Matsch triefend. Aber da war noch etwas. Eine Lichtreflektion, durch das Fehlen der Sonne kaum erkennbar. Als ihn und den Menschen nur noch einige Meter trennten erkannte er es. Der Lord löste sich aus seiner Starre, kam hinter den Bäumen hervor, woraufhin sich die Schritte der Person beschleunigten. Aber nicht von ihm weg, sondern auf ihn zu.
Die goldene Kette flog im Wind, es sah fast aus als würde die zierliche Person von ihren Mänteln verschlungen werden, anstatt dass sie sie vor dem Unwetter schützten. Der Lord verlangsamte seinen Schritt, um das Mädchen nicht um zu rennen, doch Rosie lief ihm geradewegs in die Arme. Der Schwung der Umarmung, riss ihn beinahe zu Boden doch er drückte sie zurück, hielt sie fest in seinen Armen.
Nach einer Ewigkeit ließ Rosie den Lord los. In den bauen Augen funkelten Tränen, die ihre blassen Wangen mit tiefen Augenringen hinunterliefen. Unordentlich klebten einige Strähnen durch den Regen in ihrem Gesicht, und der Mantel schien nicht mehr lange vor der Nässe zu schützen. Bevor sie etwas sagen konnte zog der Lord beide unter die schützenden Bäume. Zwar war es immer noch nass, aber es prasselte nicht mehr wie ein Hagelschlag auf ihre Köpfe. Holmes versuchte ihr die Tränen von den Wangen zu streichen, doch seine Hände waren so nass, dass ihr Gesicht am Ende noch feuchter war als zuvor.
Entschuldigend sah er sie an, doch Rosie strich ihm nur mit ihrem Ärmel die nassen Haare aus der Stirn.
"Ich hatte Angst um dich." wieder begann sie zu weinen.
"Schhhh ..." Der Lord versuchte sie zu beruhigen, doch so schön es auch war, sie bei sich zu haben, ihr Verschwinden würde in einer solchen Situation sicher bemerkt werden.
"Rose."
So viel übermannte ihn, wenn er ihren Namen aussprach. Rosie Watson, das kleine Mädchen, welches er schon auf dem Arm gehalten hatte, als die Watsons ihr jüngstes Mitglied stolz präsentiert hatten. Dass die kleinen blauen Augen ihn nur Jahre später so faszinieren würde hätte er nie gedachte. Sie hatte ihm das erste Mal das Gefühl von Frieden gegeben, ohne zuvor jemanden ermorden zu müssen. Seine ganze Welt wurde angehalten, die Zeit schien sich auf diese paar Tage zu konzentrieren, in denen sie sich so nahe gekommen waren. War sie nun sein Opfer oder er ihres und dadurch sie sein Feind? War es Liebe oder Familie, was er empfand?
Während ihm tausend Gedanken durch den Kopf rasten nah Rosie die Kette um ihren Hals und hielt sie ihm hin. Da der Lord sich nicht regte, nahm sie seine Hände, öffnete sie und ließ die Kette hineingleiten.
"Nimm sie."
Das Gold fühlte sich schwer und kalt an. "Ich habe sie ihm abgenommen, bevor ..." Rosie atmete tief ein, vollendete ihren Satz aber nicht. Der Lord lehnte sich vor, bis seine Stirn die ihre berührte. Sie saßen im nassen Gras, hielten sich an den Händen und spürten nur den Atem des anderen.
Der Regen ließ nach und sogar der Nebel zog sich langsam zurück. Doch das bedeutete nur eines: Abschied.
Er wollte es nicht, aber löste sich von der jungen Lady, ohne jedoch ihre Hände los zu lassen. Der Lord wusste nicht, wie er sie dazu bringen sollte zu gehen, wenn alles an ihm sie bei sich haben wollte. Als er es schließlich versuchte, war seine Stimme kaum ein Hauchen.
"Du musst gehen."
Rosie hatte es fast nicht verstanden, aber sie wusste, was die brüchige Stimme sagen wollte. Sie schloss die Augen und drückte sich näher an ihren Lord.
Ein letztes Mal schloss er sie in die starken Arme. Holmes hob sie hoch, als er selbst aufstand, um sich endgültig zu verabschieden. Je schneller sie es tun würden, desto weniger würde es schmerzen. Zumindest redete er sich das ein.
"Sie sind alle abgelenkt, niemand würde es merken wenn wir verschwinden ..." Zärtlich flehend dran ihre Stimme an sein Ohr.
Es war eine Mischung aus Lachen und Seufzen was der Lord von sich gab.
"Das geht nicht."
"Wo ein Wille, da ein Weg ..."
"Rosie, wir können nicht ..."
"Schon in Ordnung, ich weiß."
Sie sahen sich an, keiner sagte noch etwas. Für Holmes war klar was in der Burg los war. Er wusste, dass das ganze Land nach ihm suchen würde und nun jeder sein Gesicht kannte. Rosie würde ihr Leben leben und die Watsons wären wohl für immer traumatisiert. Das Einzige was ihn noch retten konnte war Zeit. Rosie hatte diese Zeit nicht.
"Lebe weiter. Ich wünsche dir das beste Leben, dass du leben kannst. Nachdem was ich dir angetan habe."
Rosie lächelte wieder ihr 'Du Idiot'- Lächeln "Nein, ich entschuldige mich bei dir."
"Tu das nicht. Wir haben uns wohl gegenseitig ruiniert."
Daraufhin mussten sie beide lachen.
Rosie hob den Kopf, nahm seinen in ihre zarten Hände und sah ihn so liebevoll an, wie er es immer in Erinnerung haben wird.
"Nein." flüsterte sie bestimmt. "Du hast meines bereichert.
Versprich mir, niemals aufzugeben. Das Schicksal hat etwas großes mit dir vor, wir wissen noch nicht was es ist, aber du bist nicht dafür bestimmt zu sterben."
Mit einem traurigen Lächeln zog sie ihn zu sich hinunter, bis sich ihre Lippen berührten. Holmes ließ sich auf den Kuss ein, zog sie zu sich, hielt seine Lady fest in den Armen. Seine Hände wanderten ein letztes Mal durch die goldenen Locken, während der Regen gänzlich verebbte.
Rosie löste ihre Hände von seinem Hals, ihre Nasenspitzen stießen fast zusammen.
"Vergiss mich nicht."
Damit ließ sie los, drehte sich um und lief zurück in den Nebel, der ihr zu Hause umgab.
Lord Holmes sah ihr hinterher, bis die grauen Wolken sie verschlangen.
"Das ist unmöglich." Mit einem Grinsen betrachtete er die Kette in seiner Hand. Nicht einmal die Zeit würde die Erinnerungen an Rosie Watson auslöschen können.
-
Der Lord wollte sich eigentlich sofort zurück ziehen, doch er konnte es sich nicht nehmen lassen, die Burg noch einmal im Tageslicht, in ihrer ganzen Pracht zu sehen.
Er prägte sich jeden Ziegel, jede Zinne genau ein. Er wollte sich an alles erinnern können. An seinen Heimatort, an dem er seinen Erzfeind getötet hatte. Eines Tages würde er die Auffahrt wieder hinauf schreiten und man würde ihn nicht verbrennen wollen. Vielleicht lohnte es sich, auf diesen Tag zu warten.
Als er seinen Blick schweifen ließ, fiel ihm etwas auf. Ein Schemel stand dort, wo er sich von Lady Watson verabschiedet hatte. Misstrauisch schlich er um den kleinen Hocker herum, tastete ihn von alles Seiten ab und stutzte. Er drehte die Beine nach oben und fand an der Unterseite der Sitzfläche ein Stück Papier eingeklemmt. Behutsam entfaltete er es und fand einen Briefumschlag, mitsamt Inhalt. Ein Brief von Rosie.
Mein Lord
Mein Vater schickt mich fort nach England.
Dort sei es sicherer für mich, solange Du noch frei bist.
Ich werde dich immer lieben.
Lebe wohl
Deine Rose
Holmes hielt das Stück Papier in den Händen. Was ihn jedoch mehr beschäftigte war dieser Stuhl. Hätte Rosie nicht vor ihm weitere Briefe zu schrieben, hätte sie nur einen Brief dort gelassen, anstatt einem Platz, zu dem man immer wieder zurück kommen konnte.
Also fand er sich kein halbes Jahr später wieder vor der Burg ein, den Schemel abtastend und wie vermutet, einen weiteren Brief findend.
Mein Lord
Es ist schön hier, in England.
Du verstehst wohl, dass ich Dir den genauen Ort nicht verraten werde. Du würdest mich so oder so finden, aber ich will nicht, dass Du mich suchst.
Der Wald neben der Burg würde Dir sehr gefallen.
Die Nächte sind klar und der Mondenschein hell wie an jenem Abend.
Ich will Dir vorlügen, dass ich nicht an Dich denken muss. Aber es ist nicht so. So viel wie es hier regnet, gilt jeder Gedanke unserem letzten Treffen.
Das Meer um mein neues zu Hause rauscht so wie der Wind in Deinen Locken und ich will mich in die Wellen stürzen, nur um wieder in deinen Armen zu liegen.
Antworte mir nicht, ich will Dich nur wissen lassen, dass es mir gut geht.
Und ich weiß, dass es Dir gut geht,
solange Du meine Briefe liest.
Deine Rose
Lord Holmes machte sich tatsächlich nicht auf den Weg nach England. Er kam dem Wunsch seiner Lady nach und stahl sich so oft es ging nach Schottland.
Es dauerte nicht lange, bis der nächste Brief zwischen den alten Holzscheiten steckte.
Mein Lord
Meine neue Familie traut mir, ich verhalte mich vorbildlich.
Trotzdem ist es kaum möglich Dir einen Brief zu hinterlassen, solange meine Eltern über mich wachen. Auch wenn alle so tun, als wäre ich in Sicherheit lebe ich unter der Strengen Bewachung eines ganzen Schlosses.
Dir muss aufgefallen sein, dass die Burg nun unbewohnt ist.
Meine Eltern wollen ihre Pläne umsetzten und mich zu einer eigenständigen Burgherrin machen. Das geht ihrer Meinung nach am Besten, wenn ich keinen Bezugspunkt zu Früher habe, keinen Fluchtpunkt. Den eigentlichen Grund kennen wir beide.
Du weiß wie sehr ich mich dagegen sträube einen anderen Mann an meine Seite zu nehmen.
Doch ich tue es trotzdem. Ich tue es für Dich.
Versprich mir dass ich es nicht um sonst mache.
Deine Rose
-
Mein Lord
Du verfolgst mich in meinen Träumen.
Ich kann sehen wie Du vor der Burg stehst und zu mir hoch blickst.
Du siehst mich und ich sehe Dich.
Ich erinnere mich an alles, Deine Stimme, Deine Augen. Jeden Tag zweifle ich mehr an meiner Entscheidung, ich hoffe Du bist stärker als ich. Besuche mich nicht, versprich es mir.
Du würdest mich nicht mehr erkennen.
3 Sommer verändern ein Kind.
Ich war ein Kind, doch ich bereue nichts.
Ich bin jetzt eine Lady, eine Burgherrin. In meinem Herzen sitzt nur Du an meiner Seite.
Sorge Dich nicht, ich werde gut behandelt.
Deine Rose
Lord Holmes schrieb niemals zurück. Das einzige was er hinterließ war eine Rose, und einen leeren Platz als Bestätigung, dass ihre Nachricht angekommen war. Nach zwei Jahren, in denen er sich mit allen Mittel zurück hielt nicht nach England zu laufen, fand er die Rose das erste Mal unberührt vor. Außerdem keinen Brief. Besonders nach dem Letzten fiel es ihm schwer, nicht zu ihr zu gehen und ihr Herz schlagen zu hören, ihr Blut zu riechen, ihre goldenen Locken zwischen den Fingern zu halten.
Ein paar Monate später kam er wieder, doch es war keine Nachricht unter jenem Hocker. Nicht in den Monaten darauf und nicht in denen darauf. Die Abstände vergrößerten sich und eines Tages sah der Lord in den Himmel, ein erlegtes Reh in auf dem Schoß. Die Sonne war gerade am Untergehen und er erinnerte sich daran wie lange er schon nicht mehr nach einer Nachricht gesehen hatte. Für ihn war kaum ein Tag vergangen, doch Rosie musste nun schon viele Jahre in England leben.
Also machte er sich erneut auf den Weg zur Burg.
Sie war kalt und verlassen, überwuchert von wilden Ranken. Er stand vor dem modrigen Holz-Schemel und versuchte zu erkennen ob er bewegt worden war. Bevor er sich weiter in Gedanken quälte drehte er den Hocker um. Tatsächlich: Ein Umschlag steckte zwischen den Holzbeinen. Er öffnete das zerknitterte Papier. An den Seiten von Feuchte und Ungeziefer-Spuren getränkt. Er musste schon länger hier sein. Als er den Inhalt las stockte ihm kurz der Atem. Der letzte Funken starb, seine Lady jemals wieder in den Armen halten zu können.
Mein Lord,
Es ist lange her, seit meinem letzten Brief.
Mein Leben hat sich verändert.
Aber das erkennst du so oder so an meiner Schrift und der Tinte, dem Papiergeruch oder meinen Worten.
Mein Herz habe ich Dir geschenkt und ich werde es niemals zurück fordern.
Im letzten Winter habe ich zwei Jungen das Leben geschenkt. Ich hätte sie gerne nach dir benannt, doch ich kenne nicht einmal einen Deiner Namen.
Sie haben beide meine Augen, sind stark und werden mich eines Tages sehr stolz machen.
Verzeih, dass ich nicht mehr oft von mir hören lassen werde.
In Liebe Deine Rose
Es dauerte viele weitere Jahre bis Holmes wieder nach einem neuen Brief sah. Er wurde immer besser darin Leute verschwinden zu lassen, ohne dass man sein Gesicht sah, oder ihn erkannte. Ab und zu schnappte er das ein oder andere Gespräch auf, in dem es über ein Monster ging, dass alle heimsuchen würde. Warnungen, wann man nicht auf die Straßen gehen sollte, Kindermärchen und die kuriosesten Erfindungen, bekam er zu hören. Bei den Kinder hieß er der schwarze Mann, die Jäger nannten ihn Wolf und manche hauchten auch nur ängstlich "Der Tod.". Einmal lauscht er den Gespräch zweier Matrosen, die ihn über See brachten, wie sie von Bedrohungen auf See sprachen. Als er jedoch bemerkte, dass die schwarze Meerjungfrau mit Wolfsklauen in ihren größten Albträumen er sein sollte, war es selbst dem Lord zu viel. Die Crew durfte ihrem ärgsten Schauermärchen direkt ins Gesicht sehen, wobei es wohl eher "Der Tod" war, als eine Meerjungfrau, was sie letztendlich ereilte.
Lord Holmes war trotzdem überaus überrascht, als er einen Brief zwischen dem Holz fand.
Mein Lord
Meine Eltern haben diese Welt verlassen.
Ich bringe diesen Brief persönlich. Wenn Du mich gesehen hast, aber nicht angesprochen, dann sicher, weil Du mich nicht erkannt hast. Ich kann das verstehen.
Eine Lady, gezeichnet von Alter und vier Kindern.
Erinnerst du dich an die Kette, die ich dir gab? Ich habe ein Duplikat anfertigen lassen. Mein Ehemann hat es mir geschenkt zu unserer Hochzeit. Ich wollte dass es genauso aussieht, wie das Original. So wirst du meine Familie immer erkennen.
Ich liebe meine Kinder, doch werde ich nicht für immer für sie da sein können. Ich weiß, dass es viel verlangt ist. Ich hoffe trotzdem, dass ich auf Dich zählen kann.
Sie kennen Dich sogar, aus Geschichten. Ich weiß nicht wo Du in den letzte Jahren warst, aber in England erzählt man den Kindern, sich vor dem Lord der Nacht in Acht zu nehmen. Er schleicht um deine Burg herum und frisst schöne Burgdamen. Meine Kinder treten jedem Fremden mit Misstrauen entgegen. Ihre Nanny kann mich nicht leiden, weil ich den Kindern immer von den gütigen, liebenswerten Seiten ihres Monsters erzähle.
Der eine Teil deines Lebens ist nun eine Geschichte, mache aus der anderen Hälfte ein Leben.
Deine Rose
Es dauerte einige Zeit, bis der Lord alles verstand, was Rosie ihm mitgeteilt hatte. In Angst sie hätte eine unterschwellige Todesvorhersage gemacht, fand er sich alle paar Monate wieder vor der Burg ein. Er machte sich gar nicht mehr die Mühe weit weg zu reisen, sondern pilgerte unentdeckt durch Schottland.
Doch es kam kein Brief. Nach den ersten Monaten beruhigte sich der Lord, der mittlerweile eher ein Streuner als ein Lord war. Seine Kleidung machte er aus dem Fell seiner Opfer, wobei er hin und wieder das Hemd eines Mannes stahl. Nur waren diese meistens kleiner als er, weshalb er noch schäbiger aussah. Seine Locken ließ er genauso wie den Bart wachsen, sodass man ihn kaum erkannte. Mit einer zusätzlich leicht gekrümmten Haltung sah er aus wie ein Bauer, oder einfacher Pilger, der kein Aufsehen erregte.
Als die Jahre vergingen zog ihn immer mehr die Sorge zurück zur Burg. Doch er erhielt keine Nachricht. Um sich abzulenken zog er doch noch einmal in den Süden, und erfuhr zu seiner Überraschung von Jeanne, mittlerweile bekannt als Jeanne D'Arc, die England in die Flucht geschlagen hatte. Dass sie daraufhin verbrannt wurde, trübte Holmes' Gedanken wieder und so machte er sich ein letztes Mal auf, in seine Heimat. Wenn jetzt kein Brief von ihr dort sein würde, würde er nach England reisen.
Der morsche Hocker war umgedreht. Er lag das erste Mal anders da als sonst. Und noch etwas war nicht normal: Eine verdorrte Rose lag auf den Umschlag zwischen den Stuhlbeinen.
Hastig riss er den Brief aus dem dreckigen Papier und las Rosies zittrige Handschrift.
Mein Lord
Dies wird mein letzter Brief sein.
In keinem der 43 Winter habe ich Dich vergessen können. Und wären es noch einmal so viele, würde ich Dich nicht vergessen wollen. Ich werde mit diesem Gedanken und deinem Bild vor meinen Augen einschlafen.
Achte auf meine Kinder, beschütze sie. Versprich es mir.
Ich habe die Kette an einen von ihnen weitergegeben und eines Tages wird sie zu Dir zurückkehren.
Die ist nun mein Abschied, lebe wohl.
In Liebe für immer
Deine Rosie
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