033. Schiefer die Glocken nie klingen
ᵃ ᵈᵉᶜᵉᵐᵇᵉʳ ᵗᵒ ʳᵉᵐᵉᵐᵇᵉʳ
Das zauberhafte an Magie war, die Trostlosigkeit eines schneematschigen Weihnachtmorgens in das bemerkenswerteste Schneegestöber-Winterwunderland verwandeln zu können.
Pudrig und glitzernd weiß funkelte der Schnee in der früh aufgehenden Sonne, während sich James zusammen mit seinem Vater daran machte, den größten Schneemann zu bauen, der je gebaut worden war.
Schon nach der ersten großen Kugel, verlor der junge Potter jedoch das Interesse. Es war einfach viel witziger, seinen alten Herrn mit Schneebällen zu berwerfen, während dieser artig weiter baute.
Euphemia Potter stand unterdessen in der Küche. Zusammen mit den Hauselfen kreierte sie eine ihrer Weihnachtsspezialitäten - Schneeküsse.
Für James gab es zu Weihnachten kaum etwas Köstlicheres.
Als ein weiterer Schneeball Fleamont am Kopf traf und seine Haare dabei so verwuschelte, dass sie ihm steif vom Kopf abstanden, streckte Marlene McKinnon ihr Gesicht aus der Tür, die von der Veranda zurück ins Haus führte und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, der James' Blut beinahe zu Eis gefroren hätte.
»Merlin! Willst du mich zu Tode erschrecken?«, schimpfte James außer Atem und ließ gleich einen zweiten Schneeball durch die Luft fliegen, der Marlene nur verfehlte, weil sie sich unter ihm hinweg duckte. Der Schneeball prallte gegen die Glastür und rieselte pudrig zu Boden.
Marlene staunte nicht schlecht über den Schnee. »Hier sieht es ja toll aus! Da draußen gibt es nichts als Matsch.«
Grinsend deutete James auf den riesigen Schneemann. Er ragte nun schon über ihre Köpfe hinweg und trug ein breites Kastanienlächeln im Gesicht. »Ich habe den größten Schneemann der Welt gebaut!«
Fleamont räusperte sich.
»Wir haben den Schneemann gebaut«, korrigierte James grinsend.
Marlenes Mundwinkel zuckten nach oben. »Für mich sieht es aus, als würdest du hier eher einen Störfaktor darstellen, als groß eine Hilfe zu sein.«
Ein weiterer Schneeball flog in ihre Richtung und sie lachte. »Hey! Ich sage nur die Wahrheit!«
»Achtung! Gleich kommt der Nächste.«
Sich endgültig aus dem Türrahmen lösend, warf Marlene ihre gemusterte Umhängetasche mit den vielen Fransen in eine Ecke und duckte sich hinter einen der durch den Winter kläglich aussehenden Rosenbüsche. Blitzgeschwind formte sie die Kugeln, lugte über das Geäst hinweg, zielte und schleuderte den Schneeball mit solcher Wucht, dass er James im Nacken traf, als sich dieser gerade aufgerichtet hatte, um zum Gegenangriff auszuholen.
»Hey!«
»Ich verabschiede mich aus der Schusslinie ihr zwei«, lachte Fleamont, nachdem James Schneeball ihn nur um Millimeter verfehlt hatte. Mit den Händen über dem Kopf eilte er zurück ins Haus.
Mit dem Zuschlagen der Verandatür war die Schlacht eröffnet.
Schneebälle flogen so schnell durch den Garten, dass es einem Blizzard gleich kam.
Die zwei Kinder lachten und riefen sich immer dann Beleidigungen zu, wenn sie mit voller Wucht getroffen wurden.
»Bei Merlins blauen Socken!«, schimpfte James. Der Schnee hatte ihn nun schon zum siebten Mal genau im Gesicht erwischt.
»Du bist halt zu langsam!«, flötete Marlene und führte einen kleinen Siegestanz auf, wobei sich ihr rostrotes Haar aus dem Pferdeschwanz löste und ihr breit gefächert über die Schultern fiel. Energisch strich sie sich die Strähnen aus der Stirn. »Ich schwöre bei Professor Dumbledores Bart, dass ich mir diese Fransen irgendwann abschneide, auch wenn es meine Mutter ins Grab bringen wird.«
James schnaubte.
Marlene war noch immer mit ihren Haaren beschäftigt und James nutzte den Moment, um ihr gezielt einen Schneeball mitten ins Gesicht zu werfen. Marlene schrie. »He! Unfair, Potter!«
»Konzentrier dich auf's Spiel, McKinnon!«
»Der nächste Ball, der trifft, entscheidet.«
»Dann mach dich schon mal aufs Verlieren gefasst!« James hatte die Worte kaum ausgesprochen, da raste die Schneekugel schon auf ihn zu. Er wollte sich wegducken, doch seine Turnschuhe rutschten über das plattgetretene Eis am Boden, er landete im Schnee und entkam Marlenes Angriff um einen Fingerbreit. Der nächste Schneeball folgte jedoch und traf ihn an der Schulter.
»Nimm das, Potter!«
»Man greift niemanden an, der am Boden liegt! Das ist unmoralisch.«
Marlene zuckte mit den Schultern. »Ich hab gewonnen. Akzeptieren und weiterziehen ist jetzt angesagt.«
»Red nicht wie ein Slytherin.«
»Heul nicht wie ein Hufflepuff.«
James, der immer noch im Schnee lag, rollte sich auf den Rücken und begann zu lachen. Marlene stimmte mit ein und ließ sich neben ihn fallen.
»Gutes Spiel, McKinnon.«
»Dito, Potter.«
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»Chestnuts roasting on an open fire
Jack Frost nipping at your nose
Yuletide carols being sung by a choir
And folks dressed up like Eskimos
Everybody knows a turkey and some mistletoe
Help to make the season bright
Tiny tots with their eyes all aglow
Will find it hard to sleep tonight...«
Besteck kratzte über das Porzellan, Gläser klirrten, während im Hintergrund leise das Muggelradio vor sich her musizierte und ein Weihnachtslied nach dem anderen ertönte. Gesprochen wurde nur wenig.
Präsentiert auf einer hübschen Anrichte stand der Festtruthahn, brutzelnd und braun, angerichtet mit bunten Salaten, Plumpudding und einer Vielzahl von Soßen.
Peter hatte nach wie vor keinen Hunger. Er stocherte mit seiner Gabel bloß lustlos im Essen herum, schob den Teller schlussendlich einfach von sich, ohne auch nur einen Bissen probiert zu haben.
Mrs. Pettigrew bemerkte davon nichts. Ihr Augenmerk galt dem leeren Stuhl an der Kopfseite des Tisches zu ihrer Linken.
Das Essen war vor etwas mehr als einer Stunde aufgetischt worden und Mr. Pettigrew saß noch immer in seinem Büro, er machte keine Anstalten das Zimmer zu verlassen und sich zu seiner Familie zu gesellen.
Peter hätte gerne mit ihm getauscht.
Wilma und Simon tuschelten ihm gegenüber schon seit Beginn des Abends, immer wieder warfen sie ihm vorwurfsvolle Blicke zu und zogen hässliche Grimassen, um ihn zu veralbern.
Als sich Peter - ungeschickt wie er nun einmal war - mit der Bratensoße im Schoß bekleckert hatte, war Simon vor Lachen beinahe vom Stuhl gefallen und Wilma hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. Doch ihr Gelächter war in der kläglichen Stille, die den Raum erfüllte, schnell verebbt und sie hatten sich damit zufrieden gegeben, ihn nur noch im Stillen zu verurteilen.
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Mit gefrorenen Händen in ihren Manteltaschen schlenderten James und Marlene über den Weihnachtsmarkt in Godrics Hollow.
Seinen Eltern hatten sie versprochen zum Essen wieder zurück zu sein, doch James wollte noch nicht nach Hause gehen.
Er hatte seine Eltern vermisst, sehr sogar. Doch jetzt vermisste er seine Freunde fast noch mehr.
Auf die Einladung von Euphemia und Fleamont, Marlene könne mit ihnen zusammen den Heiligabend verbringen, musste diese absagen.
Ihre Eltern und Geschwister erwarteten sie pünktlich um halb acht zurück.
Es war viertel vor...
Marlene hatte sich bei James untergehakt, beide mit Zuckerwatte und gebrannten Mandeln bewaffnet, gingen sie zwischen den Buden und kleinen Häusern die Hauptstraße entlang. Überall funkelten Lichterketten und Kerzen im trüb erleuchteten, warmen Lichtschauer. Über ihnen glitzerten die Sterne schon am Nachthimmel und der verführerische Duft nach heißem Orangensaft, Zimt und Schokolade erfüllte die Luft.
Sie seufzte schwer. »Der Winter ist immer so wunderschön. Und Weihnachten ganz besonders.«
Mit einer Hand voll gebrannte Mandeln im Mund antwortete James: »Ischagsebilenunsenlifa.«
Marlenes Augenbrauen bildeten fast eine durchgezogene Linie. »Ab 50 Gramm wirds undeutlich. Schluck runter und versuchs nochmal.« Sie grinste.
James räusperte sich und wiederholte: »Ich mag die vielen bunten Lichter. Sehen hübsch aus.«
Marlene nickte. »Hast du dich auch schon gefragt, wie Weihnachten wohl in Hogwarts wäre? Es muss bestimmt toll sein.«
»Weiß nicht. Ist doch irgendwie traurig, wenn man Weihnachten nicht mit der Familie feiert.«
»Hm«, Marlene zuckte mit den Schultern. »Manchmal könnte ich auf meine Familie gut verzichten...«
»So schlimm sind sie nicht.«
»Das sagst du nur, weil Eliana hübsch ist und du Garret bis auf den Tod verehrst.«
James grinste. »Thomas ist auch ganz cool. Und dein Dad ist super nett.«
»Und meine Mum?«, fragte Marlene provozierend. Sie wusste wie James auch, dass ihm zu ihr kaum ein nettes Wort einfallen würde.
»Sie ist...«, er überlegte fieberhaft, »...deine Mum - also irgendwie dafür verantwortlich, dass du ganz in Ordnung bist.«
»Ganz in Ordnung?!« Marlene schlug ihm spielerisch gegen die Schulter. Er lachte.
Von einem der Stände drang leise Weihnachtsmusik herüber und die Uhr im Kirchturm schlug zur vollen Stunde.
»Es ist acht«, stöhnte Marlene.
»Wann solltest du daheim sein?«
»Vor einer halben Stunde.«
James griff ihre Hand und begann die Straße zurück zu rennen. Die Zuckerwatte warf er im Vorbeieilen in eine der Mülltonnen, die Mandeln steckte er ein. »Komm, alles unter 40 Minuten ist noch pünktlich!«
Marlene ließ sich mitziehen und zusammen rannten sie den Hügel wieder hinauf.
Er zu einem Weihnachtsfest der wundersamsten Traumwelt und sie zu einem Festessen, das mehr an Halloween würde erinnern...
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Remus hatte geglaubt, er würde den Heiligabend mit seinen Eltern verbringen, er hatte geglaubt, er würde seiner Mutter in der Küche helfen den Braten anzurichten und mit seinem Vater den Baum aufstellen.
Zusammen würden sie ein bescheidenes Festmahl genießen und anschließend eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa vor dem Kamin sitzen und der Stimme eines von Mums Lieblingssängern lauschen, während dieser mit einer tiefen Bassstimme ein Weihnachtslied nach dem anderen anstimmen würde.
Nie im Traum hätte Remus sich ausgemalt, Weihnachten mit zwölf Waisenkindern zu feiern, von denen er nicht einmal alle Namen kannte.
Zu Feier des Tages hatte Krii angeordnet, die Schlafstätten beiseite zu schieben und sich mit leeren Kisten aus dem alten Lagerhaus eine Art Tisch zu bauen, an dem sie sich entlang hinsetzen konnten.
Krii selbst, versuchte so viel zu helfen, wie er konnte, doch sein linker Arm, der nun in einer Schlinge steckte, nachdem Jo angedroht hatte, sie würde nie mehr ein Wort mit ihm reden, wenn er sich nicht helfen lassen würde, hinderte ihn daran, großartig mit anzupacken.
Als die Turmuhr 20 Uhr verkündete, hatten sie sich alle um die Kisten versammelt und bei den Händen gegriffen, um ein Tischgebet aufzusagen. Jeder ein eigenes und jeder in seiner bevorzugten Sprache und Religion.
Remus kannte keine Gebete, Psalme oder etwas Derartiges und so wünschte er sich im Stillen bloß, dass er seinen Weg zurück nach Hogwarts finden würde, um sich mit seinen Freunden zu vertragen.
Darauf folgte das Festmahl und obwohl es nicht mit der Völlerei in Hogwarts mithalten konnte, war es doch beachtlich, was die Kinder in den letzten 24 Stunden hatten auftreiben können und Remus wollte sich überhaupt nicht fragen, wie sie an all das herangekommen waren.
Es gab gepökeltes Fleisch, einen halben Truthahn, Kartoffeln, jede Menge rohes Gemüse und noch einiges mehr.
Remus nahm sich eine halbe Paprika und etwas von dem recht blutigen Rindfleisch und aß im Stillen.
Er hatte nicht viel hierzu beigetragen. Krii wollte nicht, dass Remus sich in ihre Angelegenheiten einmischte und eventuell Schwierigkeiten bekommen könnte, wo er doch noch gar nicht entschieden hatte, ob er zu ihnen gehören wollte.
So hatte Remus die meiste Zeit nur damit verbracht, in seinen Schulbüchern zu lesen und sie immer dann zuzuschlagen und zu verstecken, wenn ihm jemand näher kam als drei Schritte.
Sie hielten ihn für einen Schwächling und, das wusste er von Phil oder Cargohose, wie Remus ihn immer noch gerne heimlich nannte, machten ihn teilweise dafür verantwortlich, was mit Krii passiert war. Remus konnte es ihnen nicht verübeln.
Er zog sich nach dem Essen zurück. In der Nacht zuvor hatte er ein Lagerregal gefunden, das schräg vor einer Nische in der Wand platziert war. Die Nische war so versteckt, dass man sie nur sehen konnte, wenn man direkt im 90° Winkel daraufzusteuerte und das war durch die anderen Regale beinahe unmöglich.
Mit einer der Taschenlampen und seinem Buch für Verteidigung gegen die dunklen Künste kroch er in das Loch und begann zu einem der vorletzten Kapitel zu blättern, von denen Professor Thorburn gemeint hatte, sie wären erst für die zweite Klassenstufe geeignet.
In die Kapitel über Schockzauber vertieft, bemerkte er gar nicht, dass ihm jemand gefolgt war.
»Hey.«
Remus stieß sich vor Schreck den Kopf an der Wand an, ließ das Buch und die Taschenlampe fallen und hechtete so eilends herum, dass er dem Ankömmling beinahe ins Gesicht geschlagen hätte.
»Woah, Remus«, lachte dieser.
Zwei dunkle Augen, fast schwarz, strahlten ihm belustigt entgegen.
»Cory?« Remus' Herzschlag beruhigte sich wieder.
»Sorry, ich wollt' dich nicht erschrecken.«
Remus wollte antworten, hast du nicht, doch es gäbe wohl kaum etwas Unglaubwürdigeres, was er in jenem Moment hätte von sich geben können. Krii würde ihm vermutlich sogar eher abkaufen, dass er ein zaubernder Werwolf war.
Sich am Regal vorbeizwängend schlüpfte Cory Krii zu Remus in die Nische und ließ sich neben ihm nieder.
»Ich hasse Weihnachten.« Er sagte es, wie jemand sagen würde, dass er kein Freund von Schneematsch wäre. Als bedrüfe es keiner Erklärung, es war eine Tatsache, die ein jeder nachvollziehen konnte. Remus nicht.
»Aber wieso? Ich meine, -«, er wusste selbst nicht, wie er diesen Satz beenden sollte, ohne dass es komplett erbärmlich klang.
All das, was er an Weihnachten liebte, hatte er in dem Moment weggeworfen, als er seinen Eltern nicht gesagt hatte, dass er über die Ferien nach Hause kommen wollte.
Cory lächelte schwach.
»Ich mach das hier für die Kids. Sie vermissen Weihnachten bei ihren Familien. Sie haben niemanden außer uns. Aber ich hab es immer schon gehasst.«
Der Arm in der Schlinge lag ihm auf dem Schoß und das angeschwollene Gesicht sah im Schein der Taschenlampe noch schlimmer aus.
»Es tut mir leid.« Remus deutete auf seine Schrammen und Blutergüsse. »Ich wollte nicht, dass das passiert.«
Cory griff mit seiner recht Hand nach Remus' Schulter. »Nicht deine Schuld. Hör mal, es ist wie Jo gesagt hat, ich kann einfach meine Klappe nicht halten. Mach dich nicht verrückt deswegen und ignorier einfach was die anderen sagen. Es sind Idioten, wenn du mich fragst. Phil im Besonderen. Hab den Kerl nur aufgenommen, weil er mir leid getan hat. Jetzt ist er halt einer von uns.« Cory grinste. Die fehlenden Zähne gaben dem Ganzen etwas Groteskes.
Stumm saßen sie einen Moment da und sahen sich nur an. Remus' konnte die Zahnräder in Corys Hirn rattern sehen und auch er selbst überlegte krampfhaft, was er sagen könnte, um die Stille zu übertönen.
»Wieso hasst du Weihnachten?« Es war das einzige, das ihm in den Sinn gekommen war.
Cory schmunzelte. »Aus dem gleichen Grund wie alle anderen. Ich weiß es besser.«
Remus runzelte die Stirn.
Krii fuhr fort: »Als Kind glaubst du noch an Magie, an Santa Clause und den Zauber der Weihnacht. Irgendwann wachst du auf und merkst, es ist alles eine Lüge.« Weil Remus noch immer nicht überzeugt aussah, redete Cory weiter. »Ich war vielleicht fünf Jahre alt gewesen, als mein Vater, er hat damals schon immer viel zu viel getrunken, mir gesagt hat, der Weihnachtsmann und sein Gehilfe würden kommen und den artigen Kindern geschenke bringen, die Unartigen bekämen vom Knecht Ruprecht mit der Rute den Allerwertesten versohlt. Meine Mutter hatte damals den Nachbar bestochen, für mich und meine Geschwister den Weihnachtsmann zu spielen und als er durch die Tür kam, hatte ich panische Angst vor ihm. Meine älteren Schwestern mussten sich bei ihm auf den Schoß setzen und etwas wünschen. Damals hab ich es nicht verstanden, wieso er so begeistert ausgesehen hatte, heute schon...« Remus verstand nicht, was er meinte, doch Cory schien das nur recht zu sein. »Als ich an der Reihe gewesen wäre, hab ich mich geweigert, ich wollte das nicht und mein Vater hatte im Rausch die Gerte aus dem Keller geholt. Margot, meine älteste Schwester ist damals in den Ferien immer eine Freundin auf dem Reiterhof besuchen gewesen, obwohl wir kaum Geld hatten. Jedenfalls hielt er es für witzig, mich mit der Gerte bis hinaus in den tiefen Schnee zu jagen. Ich hatte nur meinen Pyjama an, keine Socken oder Schuhe. Alles brannte vor Kälte. Ein Jahr später ist er gestorben und wir hatten noch weniger Geld. Mutter erwartete dennoch, dass wir uns gegenseitig zu Weihnachten beschenkten. Mit neun Jahren, meine älteste Schwester war vor kurzem verheiratet worden, hatte Mutter den Truthahn im Ofen vergessen. Heiligabend brannte unser Haus nieder, am Weihnachtsmorgen brachte sie mich ins St. Patricks Waisenhaus. Sie hatte keine Bleibe mehr, musste bei unserem Nachbarn unterkommen, meine andere Schwester konnte bei Margot bleiben. Ich war einer zu viel und hatte meiner Familie sowieso immer nur zu viel Ärger bereitet.«
Remus schluckte schwer.
»Schiefer die Glocken nie klingen, oder?«, feixte Krii, das Weihnachtslied schief anstimmend.
Vor dem Lagerhaus wurde es lauter.
Über der Nische war ein kleines Gitterfenster eingelassen, durch das man den alten Kirchturm beobachten konnte. Gerade eilten die Menschen zur Christmette, sie trugen alle ihre besten Sonntagskleider. Die Familien gingen Arm in Arm durch die schweren Türen, während Orgelmusik ihr Eintreten Willkommen hieß.
Remus stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Krii war groß genug.
»Ach schön, s' ist bald Vollmond. Da kann Reese nie schlafen, wird wieder anstrengend.«
Doch Remus hörte ihm nicht mehr zu.
Wie hatte er das vergessen können?
Wie hatte er nur eine Sekunde lang vergessen können, dass er nicht hier bleiben durfte? Dass in wenigen Tagen der Vollmond am Himmel thronen würde und er damit jeden hier und überall in London in größte Gefahr brachte?
»Ich muss nach Hause.«
»Was?« Als hätte Remus ihm ins Gesicht geschlagen, fuhr Cory herum.
»Ich.. ich muss nach Hause.«
»Ich dachte, du bist fortgelaufen?«
»Ja.. nein... ich... - ich muss nach Hause. Sofort. Es tut mir leid.«
Cory begriff nicht, doch er nickte langsam. »Jetzt sofort?«
»Ja... ich - es tut mir leid.«
»Hör auf dich zu entschuldigen und pack deine Sachen. Wo müssen wir hin?«
»Buryville.«
»Dann los. Wird eine lange Nachtwanderung.«
Erschrocken blickte Remus auf. »Was?«
»Na, ich bring dich hin. Auf jetzt und keine Widerrede.« Er lächelte schwach, doch es erreichte seine Augen nicht, die noch immer fast schwarz im Schein des Mondes und der Taschenlampe leuchteten wie zwei Obsidiane.
Er scheuchte Remus aus der Nische und kletterte dann hinterher.
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⁰³³· ˢᶜʰⁱᵉᶠᵉʳ ᵈⁱᵉ ᴳˡᵒᶜᵏᵉⁿ ⁿⁱᵉ ᵏˡⁱⁿᵍᵉⁿ
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