009. Efeubehangene Mauern

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»Bis bald, Petey!«, rief Mrs. Pettigrew, eine korpulente Frau mit rundlichen Zügen, ihrem Sohn zu, einem kleinen dicklichen Jungen, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Zusammen mit dem Schaffner versuchte er, seinen tonnenschweren Koffer - vollgestopft mit allerlei Gebäck und Leckereien aus der Winkelgasse - in den Zug zu wuchten. Der Schaffner, der sich sonst nie etwas anmerken ließ, ächzte unter dem Gewicht, als ihm die Beine einknickten und der gesamte Koffer beinahe wieder zurück aufs Gleis gepoltert wäre. In der letzten Sekunde machte er einen Satz und packte den Griff, um den Schrankkoffer zurück ins Innere des Zuges zu ziehen.

»Denk daran, mir ganz viele Briefe zu schicken!«, rief Mrs. Pettigrew, dem Schaffner einen entschuldigenden Blick zuwerfend.

»Mach ich, Mum. Bis bald!«, rief Peter ihr kleinlaut zurück, darauf bedacht, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Nicht schon am ersten Tag wollte er für ein weinerliches Muttersöhnchen gehalten werden, er hatte schon genug Spöttereien für ein Leben ertragen müssen. Nun in Hogwarts bot sich ihm die Gelegenheit ganz von vorne anzufangen und diese wollte er auch nutzen.
Der Schaffner zog seinen Hut und verabschiedete sich dann, um anderen Schülern behilflich zu sein. Noch immer hinkte er etwas beim Gehen und rieb sich schmerzlich das Kreuz.

Peter blieb allein zurück, winkte noch einmal seiner Mutter und machte sich dann auf die Suche nach einem leeren Abteil. Mrs. Pettigrew sah ihrem Jungen noch kurz nach, ehe sie sich auch abwandte und durch die Absperrung wieder in die Welt der Muggel trat, als der Zug sich mit einem letzten Pfiff in Bewegung setzte.

Peter eilte den engen Gang entlang, die Suche nach einem völlig leeren Abteil, in dem er niemandem unangenehm auffallen könnte, stellte sich als schwieriger heraus, als zunächst gedacht. In den meisten Abteilen saßen mindestens schon zwei Schüler, die sich angeregt unterhielten oder in ihrer eigenen Welt versunken waren. Manche der Abteile waren auch zum Bersten gefüllt und quillten beinahe über voll chaotischer Energie, so musste sich Peter schnell ducken, als auf einmal Funken aus dem Zauberstab eines rothaarigen Jungens schossen und ein großes rundes Loch in die Glastür brannten. Vor Schreck ließ Peter einen erstickten Schrei aus und landete bäuchlings auf dem Boden, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Bellendes Gelächter drang aus dem Abteil und ein Pfiff ertönte. »Wow, Bil, der war nicht schlecht!«

»Nicht wahr?! Das war der Hammer, Max!«, lachte der Rothaarige und setzte noch ein »Sorry, Kleiner!« in Peters Richtung hinterher, als er ihn am Boden kauernd erblickte.

Mit hochroten Wangen rappelte sich Peter auf, klopfte den Staub von seiner Hose und eilte mit gesenkten Blick weiter. Wäre er doch nur rechtzeitig am Gleis gewesen, als noch genügend Abteile unbesetzt gewesen waren und er sich nicht schon völlig blamieren musste. Doch natürlich waren er und seine Mutter erst kurz vor knapp angekommen... beinahe hätte er den Zug sogar verpasst und wie er das dem Schulleiter hätte erklären müssen... (»Tut mir leid, Professor, aber meine Geschwister hielten es für witzig, den kompletten Inhalt meines Schrankkoffers aus dem Fenster auszuleeren.«) Er wäre erst recht zum Gespött der Schule geworden: Peter Pettigrew, der Junge, der sich nicht gegen seine zwei kleinen Geschwister durchsetzen konnte; der ungeschickte große Bruder, den sie nur zu gerne damit aufzogen und der sich dadurch immer etwas überflüssig vorkam, wenn er nicht einmal Simon und Wilma bändigen konnte. Nicht einmal diese Aufgabe konnte er seinen Eltern abnehmen.

Peter entschied sich zurückzugehen. Direkt bei der ersten Tür hatte ein Abteil gelegen, in dem bloß ein weiteres Mädchen gesessen hatte, vielleicht könnte er ja den Mut aufbringen, sie zu fragen, ob er bei ihr sitzen dürfte. Weit kam er nicht. Peter drehte auf dem Absatz um, noch immer den Blick gen Boden gerichtet, sah er die drei Schüler erst, als er in sie hineingestolpert war und zurücktaumelte. »Oh, Verzeihung!«, quiekte er, die Stimme schriller als üblich, die Wangen rot wie Feuer.

»Pass doch auf!«, rief einer der Jungen und schubste Peter noch einen Meter zurück. Den Umhang des Fremden zierte ein großer, tropfender Fleck, der sich dunkel in den Stoff hineinfraß, in seiner Hand hielt er ein nun halbleeres Glas - vermutlich Kürbissaft.

Peter riss die Augen auf und versuchte weitere Entschuldigungen in ihre Richtung zu murmeln, doch die drei Schüler schien das nur zu belustigen und gleichzeitig wütender zu machen.

»Ein Erstklässler«, grinste der Große maliziös.

»Wie niedlich«, setzte einer seiner Freunde hinterher. »Was machst du denn hier ganz alleine? Ohne Freunde?«

»I-ich«, Peter brachte kein vernünftiges Wort zu stande und senkte beschämt den Kopf. Er hatte sich doch entschuldigt, wieso konnten sie es nicht sein lassen? Mit Magie wäre der Fleck doch schnell beseitigt...

»Du hast doch Augen in deinem fetten Kopf, benutze sie!«, giftete der Dritte im Bunde.

Peters Handflächen begannen unangenehm zu schwitzen, er stolperte mehrere Schritte weiter zurück, als die Jungen auf ihn zu kamen, die Zauberstäbe gezückt. Ängstlich schrumpfte er immer mehr zusammen und gab ein wimmerndes Quieken von sich. Die Jungen lachten.

»Oh, das wird ein Spaß«, sagte der Große, »Wir bringen dir jetzt mal Manieren bei.«

Eine geschickte Handbewegung und plötzlich raste ein lilaner Blitz auf Peter zu.

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James und Sirius ließen es sich richtig gut gehen. Nachdem die kleine Hexe mit ihrem Trolley vorbeigekommen war, hatte James ein paar Galleonen springen lassen und ihnen eine recht ansehnliche Auswahl spendiert. Sie saßen auf gegenüberliegenden Bänken, die Füße auf den Sitzpolstern abgelegt, und betrachteten die vorbeiziehenden Wolken und versuchten zu erraten, was diese für Formen annahmen.

»Das ist ein Drache«, rief Sirius.

»Das hast du bisher bei jeder Wolke gesagt«, lachte James.

»Und irgendwann habe ich einmal Recht.«

James grinste und deutete auf eine ganz große Wolke. »Die sieht aus wie du.«

»Gar nicht wahr!«

»Doch total!«

»Mit dem großen Zinken, ist das wohl eher Schniefelus!«

James verschluckte sich an der Luft und wäre beinahe von der Bank gefallen. Hysterisch lachend, rappelte er sich wieder auf, wollte gerade etwas erwidern, als ein lilaner Blitz an ihrer Abteiltür vorbeizischte und ein wimmerndes Quieken folgte.

»Was war das?«, fragte Sirius, doch James war bereits aufgesprungen und zur Tür hinaus auf den Gang geeilt, wo drei niederträchtige Schüler - die grünen Krawatten waren ihm Beweis genug - die Zauberstäbe erhoben, auf einen Jungen losgingen, der nicht älter sein konnte, als James und Sirius selbst. Entsetzt analysierte James die Situation und, ohne groß zu überlegen, sprang er vor den kleinen Jungen, bevor der nächste Zauber wieder nur Millimeter neben seinem Gesicht in die Zugwand einschlagen konnte.

»Hey!«, rief James, »Was soll das? Sucht euch jemanden in eurer Größe!«

»Verzieh dich!«, schnarrte der Slytherin, der den Zauber abgefeuert hatte. »Sonst bist du der nächste.«

»Das will ich sehen«, entgegnete James. »Ihr wollt ihn?«, er deutete auf den kleinen Jungen, »Dann müsst er zuerst an mir vorbei.«

Die Slytherins lachten höhnisch auf. »Ach wie willst du uns denn aufhalten?«

James griff an seine Hosentasche, nur um sie leer aufzufinden... Verdammt! - sein Zauberstab war nicht da, er hatte ihn mit Sicherheit im Abteil vergessen. Gerade, als sich James überlegte, wie so ein Kampf wohl ausgehen konnte, wenn er nichts außer seiner Fäuste zur Verteidigung hätte, sprang Sirius an seine Seite, beide ihre Zauberstäbe in der Hand. Er reicht James den seinen.

»Hast du was vergessen?«, grinste er und zeigte dabei seine weißen Zähne. James atmete erleichtert auf. »Danke«, keuchte er, packte seinen Zauberstab und richtete ihn auf die Dritt- und Viertklässler.

»Los haut ab«, knurrte James in ihre Richtung und belustigt stellte er fest, wie zwei von ihnen tatsächlich die Stäbe sinken ließen, einen ertappten Ausdruck in ihren Augen.

Sirius hob ebenfalls seinen Stab und deutete auch auf sie. »Na, verschwindet schon!«

Einer der Slytherins räusperte sich, angestrengt versuchte er die Aufmerksamkeit seines Freundes zu ergattern. »Blaze...«, murmelte er. James lächelte zufrieden, sie schienen wirklich Respekt vor ihm und Sirius zu haben, dabei hätte James nicht einmal gewusst, welchen Zauber er auf sie hätte losjagen sollen, wenn es tatsächlich zum Kampf gekommen wäre.

Blaze sah nun ebenfalls auf und erstarrte in seiner Bewegung.

»Radley«, sagte er kühl.

Verwirrt runzelten James und Sirius die Stirn, als der Junge hinter den beiden erneut aufquiekte und ihre Aufmerksamkeit über ihre Schultern lenkte. »Oh«, sagte James überrascht und blickte dem schlaksigen, blonden Jungen, dem ein Schulsprecherabzeichen auf der Brust prangte, ehrfürchtig entgegen. Blaze ließ nun auch den Zauberstab sinken und steckte ihn zurück in die Tasche seines Umhangs.

»Was geht hier vor sich?«, fragte der Blonde, die Arme vor der Brust verschränkt, den Zauberstab zwischen den Fingern zwirbelnd. »Habt ihr die Erstklässler bedrängt?«

»Der Idiot hat meinen Umhang ruiniert«, fluchte Blaze und deutete auf den dunklen Fleck auf seiner Brust und dann auf den zusammengekauerten Knirps.

»Zabini«, knurrte der Blonde bedrohlich, »ihr geht zurück in euer Abteil und bleibt da, bis wir in Hogwarts angekommen sind. Wenn ich noch einmal mitkriege, dass ihr kleine Kinder tyrannisiert...«

»Kleine Kinder?«, meldete sich nun Sirius zu Wort, doch nach nur einem Blick seitens des Schulsprechers verstummte er sofort wieder.

»Du und deine kleinen Freunde lasst die Erstklässler und alle anderen Schüler zufrieden, Zabini oder ich ziehe euch so viele Punkte ab, dass der Hauspokal bloß noch in euren Träumen existiert.«

Blaze Zabini lachte auf. »Auf einmal so ein Spielverderber, Radley? Ich erinnere mich da an Zeiten...-«

»Das reicht!«, bellte der Schulsprecher erzürnt. Eine dicke Ader pulsierte auf seiner Stirn, sein Hals war von roten Flecken übersät.

Wie in einem Starrduell wandten weder Radley noch Zabini den Blick voneinander ab, keiner war bereit nachzugeben und während der kleine Junge sich weiterhin hinter James und Sirius zu verstecken versuchte, sahen die wie bei einem spannenden Tennismatch zwischen den beiden Schülern hin und her, bis auf einmal...

»Blaze, mach keine Szene!«

Die Stimme eines Mädchen hallte durch den Zug. »Es hat keinen Sinn sich mit ihm anzulegen.«

Das Mädchen trat hinter den zwei Slytherinjungen hervor, ihre schokoladenfarbene Haut war makellos und stand im schönen Kontrast zu ihrem von lilanen Strähnen durchzogenen schwarzen Haar, das ihr in Locken auf die Schultern fiel.

»Everett«, sie nickte dem Schulsprecher zu, der ihrem Blick geschickt auswich, und legte Blaze eine Hand auf die Schulter. »Komm schon, Blaze, wir brauchen jetzt keinen Ärger.«

Er versuchte gar nicht, sich zu verteidigen, sondern nickte bloß abschätzig in die Richtung der Erstklässler und wandte sich dann zum Gehen um. »Meinetwegen«, schnaubte er. »Rutherford, Fuller, kommt mit!«

Die Slytherins verschwanden in einem der hinteren Abteile und es wurde still.

»Und was euch angeht«, setzte Everett Radley an, doch James winkte ab.

»Passt schon, mach dir keine Sorgen.«

Der Schulsprecher blinzelte. »Wie-?«

»Danke für die Rückenstärkung, Kumpel, auch wenn sie etwas... unnötig war«, ergänzte Sirius und grinste.

»Du hast es zumindest versucht.«

»Das rechnen wir dir hoch an.«

Überwältigt von den beiden, sah Everett zwischen ihnen und dem noch immer zusammengekauerten Jungen hin und her, nicht wirklich im Stande, in Worte zu fassen, was er nun eigentlich hatte sagen wollen. So standen sie einige Sekunden da, in denen keiner ein Wort sagte. James und Sirius sahen zu ihrem Schulsprecher erwartungsvoll auf, doch dieser schüttelte bloß den Kopf und machte auf dem Absatz kehrt.
Sie hörten ihn den restlichen Gang immer wieder das Wort »Rückenstärkung« wiederholen, ehe auch er in einem Abteil verschwand und die Tür laut zuschlug.

Die drei Erstklässler blieben allein zurück.

»Hey, alles okay bei dir?«, fragte James den pummeligen Erstklässler. »Du zitterst ja total.«

Der Junge sah mit leuchtenden Augen auf. »D-danke für- für die Hil-Hilfe.« James und Sirius winkten ab, doch die Freude über die Anerkennung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

»Keine Ursache«, erwiderte Sirius dennoch und bemerkte nun zum ersten Mal den Koffer, den der Junge noch immer fest umklammert hielt. Er deutete darauf und runzelte die Stirn. »Hast du noch kein Abteil gefunden?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Dann setz dich doch zu uns«, sagte James lächelnd. »Wir haben noch massig Platz, wenn Sirius seine Käsequanten einziehen kann.« Er duckte sich, als Sirius zum Schlag ausholte.

»Pass auf, was du sagst, Potter!«, lachte er. »Und wenn hier irgendwelche Füße stinken, dann sind es deine. In diesen Quadratlatschen, die du da trägst, wäre es auch nicht verwunderlich...«

»Ich bin übrigens James und der Typ mit den Käsequanten hier heißt Sirius.«

Sirius schüttelte bloß den Kopf und griff nach dem Koffer des Jungen, um ihn den Weg zurück zum Abteil zu tragen, scheiterte jedoch kläglich.

»Merlin! Was hast du da drin?!«

Der Junge senkte beschämt den Blick und scharrte mit seinen Fußspitzen über den Boden. »Meine Mum hat gebacken...«

»Fetzig! Noch mehr zu essen!«, rief Sirius aufgeregt.

»Genial!«, rief auch James. »Komm mit,-«

»Peter.«

»Komm mit, Peter. Wir spielen Wolkenraten.«

Zu dritt wuchteten die Jungen den Koffer in ihr Abteil und pflanzten sich wieder auf ihre Plätze. Sie alle richteten den Blick aus dem Fenster, jeder von ihnen einen Lackritzzauberstab in der linken und einen Kesselkuchen in der rechten Hand.
Peter lächelte in sich hinein, während sie alle die Wolken inspizierten und ihre Formen zu erraten versuchten. Nie war er dankbarer für einen Angriff auf ihn gewesen als heute, denn sonst hätte er James und Sirius vielleicht nie kennengelernt...

»Die Wolke sieht aus wie ein Drachen!«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

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Es war schon später Nachmittag, die Sonne tauchte den Abendhimmel in ein tiefes Rot-gold, als der Hogwarts Express in den Bahnhof von Hogsmead einfuhr. Weißer Dampf quoll aus der Lok hervor und verflüchtigte sich mit dem Herbstwind in der Kälte. Ein langer, gellender Pfiff ertönte und der Zug kam endgültig zum Stehen.
Das aufregende Kribbeln, das schon die ganze Fahrt über gegen seinen Magen geschlagen hatte, breitete sich nun in seinem ganzen Körper aus, so dass es Remus schwer fiel, überhaupt aufzustehen. Alle seine Sinne schalteten auf Rot, als die anderen Schüler in seinem Abteil, sich in Bewegung setzten und hinaus auf den Gang traten. Vielleicht war das alles doch keine gute Idee gewesen, vielleicht sollte er wieder nach Hause fahren. Vielleicht hatte sich Dumbledore geirrt und es war nicht sicher, einen Werwolf auf dem Schulgelände zu halten.

»Hey, kommst du?«, fragte das rothaarige Mädchen, das zusammen mit ihm und den anderen im Abteil gesessen hatte. Ihre grünen Augen blitzten vor Aufregung. Erwartungsvoll musterte sie Remus, wie er sich langsam aufrappelte.

»Ich bin total aufgeregt«, gestand sie und lächelte zaghaft.

Remus nickte. »Ich auch. Sehr sogar.«

Das Mädchen öffnete erneut den Mund, doch...

»Lily!«

Dem schwarzhaarigen Jungen war ihr Fehlen wohl aufgefallen, denn mit einem Blick über ihre Schulter und einem entschuldigenden Nicken, verabschiedete sich das Mädchen von Remus und eilte zu ihrem Freund, der etwas ungeduldig auf sie gewartet hatte, während sich die restliche Schülerschar an ihm vorbei zu zwängen versuchte.

Sehr sogar. Das war noch eine Untertreibung. Remus konnte sein Herz beinahe aus seinem Brustkorb springen sehen, so nervös war er. Das Adrenalin, das durch seine Venen jagte, hätte jeden vermutlich schon umgehauen, doch das war einer der wenigen, wenigen Vorteile seines... Zustandes.

Etwas ungeschickt kletterte Remus aus dem Zug auf den Bahnsteig. Überall tummelten sich große Schülermassen, die ihre alten Freunde begrüßten, sich umarmten, schreiend aufeinander zuliefen, nach den Sommerferien ausfragten und lauthals über einige der Geschehnisse, die der Tagesprophet die letzten Wochen berichtet hatte, unterhielten.

Eine sich nähernde Laterne erregte schließlich Remus' Aufmerksamkeit, doch das wäre gar nicht nötig gewesen, denn spätestens der Mann, der sie fest umklammert hielt, zog alle Blicke der Erstklässler auf sich. Er war doppelt so groß wie normal und mindestens dreimal so breit, sein breites, rundes Gesicht war von einem vollen schwarzen Rauschebart bedeckt und von dunklen, buschigen Haaren umrahmt. Er steckte in einem dicken Pelzmantel und riesigen Stiefeln, die Remus vermutlich unter sich hätten begraben können.

»Erstklässler! Erstklässler zu mir!«

Remus wusste natürlich, wer der Mann war. Nicht umsonst hatte er jede kleinste Information über Hogwarts in sich aufgesogen, nachdem ihm Dumbledore eröffnet hatte, ihn aufzunehmen. Natürlich hatte er dann auch etwas über den Wildhüter Hagrid gelesen, den Hüter der Schlüssel und Ländereien von Hogwarts.

»Erstklässler zu mir!«

Hagrid schwenkte die Laterne, um wirklich jedermann zu verständigen und rief erneut nach den Schülern. Auch Remus setzte sich nun in Bewegung und folgte dem Schein der Laterne, während die Sonne hinter den Hügeln endgültig verschwand und die Dunkelheit über sie hereinbrach.

»Fetzig!«, hörte er einen Jungen rufen.

»Genial!«, erwiderte ein anderer.

Hagrid marschierte los, die Laterne hoch erhoben, so dass sie ihnen allen den Weg leuchtete. Die Traube aus elfjährigen folgte dem Wildhüter stolpernd zu einem schmalen, steilen Pfad, der von Bäumen zu beiden Seiten versteckt abseits des Gleises lag. Zusammen trotteten die Erstklässler im Gänsemarsch durch die Dunkelheit, bis sie am Ende des Weges an das Ufer eines schwarzen Sees stießen.
Vor ihnen, auf der Spitze eines hohen Berges, erstreckte sich ein gewaltiges Schloss weit hinauf in den Himmel, aus dessen dunklen Mauern sich viele Türme mit blau schimmernden Dächern und Zinnen hervorhoben, dabei war ein Turm größer als der andere, als versuchten sie sich nach den Sternen zu strecken, um den Mond vom Himmelszelt zu holen. Die nach oben hin abgerundeten Fenster reflektierten die funkelnden Himmelskörper der rabenschwarzen Nacht, während sich die durch säulenartige Bogengänge verbundenen Gräben und mit Steinen gepflasterten Plätze unter langen, freiliegenden Brückenkonstrukten entlangstreckten.

»Genial!«, erklang es erneut.

Im See reihten sich kleine Ruderboote aneinander, die mit jeder kleinen Welle gegen das Ufer dotzten. Ihre Schatten ließen das schwarz des Sees umso erdrückender, umso tiefer wirken, als wäre der Boden nicht vorhanden, als würde das Wasser ins unendliche Nichts führen, wie ein Strudel in die Unterwelt.

»Nicht mehr als vier in einem Boot!«, rief Hagrid.

Remus ging den anderen langsam hinterher, er kannte noch niemanden und fühlte sich nicht wohl dabei, sich einfach zu jemand anderem ins Boot zu setzen. Vielleicht wollte derjenige ihn auch gar nicht bei sich haben...

Er erkannte Lily, das Mädchen aus dem Zug, und ihren Freund Sonoros - oder so ähnlich - schon immer hatte sich Remus schwer getan, Namen zu lernen. Er war unfassbar belesen und konnte jedes geschichtliche Ereignis mit einem Datum versehen, doch wenn es darum ging sich einen Namen zu merken, war er ein hoffnungsloser Fall.

»Setzt du dich zu uns?«, rief Lily, als sie seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren schien und sich umwandte. Remus nickte zaghaft und wollte gerade auf die beiden zutreten, als er beinahe von einem kupferfarbenem Wirbelwind über den Haufen gerannt worden wäre.

»Jamesi!«, rief der Wirbelwind und steuerte auf drei Jungen etwas abseits zu, wo sie von einem Jungen mit Brille und schwarzen, unruhigen Zotteln empfangen wurde.

Den Schock beinahe sein Haupt verloren zu haben, schüttelte sich Remus und überquerte die letzten Meter zu Lily und dem Jungen, der eindeutig weniger freundlich zu ihm hinauf stierte. Dankbar setzte er sich zu den beiden in das Boot. Nicht so recht ahnend, ob er nun dazu aufgefordert war, Konversation zu machen, knetete er seine Hände in seinem Schoß, den Blick aufs Wasser gerichtet.

Hagrid sah sich um, ob auch alle in einem der Boote Platz genommen hatten, dann richtete er sein Augenmerk dem Schloss zu.

»VORWÄRTS!«

Die kleinen Boote setzten sich alle auf einmal in Bewegung und glitten ganz behutsam über den spiegelglatten See. Remus beobachtete die anderen. Während die meisten gebannt auf das Schloss vor ihnen starrten, schienen der Junge mit den unruhigen Haaren und einer seiner Freunde es sehr lustig zu finden, von einer auf die andere Seite der Barke zu schaukeln, um diese aus dem Gleichgewicht zu bringen, woraufhin die zwei anderen beinahe ins Wasser fielen. Das Mädchen schimpfte, während der kleinste von ihnen sich bloß die Hände auf den Magen presste.

»Lasst den Unfug!«, bellte Hagrid, der ein ganzes Boot für sich allein beanspruchte.

Das Schloss vor ihnen wurde immer größer und majestätischer, die von Immergrün bewachsenen Mauern Die Flotte näherte sich dem Berg, auf dem es erbaut worden war.

»Köpfe runter!«

Sie alle duckten sich nach Hagrids Ruf, als die ersten Boote einen Vorhang aus Efeu erreichten, der bis hinunter ans Wasser hing. Die Pflanzen kitzelten Remus im Nacken, doch als sie es hindurch geschafft hatten, ragte unter dem Felsen eine Art Tunnel empor, wo der See in einem unterirdischen Hafen mündete. Sie alle kletterten aus den Booten und Remu war erleichtert wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein Blick über die Menge verriet ihm, dass er nicht der einzige war, dem es so erging.

»Auf geht's!«, rief Hagrid.

Im Gänsemarsch stiefelte die Erstklässler-Traube dem Schein der Lampe hinterher und einen Felsgang hinauf, bis sie eine im düsteren Schatten des Schlosses liegende klamme Wiese erreichten. Von hier aus konnte Remus die peitschende Weide gut sehen, auch wenn sie mehrere hundert Meter entfernt stand. Das war seine Chance. Seine Chance, einmal im Leben normal zu sein. Sogut es eben ging.
Die hohe Luftfeuchtigkeit fraß sich in Remus' ohnehin von baldigen Vollmond überanstrengte Lunge und ließ ihn bloß schwer atmen. Schon völlig erschöpft von dem langen Marsch, kämpfte er sich die steile Steintreppe empor, ehe sie sich alle um ein riesiges Eichentor versammelten.

Hagrid hob seine monströse Pranke und schlug damit dreimal gegen das Schlosstor.

KLONK

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

KLONK

Er würde das hier durchziehen

KLONK

Das war seine Chance auf ein normales Leben, seine einzige Chance.

Und das Eichentor öffnete sich...

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⁰⁰⁹· ᴱᶠᵋᶶᵇᵉʰᵃⁿᶢᵊⁿᵉ ᴹᵅᶸᵋʳⁿ

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