007. Ein schweres Erbe

ᵖᵃᶤⁿᶵ ᵐʸ ˢᵖᶤʳⁱᵗ ᶢºᶩᶞ·

Am Morgen des ersten Septembers 1971, einem kühlen Mittwoch, war die Sonne kaum über Godrics Hollow aufgegangen, da öffnete ein Junge mit rabenschwarzen Haaren die Augen und blinzelte etwas verwirrt an die verschwommene Zimmerdecke, ehe er die Brille mit den runden Gläsern von seinem Nachttisch fischte und sie sich auf den geraden Nasenrücken schob. Er blinzelte erneut, gewöhnte sich so langsam an die immer schärfer werdenden Konturen und richtete den Blick zurück zu dem kleinen Tischchen auf dem ein Wecker in Form eines goldenen Schnatzes stand, der 6:12 Uhr in der früh anzeigte.

Der Junge kratzte sich verwirrt am Kopf. Es war für ihn nicht ungewöhnlich schon mit den Vögeln aufzustehen, doch irgendetwas war heute anders als sonst...

Ruckartig setzte er sich auf, wobei er die Dachschräge mit seinem Kopf nur knapp verfehlte - noch fehlten ihm ein paar Zentimeter, um sich zu stoßen -.

»Dad! Mum! Heute ist der 01. September!«

Er strampelte sich von seiner Decke frei, der rot-goldene Quidditchpyjama mit den kleinen Klatschern, Schnätzen und Quaffeln stand in keinerlei Kontrast zu den sonst ebenfalls rot-goldenen Bettbezügen, den rubinfarbenen Wänden und daran befestigten Quidditchpostern. Der Junge stolperte über seine eigenen Füße, als er sich endlich aus seinem Bett geschält hatte, die Brille rutschte ihm von der Nase und er konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf den Boden geschlagen wäre, rappelte sich wieder auf und rannte ans Fenster.

Er riss es auf.

Die jungen Sonnenstrahlen kitzelten beruhigend auf seiner Haut, während das schöne Vogelgezwitscher der kleinen Amselfamilie, die auf dem Ahorn in ihrem Garten lebte, die Melodie zum Morgen spielte.

Noch nie hatte der frische Tau so gut gerochen.
Noch nie war der blaue Himmel schöner gewesen.
Es war endlich soweit, der Tag, auf den James sein Leben lang gewartet hatte, war gekommen.

Heute würde sein Leben endlich richtig beginnen.

Er wandte den Blick von der schönen Stadt, die so viele Jahre lang sein zu Hause gewesen war und raste auf die Zimmertür zu, die er ohne Scheu vor der frühen Stunde mit einem ohrenbetäubenden Schlag aufstieß und hinaus auf den langen, hellen Flur des dritten Stocks trat.

Wenn seine Eltern noch schliefen, dann hatten sie sich das eben selbst zuzuschreiben. James achtete nicht darauf, welchen Krach er veranstaltete, während er die Stufen hinunterpolterte, denn nur wenige Sekunden später stürzte er sich ins Schlafzimmer seiner Eltern, die noch seelenruhig vor sich hin träumten, nicht ahnend, dass ihre Träume bald zu Schäumen würden.

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»Muuuuuuum! Das reicht jetzt aber!«, quengelte James Potter, der nun schon zum wiederholten Male seine Mutter von sich schob, die ihm einen Kuss nach dem anderen aufzwang, da ihr heißgeliebtes, kleines Baby mit seinen elf Jahren zum ersten Mal nach Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei fahren würde. »Daaad! Hilf mir!«

Fleamont Potter, ein schon in die Jahre gekommener Mann mit graumeliertem zerzausten Haar lehnte sich in den Türrahmen zur Küche und beobachtete grinsend seine Frau und seinen Sohn dabei, wie sie miteinander rangelten. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte bloß belustigt mit dem Kopf. »Jamesi, da musst du schon alleine rauskommen. Ich lege mich ganz sicher nicht mit deiner Mutter an, das würde ich nicht überleben.«

»Oh wie recht du hast!«, flötete Euphemia Potter und drückte ihrem Sohn noch zwei Küsse auf die Stirn.

»Das ist ja nicht zum Aushalten«, schnaubte James und ließ die Qual schmollend über sich ergehen, doch nicht ohne noch einmal zu erwähnen, dass er nun ganz sicher kein kleiner Junge mehr war, der so behandelt werden sollte. (»Ich bin doch nicht mehr zehn!«)

»Noch sind wir nicht am Zug, erst da hast du das Recht, dich für uns zu schämen«, lachte Fleamont.

Doch nach einer halben Ewigkeit, in Wahrheit waren es bloß zwei Minuten, löste sich seine Mutter schließlich von ihm, packte seine Schultern und sah ihm fest in die warmen, haselnussbraunen Augen. Ihre eigenen Blauen füllten sich mit Tränen, trotz ihrer missglückten Versuche sie hinfort zu blinzeln. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihren Lippen.

»Mein Schnatz, wir werden dich unglaublich vermissen.«

Fleamont löste sich von dem Türrahmen, als würde er nun glauben können, dieser wäre im Stande von alleine zu stehen und legte jeweils einen Arm um seine Frau und seinen Sohn. »Wir sind stolz auf dich, Jamesi. Dass du uns ja nicht zu großen Blödsinn anstellst.« Drohend hob er den Zeigefinger und fuchtelte damit vor James' Nase herum, jedoch konnte Fleamont das Grinsen nicht verbergen, was seine Aussage etwas an Wirkung entkräftete.

James lachte und sah glücklich zu seinen Eltern auf. Sie waren definitiv nicht mehr die Jüngsten, im Gegenteil, im Vergleich zu den anderen Müttern und Vätern würden sie vermutlich uralt aussehen, allerdings machte ihr jugendliches Auftreten die meisten Jahre wieder wett.

»Ich schwöre es, Dad. Zaubererehrenwort.«

»Pappalapapp«, fuhr ihm Fleamont in die Parade, »Wie heißt das?«

»Ich schwöre... feierlich, ich werde keinen zu großen Unsinn anstellen.« Augenverdrehend streckte James seinem Vater die Zunge raus, woraufhin seine Mutter unglücklich die Lippen schürzte. Fleamont schien sich über das Verhalten seines Sohnes jedoch köstlich zu amüsieren und schlug ihm spielerisch auf die Schulter.

»Männer«, murmelte Euphemia genervt und machte sich auf in das von allen Seiten durch die vielen deckenhohen Glasfenster lichtdurchflutete Wohnzimmer, um James' Koffer zu holen.

Den Augenblick nutzte Fleamont ganz eifrig, um seinen Sohn am Arm hinaus in den Flur und hinunter in den Keller zu ziehen. James wollte schon lautstark protestieren, dass nun nicht die Zeit wäre, sich alte Fotos von ihm als kleines Baby im Quaffle und Schnatz - Halloweenkostüm anzusehen, doch ein Blick seitens seines Vaters genügte und er wusste, dass er nun den Mund zu halten hatte, wenn er nicht die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich ziehen wollte, um somit Dads ganzes Unterfangen den Besen runter zu jagen.

Ihre Schritte hallten auf den steinernen Stufen wider, die feuchte Luft vermischte sich mit dem unangenehmen Geruch nach Staub, Keller und den vielen Abgasen, die Dads Zaubertränke-Station stets verursachte, da er nach all den Jahren, in denen er den Sleekeazy Haar-Zaubertrank erfunden hatte, stets daran feilte, um ihn - sehr zu James' und dessen Mutters Bedauern - zu perfektionieren (und dafür nicht selten ihre Haare als Testobjekt missbrauchte), egal wie viele Stunden er deswegen auch bei schwacher Beleuchtung im modrigen Keller verbringen musste. Obwohl das Potter Manor immer im perfekten Zustand schien, war die tiefe Etage für den Herrn des Hauses bestimmt, sein persönlicher Rückzugsort, in den Euphemia ihm zuliebe auch keinen Fuß setzte, so gerne sie auch für Ordnung gesorgt hätte. In all den Jahren ihrer Ehe hatte sie seinen Wunsch respektiert und ihn nur machen lassen.

Wie die Muggel-Männer in ihren Garagen stets an den vierrädrigen Blechkisten herumschraubten, experimentierte Fleamont Potter eben mit seinen Zaubertränken und ließ dabei nicht selten etwas explodieren. Doch das war eben das Risiko, das man einging, um mit einem Zaubertrankmeister verheiratet zu sein, wie Euphemia stets mit einem Lächeln auf den Lippen zu sagen pflegte.

James lief seinem Vater durch den schmalen Kellergang hinterher, ihm immer dicht auf den Fersen, um sich ja nicht in völliger Dunkelheit - ohne den Lichtkegel, den Fleamonts' Zauberstab auf die steinernen Wände warf - allein wiederzufinden. James war nie oft in den Kellergemäuern des Potter Anwesens gewesen, meist nur in dem ersten großen Raum, der sich direkt an die Treppe, die wieder hinauf führte, anschloss, in dem sein Vater stets mit seinen Haarprodukten herumexperimentierte. Wenn seine Frau ihn wiederholt zum Abendessen rief und er sich dennoch nicht nach oben bequemte, war es James' Aufgabe, ihn zu holen, doch sonst mied der Junge es, in das Labor seines Vaters hinabzusteigen, es sei denn er war auf einer seiner Erkundungsmissionen, wenn seine Eltern außer Haus waren.

Doch trotz all dieser kleinen Abenteuer, war er noch nie so weit nach unten gestiegen, noch sie so tief vorgedrungen, als dass er sich sicher war, den Weg alleine zurück zu finden und so bewegte er sich wie Fleamonts' Schatten hinter ihm her.

»Dad, wie lange dauert diese Schnatzjagd denn noch? Ich will den Express nicht verpassen!... außerdem erleidet Mum sicher einen Herzinfarkt, wenn wir einfach verschwunden bleiben.«

Den letzten Teil murmelte der junge Potter mehr zu sich selbst und doch konnte sein Vater jedes Wort verstehen. »Wo ist denn deine Abenteuerlust?«, säuselte Fleamont. »Wir sind ja gleich da.«

Halt machten sie einige Minuten später nachdem sie am Fuß einer weiteren Treppe angelangt waren, die vor einer hölzernen Tür endete, welche kaum mehr so aussah, als könnte sie einem starken Windhauch standhalten. Wie so oft fragte sich James, wie alt dieses Haus mit den riesigen Kellergewölben wohl war und wie lange es nun schon im Besitz seiner Familie war, doch egal wie oft er seine Eltern auf dieses Thema auch ansprach, erhielt er nie eine zufriedenstellende Antwort. (»Ach, schon seit Ewigkeiten, Jamesi.« »Sehr lange, James, und jetzt iss endlich dein Gemüse!«)

Freudig, dass sie endlich da zu sein schienen, drängelte sich James an seinem Vater vorbei, um die Tür aufzustoßen, doch bevor seine Hand das Holz berühren konnte, hielt sein Vater ihn energisch zurück.

»Nicht!«

Seine Stimme klang scharf, sie schien die warme Luft zu durchschneiden, als bestünde diese aus Wachs. Die Feuchtigkeit machte sich ebenfalls bemerkbar, denn kaum hatte er gesprochen, musste Fleamont sich auch schon lautstark räuspern und begann kläglich zu husten.

Er beruhigte sich allmählich und zog ein um seinen Hals hängendes Lederband unter seinem Kragen hervor, an dem ein im Zauberstablicht schimmernder, kleiner Schlüssel baumelte. »Nur wer die Macht hat, sie zu öffnen, darf die Tür berühren«, murmelte James' Vater geheimnisvoll und steckte den Schlüssel ins Loch.

Klick.

Die Tür knarzte, als sie sie aufdrückten und ein dicker Schwall Staub vermischt mit dem vermoderten Geruch eines sterbenden Doxy-Schwarms wehte ihnen entgegen. »Merlin!«, rief Fleamont erfreut aus, der den naserümpfenden James ignorierte. »Ich bin ewig nicht hier unten gewesen.«

»Was du nicht sagst...«

James rollte zunächst mit den Augen, doch als sein Vater mit einem einfachen Schlenker seines Zauberstabs den ganzen Raum erleuchtete, blieben ihm die nächsten Worte im Halse stecken.

Ein großes Büro, nein, mehr eine Art Bibliothek - alt und verstaubt zwar, aber nicht weniger gewaltig - lag vor ihnen. James Augen weiteten sich auf die Größe von Untertassen, während er mit offenem Mund eintrat und erstaunt die Regale bewunderte. Mit seinen Fingern fuhr er die Einbände entlang, runzelte bei einigen der Titel die Stirn, sagte jedoch nichts. Die Bücherregale zogen sich die ganzen Wände entlang und trafen sich schließlich am gegenüberliegenden Ende des Raumes, wo ein großer Schreibtisch aus Mahagoni stand, an den ein kleiner Schrankkoffer gelehnt war, den James' Vater nun an sich klammerte, als würde sein Leben davon abhängen.

»Genial«, hauchte James ehrfürchtig.

Ein Grinsen huschte über Fleamonts Gesicht. »Oh ja, da magst du Recht haben, Jamesi. Trotz der dicken Staubschichten.« Er öffnete den Koffer und langte hinein, sein ganzer Arm verschwand im Inneren des dafür zu kleinen Koffers. Man hörte ihn herumwühlen, mehrere Bücherstapel umwerfen und Glas zerspringen - sehr zum Missfallen von James' Vater, der angesäuert die Nase rümpfte -. »Das waren meine Vorräte des besten Scotch' aus ganz England... Was für eine Verschwendung.«

Schlussendlich zog Fleamont jedoch einen ziemlich großen Stoffetzen hervor. Im Licht des Kellers schimmerte er, beinahe als bestünde er aus flüssigem Silber, als wäre er aus Wasser gewebt worden. James musste nicht zweimal überlegen, um zu wissen, um was es sich dabei handelte, doch bei Merlin - wie war sein Vater an so etwas Kostbares gekommen?

»Dad, das ist-«

Fleamont schüttelte lächelnd den Kopf. »Ein Familienerbstück, weitergereicht von Generationen von Potters an die nächste - nun... es waren nicht immer die Potters, die diesen Schatz wahren durften. Wir hatten eher Glück, dass einer unserer Vorfahren in ein gutes Haus einheiratete.« Ein Glucksen fiel ihm über die Lippen.

»Über Generationen? Dann dürfte er aber nicht mehr wirklich gut funktionieren, Dad...« James trat näher, die Schuhsohlen seiner Sportschuhe gaben auf den klammen Steinfliesen ein knatschiges Geräusch von sich, als würde er über nasses Moosgummi laufen.

»Das ist einer der ganz besonderen Sorte«, erwiderte Fleamont stolz, »Und nun gehört er dir, dein eigener Tarnumhang.«

James griff nach dem kalten Stoff und erschauderte, als seine Finger darüber streiften. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus und ließ seine Nackenhaare aufstellen. »Genial...«

»Kein Wort zu deiner Mutter«, ergriff Fleamont nun wieder das Wort. »Wir hatten ausgemacht, ihn dir erst mit Erreichen deiner Volljährigkeit zu überreichen, aber meine Jahre in Hogwarts wurden erst so richtig interessant, nachdem ich dieses Prachtstück von meinem Vater erhalten habe und diese Erfahrung wollte ich dir nicht vorenthalten.«

»Ich dachte, ich soll keinen Blödsinn anstellen?« Belustigt hob er eine Augenbraue.

»Ach, das war bloß für deine Mum.«

James runzelte die Stirn. »Wieso sollte ich es dann feierlich schwören? Ein solches Versprechen, bricht man nicht einfach so, Dad. Das geht nicht.«

»Wie recht du hast, Jamesi. Deswegen solltest du auch bloß schwören, keinen zu großen Blödsinn anzustellen. Demnach ist es eine Ermessenssache, was als zu groß betitelt wird. Jage also nicht die Schule in die Luft! Aber ansonsten... man wird nur einmal elf, hab viel Spaß, mein Sohn.«

Verdattert besah sich James seinen Vater genauer. Ob er sich an einer zu tief hängenden Kellerdecke den Kopf gestoßen hatte? Oder ob er auf seine alten Tage einfach nur senil wurde? »Bist du krank?«

Ein unkontrolliertes Lachen kam Fleamont über die Lippen, seine Augen funkelten hell auf begeistert, während er sich nach Luft schnappend krümmte. »Mir ging es nie besser, Jamesi. Los - jetzt probier den Umhang doch endlich einmal an! Ich will sehen, wie er dir steht!«

Noch immer zögerlich und nun sichtlich irritiert schüttelte James den zusammengefalteten Umhang aus und warf ihn sich über die Schultern. Der Tarnumhang war aus einem bemerkenswert leichten Stoff, als trüge er keinerlei Gewicht. James sah an sich hinab und stellte zufrieden fest, dass er vom Hals abwärts völlig unsichtbar war. Bis zu diesem Augenblick hatte er doch wahrhaftig gedacht, sein Vater würde sich einen Spaß erlauben.

»Und? Wie sehe ich aus?«, fragte James grinsend.

»Auffallend unauffällig!«

»Genial.«

Der Tarnumhang war ein Freifahrtschein, sein Ticket zu unbändigen Abenteuern in Hogwarts - ... Hogwarts!

»Danke, Dad!«, brachte James hervor, bevor er sich glücklich in die Arme seines noch immer lachenden Vaters warf. »Wir müssen jetzt aber zurück! Der Zug fährt bald ab!«

Fleamont schüttelte resigniert den Kopf. »Der Zug fährt in drei Stunden, Jamesie!«

James löste sich von ihm und eilte, den Umhang von den Schultern streifend, aus der Tür. Er ließ ihn in seinem Rucksack, den er noch immer auf den Schultern trug, gleiten und zog den Reißverschluss wieder zu. Seine Mum würde diesen Schatz sicherlich nicht in die Fänge kriegen. Jetzt wo er ihn hatte, würde James den Umhang sicherlich nicht wieder so leicht aufgeben.

»So lange dauert der Weg zurück, Dad! Wir werden ihn verpassen!«

Fleamont rollte mit den Augen, nachdem James' Kopf um die nächste Biegung verschwunden war. »Sind wir heute etwas melodramatisch unterwegs?« »Das ist völliger Realismus!«

»Das ist völliger Blödsinn...«

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Am Gleis 9¾ herrschte reges Treiben. Während die große Dampflok immer wieder weißen Rauch ausstieß, tummelten sich am Bahnsteig die ganzen Familien, die ihre Kinder verabschiedeten. Über ihren Köpfen kreisten mehrere Eulen, Katzen wuselten zwischen den Beinen ihrer Besitzer umher und tränenreiche Mütter und Väter winkten ihren Sprösslingen ein letztes Mal, bevor diese ihre Reise nach Hogwarts antreten würden. Die Familie Potter war keine Ausnahme...

»Muum! Jetzt darf es mir aber peinlich sein!« Wieder einmal an diesem Tag fand sich James Potter gefangen in den Armen seiner Mutter wieder, die ihn einfach nicht loslassen wollte. »Bitte! Alle anderen gucken schon!« Mrs. Potter achtete gar nicht auf das Gezappel ihres Sohnes, drückte ihn noch enger an sich und platzierte einen großen Schmatzer auf seiner Wange, der sein Gesicht zum Glühen brachte.

»Muuum«, murmelte er verlegen und wischte sich mit dem Ärmel über die Wange. Euphemia lachte bloß herzlich und verwuschelte seine ohnehin schon unbändigen Haare. »Unser kleiner Schnatz wird erwachsen.« Sie seufzte schwer und packte den Arm ihres Mannes. »Monty, kannst du dir vorstellen, wie James in einigen Jahren seine eigenen Kinder zum Gleis bringt?«

Fleamont beobachtete noch immer wie James krampfhaft versuchte mit dem Saum seines Pullovers jedes bisschen Lippenstift von seiner Wange zu polieren, den seine Mutter auf ihr hinterlassen hätte, wenn sie welchen getragen hätte. James war dieser Umstand jedoch offenbar nicht bewusst und so schrubbte er weiter, ohne irgendwelche Ergebnisse zu erzielen.

»Ich denke, wir haben noch etwas Zeit, bis er sich aufmacht und die Mädchen um den Verstand bringt.«

»Eulendreck! Monty, nur ein Wimpernschlag und unser Schnätzchen könnte verheiratet sein.«

James, der es aufgegeben hatte, den imaginären Lippenstiftabdruck auf seiner Wange fortzuwischen, musterte seine Mutter kritisch. »Ich werde niemals heiraten... Mädchen sind eklig, die wollen einen ständig nur küssen und so...« Euphemia schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Ach Schnätzchen... was ist denn mit dem Mädchen der McKinnons? Ihr versteht euch doch ganz gut.« James schnaubte.

»Das ist Marlene, Mum. Die küsst doch keine Jungs, sie spielt Quidditch. Sie ist fetzig.«

»Fetzig?«, fragte Euphemia, unschlüssig darüber, ob das nun gut oder schlecht sein sollte.

»Total angesagt«, erklärte Fleamont.

Mrs. Potter nickte verstehend und eine unangenehme Stille breitete sich zwischen den Dreien aus, während um sie herum die vielen Stimmen der anderen Familien, das Eulengeschrei und die Rufe des Schaffners in der Ferne zu verblassen schienen. Zum ersten Mal an diesem Tag gestand James sich ein, dass er sich zwar unbändig auf Hogwarts freute, doch dass ihn, seine Eltern zurückzulassen, nicht so kalt ließ, wie er gerne zugegeben hätte. Ein Gewicht von der Größe eines Hippogreifs legte sich ihm auf die Brust, erschwerte ihm das Atmen.

Auch Mr. und Mrs. Potter sahen ihren Sohn, ihr kleines Wunderkind, mit glänzenden Augen an, als könnten sie nach all den Jahren noch immer nicht fassen, dass das Universum sie mit einem Sohn wie James gesegnet hatte.

Die unausgesprochenen Worte huschten wie Lauffeuer zwischen ihren Seelenspiegeln hin und her, erzählten ihre eigenen Geschichten, sagten, was zu sagen war und ließen ihre Herzen vor Freude und Schmerz anschwellen.

»Warte nur ein paar Jahre und du änderst deine Meinung über das Küssen«, sagte Fleamont dann doch nach einer Weile grinsend. Euphemia schlug ihrem Mann spielerisch gegen den Oberarm, während James das Gesicht hinter den Händen zu verstecken suchte. »Dad! Das einzige, das ich je küssen werde, sind die Quidditchpokale, wenn ich als jüngster und bester Sucher aller Zeiten jedes Spiel gewinne! Man wird mich mit elf zum Kapitän ernennen und dann komme ich schon mit zwölf in die Nationalmannschaft, die anderen Mannschaften werden nur bei meinem Namen erzittern!«

»Oh und wie, mein Quidditchstar«, lachte Fleamont und schlug James väterlich auf die Schulter. »Du bist doch jetzt schon der Beste.« Das ehrliche Schmunzeln auf den Lippen seines Vaters gab James den restlichen Mut, den er benötigte, um sich endgültig von ihnen zu verabschieden. Er schloss sie beide noch einmal in die Arme und stieg dann in den Zug.

»Wir sehen uns Weihnachten!«, rief er ihnen zu und verschwand im Inneren.

Euphemia und Fleamont blieben etwas verloren zurück und starrten stumm auf den Fleck, an dem ihr kleiner Schnatz eben noch gestanden hatte. Tränen sammelten sich in Euphemias Augen und sie vergrub das Gesicht an der Schulter ihres Mannes, der beschützerisch einen Arm um sie legte.

Auch ihm stand der hilflose Ausdruck ins Gesicht geschrieben. Wer würde jetzt jeden Morgen an ihre Zimmertür klopfen, lauthals verkünden, dass er Hunger hätte oder eine Runde Quidditch spielen wollte? Wer würde ihnen den besten Platz auf dem Sofa streitig machen und nachts in ihr Bett kriechen, wenn er einen Albtraum gehabt hatte?

»Es wird nun ziemlich still werden«, stellte Fleamont ernüchternd fest, den Kloß, der sich in seinem Hals bildete, ignorierend. »Das Haus wird ohne ihn ganz schön leer sein.«

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Mit schweren Schritten verschwand James im Zug, drehte sich immer mal wieder um, nur um durch eins der Fenster seine Eltern zu beobachten, doch nach ein paar Metern konnte er sie schon nicht mehr sehen. Im Inneren des Zuges roch es nach warmer Kohle und den leckeren Kesselkuchen, die die Dame mit ihrem Trolley im Zug verkaufte, wie James aus den Erzählungen seiner Eltern wusste. Er wandte den Blick endgültig nach vorne und trat mehr schlecht als recht den Gang entlang auf der Suche nach einem leeren Abteil.

Ihm kamen nur wenige Schüler entgegen, die meisten von ihnen waren scheinbar Vertrauensschüler auf der Suche nach ihrem neuen Abteil, da ihnen allen ein kleines, silbernes V auf der Brust steckte.

Schließlich fand James ein leeres Abteil, wurde doch jäh von einem leisen Schluchzen zurückgehalten. Er warf einen Blick über die Schulter und erkannte ein Mädchen im gegenüberliegenden Abteil sitzen. Ihr flammend rotes Haar verdeckte den Großteil ihrer Schultern und ihr Gesicht, doch das unregelmäßige Beben ihres kleinen Körpers war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie weinte. Hin- und hergerissen warf James dem leeren Abteil sehnsüchtige Blicke zu, doch er konnte das Mädchen nicht einfach so sitzen lassen, seine Mutter würde ihm das nie verzeihen.

Dennoch wollte er nicht die ganze Zugfahrt damit zubringen, irgendeinem Mädchen zu erklären, dass es doch nicht so schlimm war, nach Hogwarts zu fahren, wie sie wohl zu denken glaubte. Mit einer Heulsuse wollte er sich nicht anfreunden. James Potter! Die Stimme seiner Mutter hallte ihm in den Ohren wieder und er erschauderte.

Er zupfte sich seufzend ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Hemdes und ließ schweren Herzens von der Tür des leerstehenden Abteils ab, um in das Gegenüberliegende einzutreten.

Bei dem Geräusch, den die quietschige Schiebetür veranstaltete, blickte die Rothaarige auf. Ihre Augen waren geschwollen und verheult, die Nase gerötet und wund und doch musste James stehen bleiben und sich einen Augenblick sammeln, denn auch wenn sie nicht das erste Mädchen war, dass er je gesehen hatte, war da etwas in ihren grünen Augen, das ihn stocken ließ.

Sie hatte offenbar mit jemand anderem gerechnet und wandte den Blick zurück aus dem Fenster, was James Zeit gab, die Schultern zurückzunehmen, den Rücken durchzustrecken und sich daran zu erinnern, wieso er überhaupt hier war.

»Bitteschön, die Dame«, sagte James in dem charmantesten Tonfall, den er in seinem Zustand aufbringen konnte und hielt dem Mädchen das Taschentuch vor die Nase.

Ungläubig sah sie zwischen dem Schnupftuch und James hin und her, griff dann schließlich doch noch mit ihren zarten Fingern danach und murmelte ein leises »Danke.«

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⁰⁰⁷· ᴱᶤⁿ ˢᶝʱʷᵊʳᵉˢ ᴱʳᵇᵋ

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