Kapitel 11

In den nächsten paar Wochen wich ich ihm jedes Mal aus, wenn ich ihn näher kommen sah. Das Gebäude kam mir so klein vor, obwohl es etwa dreißig Stockwerke hoch war. Er tauchte so oft auf, dass ich im Büro kaum noch etwas geschafft bekam. 

"Hey Julia, alles in Ordnung?", fragte mich Lia, als sie an meiner Kabine vorbeikam. 

"Was?", fragte ich erschrocken. Ich starrte schon seit einiger Zeit auf meinen Bildschirm, ohne zu bemerken, was um mich herum geschah. 

"Du siehst müde aus. Ich denke, du solltest dir den Tag frei nehmen. Du setzt dich schon wieder zu sehr unter Druck.", sagte Lia und versuchte ihre Stimme streng zu halten, aber es gelang ihr nicht, die Besorgnis, die sich eingeschlichen hatte, völlig zu verbergen. 

"Nein, mir geht es gut. Ich war nur gestern Abend lange wach. Übrigens, was meinst du damit, dass ich mich zu sehr unter Druck setze?", fragte ich und drehte mich zu ihr um.

"Ich habe mich neulich mit Mary Beth unterhalten, weil sie den Eindruck hatte, dass du in letzter Zeit viel unterwegs bist und dir kaum eine Auszeit nimmst, um dich zu erholen. Sie hat auch gesagt, dass du das nur machst, wenn du vor deinen Erinnerungen wegläufst oder jemanden aus dem Weg gehst."

Nun, mein Gesicht verriet es, also verzichtete ich auf eine verbale Antwort und zuckte nur mit den Schultern. Außerdem schien es mir, als würde sie mich ködern wollen, damit ich ihr verrate, wem ich aus dem Weg ging.

"Hör zu, wenn du mir nicht sagen willst, wer es ist, kann ich demjenigen nicht sagen, dass sie aufhören soll dich zu belästigen.", sagte Lia, auf eine lässige Art.

Sie änderte ihre Taktik, wie ich sehe. "Warum denkst du, dass ich jemanden aus dem Weg gehe?", erwiderte ich und drehte meinen Stuhl zurück, um wieder auf den Bildschirm zu schauen, wobei ich hier und da ein paar Tasten auf meiner Tastatur anklickte, um meine Website in den Fokus zu bringen.

"Weißt du was.", seufzte sie. "Du kannst so ein verschlossener Mensch sein.", sagte sie mit einer Spur von Verärgerung in ihrer Stimme, als sie sich zu mir hinunterbeugte, als ich mich erneut in ihre Richtung drehte. "Es ist nicht so, dass ich nicht wüsste, wer es ist, aber mir wäre es lieber, wenn du es mir sagen würdest, als dass ich mich so anmaßend verhalten muss." Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust.

"Es tut mir leid, wenn es so aussieht. Aber es ist wirklich nichts, ich habe nur viel mehr E-Mails bekommen, die ich beantworten muss, sodass ich bis spät in der Nacht auf war, um sie zu bearbeiten.", erwiderte ich und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Es wäre nicht gut, ihr noch mehr Anlass zur Sorge zu geben. Ich musste einfach nur durchhalten.

"Ich weiß, dass du damit und mit all den anderen Dingen, die du machen musst, beschäftigt bist, aber im Ernst, ich glaube nicht, dass es das Einzige ist, was dich bedrückt. Du denkst vielleicht ich hätte es nicht bemerkt, aber Mr. Ortega kam normalerweise nicht in diese Etage des Gebäudes, bis du hier angefangen hast.", sagte sie spitz.

Unwillkürlich spürte ich, wie ich mich aufrechter hinsetzte, um zu hören, was sie noch zu sagen hatte. Ich hätte mich dafür treten können, aber da ich nicht zu interessiert wirken wollte, entschied ich mich für eine nur leicht neugierige Antwort. "Wirklich? Vielleicht fand er die Verkaufsergebnisse interessant.", bot ich an, wandte mich wieder meinen Monitor zu und öffnete die erste neue E-Mail. 

Ich hatte die Verkaufsberichte der ersten beiden Ausgaben gesehen, in denen meine Arbeit veröffentlicht worden war, und es gab definitiv einen enormen Anstieg der Verkaufszahlen.

"Vielleicht, oder es gibt jemand anderen, den er interessant findet.", sagte sie geheimnisvoll, als sie sich von meinem Arbeitsplatz zurückzog.

Ich hatte keine Ahnung, was in sie gefahren war. Erst Mary Beth und jetzt Lia. Warum deuteten sie immer wieder an, dass Zack Ortega seit unserer Begegnung nicht mehr er selbst war. 

An einem Abend einige Tage nach diesem merkwürdigen Gespräch, machte ich mich aus Gewohnheit auf dem Weg in die Tiefgarage, nur um mich daran zu erinnern, dass ich mein Auto heute Morgen in der Werkstatt gelassen hatte. Zu meiner Überraschung und Leidwesen war Zack Ortega da. Sein Auto stand in der Einfahrt zum Gebäude und als ich mich gerade wieder umdrehen wollte, rief er mir zu:

"Ich habe gehört, dass dein Auto in der Werkstatt ist."

Neugierig drehte ich mich wieder zu ihm um. Ich hatte das Gefühl, dass er etwas vorhatte, obwohl ich mir nicht sicher war, was er zu erreichen hoffte.

Er trat von seinem Auto weg und schlenderte auf mich zu. "Nun, die Zeiten werden gefährlich, und ich denke, es wäre besser, wenn ich dich nach Hause bringe." Er blieb ein paar Zentimeter von mir entfernt stehen.

"Ich bin mir des Risikos durchaus bewusst, und außerdem möchte ich nicht, dass du denkst, dass du jeden mitnehmen musst, der keine Mitfahrgelegenheit hat.", lehnte ich höflich ab, jedoch konnte ich mir nicht verkneifen hinzuzufügen: "Du bringst Mary Beth bereits nach Hause und es wäre nicht okay, dich einen Umweg fahren zu lassen. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich rufe mir ein Taxi." Ich drehte mich um und atmete erleichtert auf, als ich mich auf dem Weg zurück ins Gebäude machte.

Seine Hand legte sich plötzlich um meinen nackten Oberarm. "Mary Beth hat heute Abend eine Verabredung und es wäre überhaupt kein Problem für mich, dich nach Hause zu fahren. Ich habe sowieso noch einiges in deinem Stadtteil zu erledigen, also könnte ich dich auch einfach absetzen."

Ich wandte mich ihm wieder zu, mein Herz klopfte wie wild und mir stockte der Atem, als ich ihn ansah. Ich war jedoch immer noch  ziemlich wütend über seine Täuschung. Er sah mich flehend an, seine Hand war, sein Griff fest, aber ohne Druck. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und versuchte mir Gründe auszudenken, um sein Angebot abzulehnen. Irgendwie landete ich immer bei der Tatsache, dass ich neugierig war, mehr über ihn zu erfahren.

Er wirkte ein wenig niedergeschlagen und sein Griff lockerte sich, als ich ihm eine ganze Weile keine Antwort gab. Leise und ein wenig schüchtern gab ich ein unsicheres "Okay." von mir.

Die Fahrt dauerte nicht sehr lange, da der Verkehr um diese Uhrzeit immer recht spärlich war. Er fuhr so, wie ich es von jemandem erwartet hatte, der ein großes Unternehmen leitete, aber ich war ein wenig Überrascht von seiner Musikauswahl. Sobald wir eingestiegen waren, drehte er an den Knöpfen seines Autoradios herum und als wir auf die Hauptstraße fuhren, ertönte aus den Lautsprechern Nina Girados Lied 'I don't want to be your friend'.

Obwohl ich mich bemühte nicht mitzusingen, konnte ich mich nicht davon abhalten zu summen. Ich versuchte leise zu sein, denn ich hatte wirklich keine Lust gehört zu werden. Es ist nicht so, dass ich keine Stimme hätte, aber ich hatte nicht das Selbstvertrauen, vor Publikum aufzutreten.

"Ich wette, du hast eine schöne Gesangsstimme.", sagte er leise und im Plauderton,  sodass ich aufhörte zu summen. Ich konnte spüren, dass meine Wangen wie ein Leuchtfeuer brannten und ich war nur allzu froh, dass das Auto einen dunklen Innenraum hatte.

Er lachte leise und mein Magen fühlte sich an, wie bei einer Achterbahnfahrt, als er mir einen Blick zuwarf. "Du musst es nicht verstecken. Wenn dein Summen schon so schön klingt, muss deine Stimme noch schöner sein."

Ich blickte aus dem Fenster und erwiderte darauf nichts. Was auch immer er sagte, verankerte sich irgendwie in meinem Kopf und mir gefiel es überhaupt nicht, mich von jemanden wie ihm so beeinflusst zu fühlen.

"Okay, ich hatte nicht vor die in Verlegenheit zu bringen. Aber ich denke, wo wir jetzt schon fast bei dir sind, können wir auch ein richtiges Gespräch führen.", startete er einen weiteren Versuch.

"Was genau schwebt dir denn vor?", fragte ich ein wenig misstrauisch.

"Nun, zunächst einmal tut es mir leid, dass ich mich nicht offiziell vorgestellt habe und dich etwas anderes habe glauben lassen. Aber es tut mir nicht leid Zeit mit dir verbracht zu haben." Er warf  mir einen kurzen bedeutungsvollen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete.

"Und was soll das heißen?", fragte ich und heuchelte Desinteresse vor.

"Ich wusste, dass es falsch war, dich in die Irre zu führen, aber ich wollte dir sagen, dass ich eine schöne Zeit mit dir hatte. Du bist direkt auf den Punkt gekommen und hast Fragen gestellt, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Und genau das mag ich an dir. Du bist eine verdammt gute Journalistin.", fuhr er fort, sein Tonfall enthielt so viel Bewunderung, dass man es als nichts anderes als das missverstehen konnte.

"Na ja, es ist das, woran ich arbeite, nichts Besonderes.", zuckte ich mit den Schultern und packte meine Sachen zusammen, als er vor meinem Wohngebäude parkte. "Danke fürs Mitnehmen." Ich öffnete die Tür und stieg aus.

Ich erschrak, als er ebenfalls ausstieg und mich zur Tür begleitete, wobei er mir nur ein Lächeln und ein 'Ich bringe dich noch zu deiner Wohnung.", schenkte.

Mit einem weiteren Achselzucken ging ich voraus zu den Aufzügen zu meiner Wohnung. An meiner Tür wandte ich mich ihm zu und sagte etwas förmlicher. "Nun, ich bin jetzt zu Hause, Mr. Ortega. Vielen Dank für die Fahrt und das nach Hause bringen." Würden wir in Japan leben, hätte ich wahrscheinlich eine kleine Verbeugung gemacht. 

"Es war mir ein Vergnügen.", erwiderte er mit dem gleichen Lächeln, dass er mir bei unserem ersten Treffen geschenkt hatte. "Gute Nacht, Ms. Lang. Wir sehen uns morgen." Er machte keine Anstalten zurück zum Aufzug zu gehen. 

Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich, öffnete die Tür und trat in meine Wohnung. Ich benutzte die Tür als Schutzschild und wünschte ihn ebenfalls eine gute Nacht, und war total unvorbereitet auf den kurzen Kontakt seiner Lippen auf meinen. Weil es so plötzlich passierte, konnte ich überhaupt nicht reagieren, als ich sah, wie er auf den Aufzug zuging und dabei dasselbe Lied pfiff, dass ich gerade summte.



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