» the overprotective brother that keeps embarrassing me.
„Wenn du dir nicht eingestehst, was du getan hast, wirst du niemals darüber hinwegsehen können, Emilia."
Ich habe mir unter der Veranstaltung etwas anderes vorgestellt. Vielleicht habe ich mich auch zu sehr von dieser träumerischen Promi-Welt beeinflussen lassen, die von wilden Partys und aufregenden Begegnungen erzählt. Vom teuersten Champagne und von Stars und Sternchen in unbezahlbaren Designerklamotten, die nur für diesen einen Abend angefertigt worden sind. In der Realität sitze ich gerade an einem runden Tisch mit – selbstverständlich – meinen Bruder, Chris Hemsworth, Cate Blanchett und Mark Ruffalo, der eigentlich nicht hierher gehört, sich aber mit den anderen beiden Männer gut versteht. Ich weiß nicht, wie oft schon uns ein Kellner nach etwas Neuem zu trinken gefragt hat, aber mein Bruder und Chris unterhalten sich immer lauter. Ihre Konservation tönt fast zu den anderen Tischen im großen Saal hinüber, doch die Musik ist zum Glück noch einen Tacken lauter. Kein Klassik zu meiner Erleichterung, eher mehr die typischen Lieder aus einem Radiosender. Auf der großen Bühne am Ende des Saals halten hin und wieder unterschiedliche Regisseure reden, zeigen alte Filmschnitte und Outtakes und feiern die lange Mitarbeit miteinander. Man merkt, dass sich das ganze Team über all die Jahre liebgewonnen hat, denn, obwohl der Raum so voll ist, herrscht eine sehr wohlige Atmosphäre.
Ich bin froh, dass es so ist, weil ich nicht daran gewöhnt bin, unter solch vielen Menschen zu sein.
Neugierig blicke ich schließlich von meinem kaum angerührten Glas Wasser zu den anderen bedeckten Tischen hinüber, da mein Bruder sich sowieso gerade nicht für mich interessiert und die anderen gespannt der neuen Rede auf der Bühne folgen.
Alle Tische sind nach den jeweiligen Filmen dekoriert worden, in denen die Sitzenden mitgespielt haben. Auf unserem steht ein Duplikat von Thors mächtigen Hammer und zuerst haben wir aus alten Krügen trinken können, ehe wir zur gewöhnlichen Norm und Gläser zurückgestiegen sind. Außerdem hat die Tischdecke fein säuberliche, goldene Stickereien, die verschiedene Sätze in nordischer Sprache wiedergeben. Da hier wohl kaum einer Nordisch kann, wette ich darauf, dass es schamlose Beleidigungen sind.
Captain America ist zwei Tische weiter von uns. Seine Tischdecke trägt die stolzen Farben der amerikanischen Flagge. Die kleinen Snacks, die uns angeboten werden, werden auf Teller serviert, die seinem Schild unheimlich ähnlich sind. Chris Evans unterhält sich amüsant mit seinem Kollegen Sebastian Stan, Scarlett Johansson ist hingegen zu ihnen so höflich und hört dem Redner zu.
Iron Man ist dicht an seinem Tisch. Er ist farbenfroh in Rot und Gold dekoriert, kleine Roboter sitzen überall verteilt und ein blaues Licht strahlt direkt von der Mitte aus an die hohe Decke. Ich muss grinsen, als ich das Logo von Iron Man an der Decke leuchten sehe. Wie das Batsignal. Robert Downey Jr. stößt mit seinen Co-Stars an und lacht. Der Redner auf der Bühne erzählt von der Geschichte Iron Mans und wie ihn Robert perfekt umgesetzt hat.
Dann sehe ich noch einen Tisch mit kleinen Spielzeuginsekten. Ant-Man. Einen weiteren mit Einhornprints und leuchtende Plastikhörnchen, die die Stars tragen dürfen. Eindeutig Deadpool. Einer, der ganz in Schwarz und Metalltönen gehalten worden ist. In der Mitte steht sogar der allzeit bekannte Felsen von König der Löwen. Nur steht darauf ein schwarzer Panther. Black Panther.
Es sind noch andere Tische darum, aber an einem bleibe ich besonders lange hängen. Der von Guardians Of The Galaxy. Er ist unglaublich bunt gehalten, mit vielen Planeten und leuchtenden Sternen. Das Raumschiff der Guardians steht direkt auf dem Tisch neben einem falschen Mini-Groot und wird ständig von Dave Bautista betatscht. Ich hole tief Luft. Da sitzt er, Chris Pratt. Der große, rothaarige Mann mit dem dezenten Bart trägt einen schlicht gehaltenen Anzug und nimmt gerade einen kräftigen Schluck von seinem Sektglas, während er mit dem Blick gespannt umherschweift.
Stell dir vor, es ist Gift. Und er wird gleich ersticken!!
Ich blinzle erschrocken, und mein Kopf spielt wieder diese seltsamen Dinge ab. Mit einem Mal nennt er mir die ganzen, chemischen Stoffe, um ein Giftmittel herzustellen, und dabei sehe ich vor meinen eigenen Augen, wie Chris das Glas fallen lässt. Botulinumtoxin, Maitotoxin. Es gibt ein lautes, zerschneidendes Klirren, das Glas zerspringt in funkelnde Diamantenscherben und Gäste werfen verwundert ihre Köpfe zum Guardians-Tisch hinüber. Rizin, VX. Dann kippt Pratt plötzlich um.
„Du bist also Emilia." Sofort zucke ich zusammen, als der gutaussehende Amerikaner auf einmal vor mir steht.
Alles nur wieder ein dummer Streich meines Wahnsinns. Mal wieder.
Doch woher weiß er von mir? „Ich... äh...", mache ich anfängliche Stottereien.
Die Menge applaudiert in der nächsten Sekunde freudig drauf los. Ich nutze die mir gegebene Gelegenheit, um mich einigermaßen zu beruhigen, ehe ich wieder mit DEM Amerikaner an diesem Abend ins Gespräch komme. Zum ersten Mal nehme ich einen hastigen Schluck Wasser, schiele aufgeregt zu meinem Bruder herüber, und es ist keine Überraschung, dass er den anderen Chris schon bemerkt hat. Tom hat einen siebten Sinn dafür, sofort die Personen auszumachen, die sich mit mir unterhalten wollen. Öfters habe ich die albernde Vermutung, er hätte so etwas wie einen elektrischen Peilsender an mir versteckt, der an ihn immer ein Signal weiterleitet, sobald jemand mit mir redet.
„Da ist ja der berüchtigte Pratt", grinst Tom herzlich und lehnt sich zu mir hinüber, so dass sein Ellbogen gegen meinen stößt. „Wie geht es dir und deiner Frau?"
„Uns geht es allen gut. Ich bin froh nach der Press Tour von Jurassic World 2, endlich wieder bei meiner Familie sein zu können", der Amerikaner erwidert das Lächeln ebenso freundlich.
Er lehnt sich weiter nach vorne. So weit, dass ich seinen Atem von Pfefferminz und Malzbier einatmen kann, als er die nächsten Worte ausspricht. „Dann hast du es bald geschafft."
„Ich würde dich ja dasselbe fragen, aber ich glaube, die Antwort liegt direkt vor meinen Augen." Verräterisch grinst Chris zu mir, und ich spüre, wie mir förmlich das ganze Blut in die Wangen sprießt. „Tom hat mir erzählt, dass du Angst vor Raptoren hast..."
„Du hast WAS?!" Entsetzt schaue ich meinen Bruder an und das Blut, das zuvor in meinem Gesicht gebrodelt hat, wird blitzartig zurück an mein Herz gesendet. Es rast unglaublich heftig, poltert wild gegen meine unbefangene Brust. Ich kann es nicht fassen! Thomas hat Chris Pratt tatsächlich von meiner Kindheitsphobie vor Raptoren erzählt. Wenn er schon mit anderen Stars über mich reden darf, warum muss es ausgerechnet einer meiner dämlichsten Phobien sein? Und dann auch noch Chris Pratt, der nicht zufälligerweise einen Raptorenflüsterer in den neuen Filmen von Jurassic Park spielt. Schlimmer hätte er mich gar nicht blamieren können!
„Ich habe nur Gutes über dich erzählt, Sweetheart." Er lächelt mich genau so unschuldig an wie er es in solchen Augenblicken ständig tut. Dann ist sein Lächeln etwas schräg, verschmitzt, und seine strahlenden Regenaugen widmen mir einen warmen Blick von Sonnenschein. „Außerdem hast du mir so oft vorgehalten, dass du unbedingt Chris Pratt treffen willst, dass ich gar keine andere Wahl hatte als ihm davon zu erzählen."
Er kann froh sein, dass Blicke nicht töten können - und dass die krankhafte Stimme in meinem Schädel kaum bis nie daran denkt, ihn ermorden zu wollen. Aber gerade jetzt würde ich es nicht mal bereuen, würde sie es doch tun.
„Ehrlich gesagt", Chris Pratt lacht etwas, kratzt sich dabei flunkernd am Nacken und die anderen am Tisch stimmen mit seinem Lachen verschwörerisch ein – außer Tom, „nimmst du kein Blatt vor dem Mund, wenn du über Emilia erzählst. Kiwi-Chris hat mir schon davon berichtet, wie du immer in den Drehpausen an dein Smartphone gehst und es nicht abwarten kannst, ihr zurückzuschreiben. Er hat auch erwähnt, dass du mal etwas aus einem Kinderbuch vorgelesen hast, um es ihr zu schicken. Welches ist es gleich gewesen?"
„Der kleine Prinz", antworte ich stolz und Tom lässt sich seufzend zurück in seinen Stuhl gleiten. Damit hat er offensichtlich nicht gerechnet. Ich drehe mich nun zu ihm herum, den einen Arm über die Stuhllehne gelegt, und widme ihm einen Blick mit erhobenen Augenbrauen mit der schlussreichenden, aber stummen Aussage: „Ich dachte, du erzählst deinen Freunden nichts von mir?"
„Ich habe auch nicht dein strahlendes Grinsen vergessen, wenn du mir mal etwas von Emilia erzählt hast", kommt es vom blonden Chris und mit dem Ellbogen stupst er den Briten neckend in die Seite. Dieser allerdings rutscht immer tiefer in den Stuhl. „Zum Beispiel davon, wie wunderschön sie bei der oder der Familienfeier ausgesehen hat. Oder wie sehr du sie vermisst."
„Hat er nicht sogar beinahe eine Herzattacke bekommen, weil sie ihm einen ganzen Tag lang nicht geschrieben hat?", grinst nun auch Mark Ruffalo mir gegenüber.
Tom räuspert sich stark und richtet sich mit nervösen, herumhuschenden Augen auf. Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr so verspannt gesehen, vor allem weicht er meiner nächsten stummen Frage aus: „Wissen Sie... es?"
„Okay, okay. Ihr habt mich ertappt. Kein Grund gleich alles herauszuhauen!", sagt er erregt und legt seine Hand um sein Glas. Er hält es so fest, dass man seine weißen Knöchel vor Anspannung sehen kann. „Emilia ist nun mal ein besonderer Mensch für mich", presst er zwischen den Zähnen hervor, und doch hat sein Blick etwas Weiches, Vertrautes.
Die Männer lachen alle.
„Natürlich, Tom", lächelt Chris Pratt hinfort, dann merke ich, wie seine braune Augen zurück zu mir gleiten. Ich fühle sie auf mir liegen, doch ich bin zu sehr von dem Verhalten meines Bruders erstaunt. Die Situation gerade ist ihm sichtlich unangenehm. Es gibt nicht wirklich eine Menge an Dinge, die ihn so nervös machen, und es ist niemals das Gespräch anderer über uns beiden gewesen. Jeder hat die Chemie zwischen uns verstanden, die innigliche und nahezu bedingungslosen Verbindung, die wir miteinander teilen. Nur bei seinen Freunden und Arbeitskollegen gibt es offensichtlich einen Unterschied. Bei ihnen muss es etwas anderes sein als bei unserer Familie und gemeinsamen Freundeskreis. Oder er hat ihnen etwas von uns beiden erzählt, was ich besser nicht erfahren soll.
Ich finde es einfach unfair, wie er mir meine erste Begegnung mit Chris Pratt so in den Ruin zieht, da er wohl oder übel zu viel gesagt hat, als er es mir eigentlich versprochen hat. Sollte er ihnen tatsächlich etwas erzählt haben, was ich nicht weiß, dann bin ich nicht die einzige vor uns, die etwas zu verschweigen hat. Und dann ist das vollkommen in Ordnung. Gleiches mit gleichem. Doch es wäre gelogen, würde ich nicht dazu stehen, dass ich furchtbar neugierig auf sein Geheimnis bin.
„Ich will dich ungern von dem hübschen Antlitz Toms ablenken, aber ich bin nicht grundlos zu dir gekommen, Emilia." Chris lächelt mich entschuldigend an, als ich es nur mühevoll schaffe, mich von dem angespannten Anblick meines Bruders zu lösen. Jedoch, ich kann es nicht unterlassen, nach seiner Hand zu greifen und sie aufmunternd zu drücken. Erst, als er sie ebenfalls drückt, weiß ich, dass alles wieder okay sein wird. Und das tut er. Damit kann ich mich endlich voll und ganz auf den hübschen Amerikaner vor mir wenden.
„Ich glaube nicht, dass es einen plausiblen Grund gibt, um mich aufzusuchen. Ich bin nur Toms Begleitung", entgegne ich ihm irritiert und ziehe meine Lippen dezent vor Schüchternheit nach oben.
„Nicht nur das", sein Grinsen wird breiter und trägt ein beunruhigendes Geheimnis in sich, als er den Arm hinter seinem Rücken hervorholt und mir mit vollem Enthusiasmus ein Ding hinhält. Ich habe ein übles Gefühl in diesem Moment und will gerne flüchten, aber ich kann nicht einfach vor Chris Patt wegrennen. Also, Augen zu und durch! „Ab heute wirst du dich nicht mehr vor Raptoren fürchten müssen, junge Raptorenflüsterin."
Alle Beteiligten am Tisch brechen in lautes Gelächter aus. Sogar mein Bruder. Sie lachen so laut, dass die anderen Gäste ihre Gespräche beenden und sich hellhörig zu uns wenden.
„Und falls du dich doch noch fürchten solltest, wird dich Tom bestimmt beschützen." Er zwinkert mir allwissend zu. „Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Emilia. Man sieht sich noch hier irgendwo. Am Buffet ganz bestimmt."
Sie lachen noch schrecklicher, als ich mit verstörendem Blick das Ding in meiner Hand betrachte. Es ist ein blau-graues Plüschtier. Ein Raptor. Ein verdammtes Raptorenplüschtier – mit seiner Unterschrift! Er hat mir tatsächlich ein Stofftier geschenkt, als wäre ich noch ein kleines Kind und keine erwachsene, junge Frau. Ich weiß sofort, wer hinter diesem Übel steckt und hätte am liebsten Toms Hand losgelassen, aber da passiert es völlig unaufhaltsam und schnell.
Da ist auf einmal dieses düstere und leckende Verlangen. Es ist bittersüß und verführerisch, hüllt sich um meinen Verstand wie eine Schlange um sein Würgeopfer. Ich kann es nicht verdrängen, das Gelächter der Gäste ist zu viel für mich, und dann sehe ich auch noch, wie das ganze auf der großen Leinwand hinter der Bühne gezeigt wird. Ich bin eine bloße Lachnummer – und das vor jenen Stars, die ich so unbedingt treffen wollte. Jetzt kann ich sie alle mit einem Mal nicht ausstehen, und...
Ich will ihn töten – und es gibt keinen besseren Weg, um Chris Patt umzubringen, als ihm dieses doofe Raptorenstofftier direkt in den Hals zu stecken, damit er daran fürchterlich erstickt. Das Stofftier zittert in meiner Hand, und ich muss meine zappelnden Beine zurückhalten, um nicht wie eine Wahnsinnige aufzustehen und mich auf Chriss Pratt zu stürzen. Mein Kopf rattert verrückt, pocht und schmerzt, und meine Hand krallt sich so krampfhaft in Tom seiner fest, dass ich es spüre, wie sich meine Nägel durch seine weiche Haut bohren.
„Emi?", flüstert er besorgt und legt seine andere Hand auf meine Schulter. Sollte ihn meine Nägel gerade die Haut von den Knochen reißen, dann ist er erstaunlich gut darin, seinen Schmerz zu verbergen. Oder die Sorgen lassen den Pein erst gar nicht zu.
Ich lecke mir über die Lippen und starre wie eine Irre – was ich in diesem Moment tatsächlich bin – auf den großen Bildschirm. Dann schließe ich panisch meine Augen und hoffe, dass die Stimme in meinem Kopf sich beruhigt. Ich will Chris Pratt nicht umbringen. Ich will überhaupt niemand töten, nur, weil die Stimme es so möchte. Es ist doch eine süße Geste von ihm, dass er mir ein Plüschtier mit seiner Signatur geschenkt hat. Jedenfalls ist es besser als die signierten 0815-Autogrammfotos, die mir mein Bruder immer mitbringt.
Aber die Stimme erlangt in diesen Augenblicken eine unheimliche Menge an Gewalt über mich, und das Verlangen ist stark. So stark. Es ist, als wäre jegliches Straucheln dagegen sinnlos, jegliche ausweichenden Worte, die versuchen, das Szenario hilflos schönzureden, und am schlimmsten: Ich weiß nie, wann es aufhört. Es kann Stunden dauern, sogar Tage, bis die Stimme überhaupt leise wird. Das sind dann jene Tage, bei denen ich nicht das Haus verlasse, und dann gibt es bloß noch mich und meine geliebte Dackelhündin, die die Stimme umbringen will.
Doch mir ergibt sich gerade keine Möglichkeit, ihr entfliehen zu können, und ich öffne schließlich wieder die Augen, um in den sorgenvollen Regenhimmel meines Bruders zu blicken. Er hebt seine freie Hand und streichelt mir behutsam mit ihrem Handrücken über die glühenden Wangen, ehe er mich schwach anlächelt.
„Alles gut", formen seine Lippen leise und ich wünsche mir, es wäre bloß nicht dieses „Alles gut", das man einfach zu jemand sagt, wenn er aufgelöst ist. Eine herkömmliche Form der Kommunikation und mit der gleichen, höflichen Bedeutung wie ein „Hallo", wenn ein Kunde den Raum betritt. Ich wünsche mir, es wäre ein „Alles gut", das wirklich stimmt. Ein „Alles gut", wonach alles wirklich gut sein wird. Doch derartiges ist surreal, und ich schaffe es, allmählich meinen Griff um seine Hand zu lockern. „Es tut mir leid, dass ich dich mitgenommen habe", flüstert er dann in mein Ohr, als er sich zu mir gebeugt hat, und ich kann es nicht ausstehen, wie er den Fehler bei sich sucht. Er weiß, dass der Fehler in meinem Kopf festsitzt und nicht bei ihm. Außerdem schätze ich es unheimlich, dass er mich zu dieser Veranstaltung genommen hat, denn ich weiß, dass ihn das mehr als bloß Kopfzerbrechen gekostet hat.
Ich folge mit wehmütigen Blick, wie er sich auf einmal von seinem Platz erhebt, sein Jackett richtet und sein Regenhimmel wirkt so betrübt, dass ich ihn einfach festhalten muss. Die anderen beobachten neugierig das Geschehen zwischen uns, aber sie haben keinerlei Ahnung davon, was wirklich vor ihnen passiert. Ich glaube nicht, dass ihnen mein Bruder unser Geheimnis erzählt hat oder etwas, das mir schaden könnte. Ich denke einfach, dass ihn irgendwann diese Geheimnistuerei genauso auf den Sack gegangen ist wie mir und dann hat er es nicht länger aushalten können. Er hat über mich reden müssen, und dann so, dass man nicht die ganze Wahrheit dahinter erkennt. Es sind verschleierte Erzählungen gewesen, die trotz den ausgesprochenen Taten und Fakten nicht alles offenbart haben.
„Hörst du das?", fragt er mich und ein Funken in seinen Augen entfacht, der mich immer mit sich reißen wird. Er ist klar und leuchtend wie ein vereinzelter Sonnenstrahl, der sich zwischen die dichten Wolken hervor gekämpft hat. Das ist der Funken von Hoffnung und Weitermachen. Ich und Tom wissen, dass wir trotz solchen Momenten nicht ändern können, dass die Stimme da ist – aber sie wird nichts daran ändern können, dass wir Geschwister sind und das für immer. „Unser Lied... Sie spielen es gerade." Dann lasse ich ihn los und er marschiert selbstsicher auf die Bühne zu.
Ich sehe mich irritiert um, denn er hat nicht gelogen. Aus den Lautsprecher tönt ganz laut jenes Lied, das wir bei unserem ersten Roadtrip durch Neuseeland gehört haben. Es ist nun 3 Jahre her. Nachdem mein erster Roman sich auf die Bestsellerliste weltweit nach oben geschlagen hat, hat er sein Versprechen an mich einlösen müssen. Ein ganzer Sommer nur wir beide, ein Wohnwagen und Neuseeland. Es ist der beste Sommer unserer Zeit gewesen, und ich werde diese warmen Abende nicht vergessen, in denen wir vor unserem Wohnwangen getanzt haben. Die bunten Lichter am Wohnwagen haben leicht geflackert, uns spielerisch angefeuert, und wir sind frei gewesen. Haben all unsere Sorgen und Probleme vergessen können, haben unseren Geist gehengelassen, und wir haben es an diesen warmen Sommerabenden in Neuseeland gewusst: Nichts Böses dieser Welt wird uns aufhalten können. Wir werden jeden unserer Träume verwirklichen, und sollte man versuchen uns aufzuhalten, werden wir einander schützen. Gemeinsam sind wir Rundbäckchen und Lancelot.
Hey brother! There's an endless road to rediscover.
Er tut es. Er wird vor all den anderen auf der Bühne zu unserem Lied tanzen und noch einmal seinen Geist in die Freiheit hinauslassen, als würden wir an jenen unvergesslichen Sommer zurückkehren.
Hey sister! Know the water's sweet but blood is thicker.
Die anderen am Tisch starren mich vor Verwirrung an, als ich entschlossen aufstehe und das Raptorenplüschtier auf meinen Sitz lege. Der Bildschirm zeigt nun mittlerweile Tom, wie er sich bereit zum Tanzen macht, und es ist beruhigend zu sehen, dass ihre Aufmerksamkeit nicht länger auf mir ruht. Vielleicht werden sie es vergessen... oder auch nicht. Aber es ist mir momentan vollkommen egal. Sie werden mich durchaus für verrückt halten und denken, ich wäre nicht dieselbe wie vor wenigen Minuten. Das blonde, fremdartige Mädchen an Toms Seite, das vor zu vielen Augen zurückschreckt. Aber das bin ich eigentlich nicht. Ich bin gerne unter Menschen. Es ist nur diese Furcht, die diese mächtige Stimme in mir auflöst. Wäre sie nicht da und würde mir für jeden den perfekten Tod vorschlagen, wäre ich nicht so empfindlich, wenn ich in eine peinliche Situation gerade.
Oh, if the sky comes falling down for you.
There's nothing in this world I wouldn't do.
Immerhin haben mich jetzt alle Marvel-Darsteller gesehen, und ich weiß, dass ich mir auf Ewig anhören darf, dass ich das Raptorenmädchen bin, aber das ist in Ordnung. Sie werden mich nicht bloß als diese kennenlernen, sondern auch als die perfekte Begleitung für meinen Bruder. Dafür will ich jetzt sorgen.
Hey brother! Do you still believe in one another?
Tom blickt mich überrascht an, als ich vor der Bühne stehe und nach einem Weg suche, hinauf zu kommen. Sein Blick fragt mich besorgt, ob ich das wirklich will, befürchtet einen weiteren Ausbruch der Stimme – doch dieses Mal erinnere ich mich zurück daran. In jenem Sommer hat es keinen einzigen Tag gegeben, wo mich diese beängstigende Stimme heimgesucht. Nur ich und er. Und heute Abend soll es genauso sein. Ich will weder seinen noch meinen Abend ruinieren, und deshalb lasse ich die Mauer in meinen Verstand höher wachsen.
Ich nicke mit lückenloser Entschlossenheit und schenke ihm ein warmherziges Lächeln, welches hoffentlich seinen Kummer ein bisschen verringert.
Hey sister! Do you still believe in love? I wonder.
Und, als ich seine ausgestreckte Hand ergreife, habe ich die ganze Macht über mich zurückerlangt. Ich vergesse die Tatsache, dass er einen Teil zu dem vorherigen Vorfall beigetragen hat und lasse die Wut von meinen Schultern gleiten, denn hier stehen wir auf einmal zu zweit auf der Bühne. Bereit, das peinliche Szenario verschwinden zulassen, indem wir etwas viel Besseres daraus machen. Er lächelt mich an, und ich erwidere es ganz aufgeregt, das Herz wild polternd gegen meine Brust. Nun gibt es kein Zurück. Jetzt werden sie das chaotische Tanzgen der Familie Hiddleston kennenlernen.
Und dann tanzen wir los.
What if I'm far from home?
Oh brother, I will hear you call!
What if I lose it all?
Oh sister, I will help you out!
Keiner der anwesenden Gäste wird verstehen, warum dieses Lied uns gehört. Keiner von ihnen hat die rötlichen Sonnenuntergänge Neuseelands gesehen, als die Welt uns ihre schönste Seite gezeigt hat. Keiner von ihnen weiß, dass wir Geschwister sind und dass wir die Schwäche des anderen kennen, aber genauso seine Stärke. Wir bauen aufeinander auf, und nie, wirklich nie, wollen wir jemals für die Trauer des anderen verantwortlich sein.
Wir kehren zurück zu jenen Sommernächten in Neuseeland, und da gibt es keine Prominente. Keine Raptorenplüschtiere, kein überfürsorglicher Bruder, keine schwache Schwester und vor allem: keine Stimme eines Mörders. Wir sind frei sowie unsere Bewegungen und Herzen.
Und doch wissen wir in dem Augenblick nicht, als wir uns breit grinsend und atemlos in die strahlenden Augen sehen, was noch auf uns zu kommen wird. Wir hören die anderen jubeln, pfeifen und applaudieren, als wir uns dankend verbeugen, und Chris Hemsworth besitzt diese Dreistigkeit, um tatsächlich das Raptorenplüschtier auf die Bühne zu werfen. Ich kichere wie mein Bruder, hebe es auf und drücke es an mich. Es riecht nach Popcorn, Erlösung und – wie überraschend – nach Chris Pratt. Es ist gar nicht mehr so schlimm.
Es wird mich immer daran erinnern, dass ich vor all den Darsteller Marvels mit meinem Bruder getanzt habe.
„Jetzt wissen wir, warum du dir Emilia ausgesucht hast", lacht Mark, als wir uns zurück an unseren Tisch gegangen sind und uns nach Luft schnappend auf unsere Plätze zurücksetzen. „Ihr beide habt dasselbe Talent fürs Tanzen!"
Ich und Tom lachen, weil es durchaus daran liegen kann, weil wir Geschwister sind.
„Und nach dieser hinreißenden Tanzperformance von Loki und seiner zuckersüßen Begleitung holen wir einer unseren neusten Newcomer auf die Bühne! Tom Holland!", ertönt es aus den Lautsprechern und die Gäste klatschen laut.
„Er ist so süß", schwärmt Cate und lehnt sich gespannt zurück.
„Ich sollte mich bei Chris Pratt für das Geschenk bedanken, oder?" Ich sehe nachdenklich zu meinem Bruder. Aber dieser sieht wie jeder auf die Bühne und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ich kenne diesen Tom Holland nicht, habe auch bis jetzt noch nichts von ihm gehört, und nehme einfach an, er ist wieder ein weiterer Regisseur, der irgendeine Rede halten wird. Also wandere ich mit den Augen weiter und bleibe bei der Hand meines Bruders hängen. Meine Zähne beißen sich wie von selbst in meine Unterlippe fest, während ich die roten Striemen auf seinem Handrücken anstarre. Meine Kratzspüren. Ganz alleinig meine.
Plötzlich fallen mir hunderte von Entschuldigungen ein, und ich spüre es. Die Stimme will wieder zurückkommen, will an meinen Schuldgefühlen hinaufklettern. Aber in diesem Fall werde ich sie aufhalten.
Ohne etwas zu sagen erhebe ich mich wieder und versuche, so unauffällig wie möglich den Raum zu verlassen. Kurz schiele ich zur Bühne, um einen jungen Mann mit braunen Haaren dort stehen zu sehen, der nichts anderes kann, außer mit voller Freude zu grinsen, und er redet etwas davon, wie Spiderman einer seiner bedeutsamsten Rollen ist und blah blah blah.
Ich öffne die nächste Tür und bin draußen. Einige lange Gänge beleuchtet durch mehrere Lichter an den Wänden folgen noch, bis ich endlich auf einen großen Balkon angekommen bin. Die Villa ist ein alter Gutshof und so schon ziemlich alt. An den steinernen Mauern, die einen daran hindern sollen, nicht zu springen, wachsen rote Rosenstränge entlang und zwei schwarze Laternen erhellen die Oberfläche. Glücklicherweise kann ich eine alte Bank auf Stein ausfindig machen und laufe rasch über den Marmorboden zu ihr hin. Dann setze ich mich auf sie, ziehe die Knie hoch und greife mir in die vordere Tasche meiner Latzshorts.
Da ist er.
Ein blauer Füller mit silberner Feder.
Mein Rettungsfüller.
Ich trage ihn immer bei mir, um solche Anfälle wie vorher zu verhindern.
Die Knie gegen meinen Oberkörper gelehnt, lege ich dort meinen Arm ab und überlege, ob ich erst am Unterarm oder bei meiner Handfläche beginne. Ich entscheide mich für den Unterarm, bevor die kalte Tinte über meine Haut streicht. Es sind sanfte Bewegungen, manchmal ein leichtes Kratzen, und die Wörter fließen einfach aus mir heraus wie ein Aufspalten meiner Seele. Und mit jedem Wort, das niedergeschrieben wird, wird auch mein Verstand stärker und das Verlangen weniger. Die Tinte spinnt eine schützende Hülle um mich wie die Spinne ein Netz. Meine Seele legt sich achtsam um meine mit Gänsehaut übersäten Haut, und mir ist ganz warm. Ich fühle diese vertraute Sicherheit, und ich weiß, dass ich gewinnen kann. Ich kann diese Stimme besiegen.
Sie wird heute Abend nicht nochmal dieselbe Chance bekommen.
„Hey... ähm..." Ich schrecke auf, als mich eine fremde Stimme von hinten anspricht. Doch so fremd ist sie gar nicht. Es ist dieselbe, die noch vor wenigen Minuten im ganzen Saal zuhören gewesen ist. „Du hast dein Raptorenplüschtier fallengelassen."
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