the ghosts that are afraid of light.


Es ist da! Das neue Kapitel! Woohoooo!!

Nachdem ich letztes Wochenende eine kleine Pause genommen habe, weil ich gesundheitlich nicht die fitteste war und mich auskurieren musste, damit ich auf mein lang ersehntes Konzert gehen konnte, ist es das neue Kapitel da! Ich hoffe, ihr wart nicht allzu ungeduldig! Ich will auch nicht lange um den großen Brei herumreden und wünsche euch ganz viel Spaß beim Lesen!

Ein Dankeschön an leila-ni und dreamcatcherLyn und alle anderen, die die FF eifrig verfolgen und favorisieren

Sternige Grüße,

Sternendurst

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the ghosts that are afraid of light.

Es müssen bestimmt schon 30 Minuten sein. 30 Minuten, in denen nur der Dreck und das Blut von meinem Körper geglitten sind. Aber nicht die Panik und dieses elendige Gefühl. Ich will noch länger unter der Dusche bleiben, hoffend, dass ich nicht länger zittere, dass mein Herz leichter und ich mutiger werde. Doch es wäre feige, sie weiter hinzuhalten. Schließlich ist es der Vorschlag meines Bruders gewesen, dass ich zuerst duschen sollte, weil er mich so nicht sehen kann. Und ich frage mich, wie ich ausgesehen habe, dass selbst Tom mir nicht ins Gesicht sehen konnte. Aber ich habe schon viele Möglichkeiten gehabt, mich mit meinem Bruder ausreden zu können, allerdings habe ich sie nie genutzt. Jetzt will ich nicht nochmal denselben Fehler machen.

Glücklicherweise habe ich noch ein paar Klamotten bei meinem Bruder von früheren Zeiten zurückgelassen. Wie eine Zahnbürste, die schon längst in den Müll gehört, da sie zu einer Person gehört, die hier nicht weiter wohnt. Es sind einfache Sachen. Eine Leggings und ein graues Oversize-Shirt mit dem NASA-Logo. Kleidung, die für lange Filmnächte und tiefgründige Gespräche über das Leben und die Welt dient. Die Erinnerungen an diese Nächte liegen mir schwer im Magen. Oder es ist eher die Frage, ob es solche Nächte wiedergeben wird. Oder ob sich ab den heutigen Tag an alles verändern wird. Ins Schlechte, doch Unvermeidliche.

Meine Hand tut weh, und ich weiß, dass sie eventuell verarztet werden muss, doch so muss es auch mein Leben. Alles muss wieder richtig eingerenkt werden wie es sich gehört, sodass es nicht ein weiteres Mal durcheinandergebracht werden kann. Ich darf dem Totenschreiber keinen Einfluss auf mein Leben geben. Es gehört mir, nicht ihm. Und so gehören auch die beiden Toms dazu, die im großen Wohnzimmer in der schwarzen, edlen Sitzecke auf mich warten. Mein Bruder hat schon immer alles klassisch und edel eingerichtet; wie ein insgeheimer Royal. Aber doch habe ich mich nie hier fremdgefühlt, weil überall hat es nach Wald gerochen und somit nach meinem Bruder. Nach Halt und Familie.

Ich streiche mir ein paar nasse Strähnen hinter das Ohr, die verletzte Hand in einen Verband eingewickelt, den ich auf die Schnelle zusammengefuchtelt habe, und gehe die dunklen Treppen hinunter. Sie beide sehen mich an, und Toms Nase ist rot und seine braune Tiefen werden von einem Schleier aus Trauer und unendlich vielen Fragen bedeckt. Sein Haar ist unordentlich, dunkle Schatten unter seinen Augen verraten mir, dass er nicht viel geschlafen hat, und er trägt eine rotkarierte Jacke mit weißen Innenfutter, die ihm etwas zu groß ist. Ansonsten ganz einfach wie ich: ein weißes Shirt und eine Jeans. Und mein Bruder hat eine ausdruckslose Mimik, die langen Beine übereinander verschränkt. Er hat einen leichten, blauen Pullover an und enganliegende Jeans. Sein Bart ist immer noch da, aber gestutzter und gepfleglter als das letzte Mal. Als sich unsere Blicke treffen, weiche ich seinen eingehenden Blick aus und starre zu der roten Teekanne und den vier Tassen. Es riecht nach Honig und gesunden Kräuter. Einer meiner Lieblingstees. Mein Herz wird schließlich noch schwerer, als ich mich neben Tom setze und seinen verlorenen Blick auf mir spüre. Eine gewisse Distanz liegt zwischen unseren Körper. Eine Sicherheitsmaßnahme, weil so gern ich mich auch in seinen Armen versinken lassen und in mein Zuhause zurückkehren will, scheint es nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein.

Nervös lege ich meine Hände auf meinen Schoß, und Schuld lässt meine Schultern hängen. Auf einmal fühle ich mich für so vieles schuldig. Für Toms schlaflose Nacht und den Sorgen in seinen Tiefen, für die psychische Distanz, die zwischen mir und meinen Bruder herrscht, und für die vielen Geheimnisse, die noch nicht ausgesprochen worden sind, aber es bald werden. Für mein plötzliches Hineinplatzen und für die Worte, die noch gesagt werden, weil ich weiß, dass sie nicht alle gut sein werden. Aber das kann ich nicht ändern. Manche Dinge sind unmöglich schönzureden. Und ganz oft ist es die Wahrheit.

„Du hast dir die Haare geschnitten", beginnt mein Bruder und seine Stimme ist klarer, ruhiger als das letzte Mal. „Und offenbar hat Bill zurück zu dir gefunden." Ich weiß nicht genau, was ich sagen soll, oder ob ich überhaupt was sagen muss. Also nicke ich einfach und starre auf die Teekanne, aus der leichter Dampf kriecht. Ich kann es nicht. Ich kann nicht meinen Bruder ansehen, ohne daran zu denken, was ihm angetan worden ist und was ich zu ihm das letzte Mal gesagt habe. Er weiß nun, dass wir nicht blutsverwandt sind. Er kennt die eine Wahrheit, aber nicht die, dass er trotzdem mein Bruder bleibt. Für immer.

„Wer ist dieser Bill?", will Tom wissen und sein Ton ist ganz anders. Zittriger, unkontrollierter, und irgendwie traurig. Da ist nichts von dem wunderbewirkenden Sonnenjunge, zu dem ich das letzte Mal gesagt habe, dass ich in ihm hoffnungslos verliebt bin. Und es ist nicht bloß Verliebtsein. Ich liebe ihn. Das mächtigste, wozu ein Herz und ein Verstand gemeinsam fähig sein. Aber er richtet diese Frage nicht an mich, weil er sieht nicht zu mir. Sie ist für meinen Bruder.

Dieser lehnt sich in seinem Sessel zurück und sein eindringlicher Blick macht mich noch verrückt. Ich will nicht wissen, was sich noch in seinen Regenaugen aufhält, deshalb vermeide ich den Augenkontakt auch. Es könnte Wut sein, oder Verletzung, und ich könnte beides nicht ertragen. Es soll wieder Liebe und Sänfte sein. Doch es ist ein bitterer Herzenswunsch, und ich muss mich wirklich anstrengen, um nicht sofort loszuweinen.

„Bill..."

„Bill ist auf demselben Internat wie ich gewesen", unterbreche ich meinen Bruder. Statt zu weinen spreche ich lieber, hole zuvor ein starkes Mal Luft, um mich zu sammeln, und dann fließen die Worte einfach wie es die Tränen getan hätten. Aber sie sind nicht leichter, wenn nicht sogar schwerer. Aber besser als jämmerlich zu weinen und vor den beiden zusammenzufallen. „Er hat mit denselben Verlangen wie ich zu kämpfen gehabt. Und das hat uns miteinander verbunden. Aber er hat nach einer Weile aufgehört dagegen anzukämpfen." Ich erzähle ihm die Geschichte von mir und Bill, von unserem Treffen am Flughafen und meinem Zusammenbruch und lasse kein Detail dabei aus, weil ich nichts zu verschweigen habe. Weder vor ihm noch vor meinem Bruder. Ich habe lange genug mitangesehen, was lügen anrichtet. Während ich erzähle, greift mein Bruder öfters zu seiner Teetasse und nimmt einen Schluck, füllt nach einigen Minuten nach, bis ich am Ende angekommen bin und ihnen erzähle, dass Bill vom Verlangen besessen ist.

„W... Warum hast du mich nicht angerufen? Oder mir geschrieben?" Tom gibt nach und seine honigraue Stimme sinkt bei den nächsten Worten, weil sein Schmerz zu gewaltig ist. „Warum hast du dein Handy ausgeschalten?" Es fällt mir leichter als angenommen, ihn anzusehen, und vielleicht ist das einfach so, weil ich festgestellt habe, dass Liebe nicht leicht ist. Oder es nicht leicht ist, jemand zu lieben, weil man immer mit dem Risiko lebt, so verletzt zu werden, dass man nicht mehr lieben will. Aber ich bin hier, bei meinem wunderbewirkenden Sonnenjunge, und ich weiß, dass er es mir erst ermöglicht hat, jemand so zu lieben wie ich ihn liebe. Und dafür riskiere ich alles. Aber möchte ich keineswegs, dass er aufgrund meiner Dummheiten leidet und sich verliert. Ich habe verstanden, dass er mich braucht; dass wir einander brauchen, und deshalb sehe ich ihn an.

Weil ich die einzige bin, die ihn wieder auf den richtigen Weg im Labyrinth führen kann.

Und es ist nicht mein Labyrinth. Es ist seines.

Auch in seinem eigenem Labyrinth kann man sich verirren. Und das ist das schlimmste Verirren, was einem passieren kann.

Sich selbst verlieren.

„Zuerst habe ich mein Ladekabel im Hotel vergessen, und dann habe ich es bei der Demo verloren. Natürlich hätte ich mir ein neues Ladekabel kaufen können, aber..." Wir wissen, wann es für bestimmte Dinge nicht die perfekte Zeit ist, doch ich kann es nicht stoppen. Das glückliche Lächeln, wenn ich an meinem liebenswürdigen Vater und sein gebrochenes Herz denke und an das Funkeln in seiner Kaffeeaugen, als ich in meinem Zimmer zu Prince getanzt habe. Sowie es seine Frau immer getan hat. Und ich fühle mich nicht schlecht, im falschen Moment zur falschen Zeit zu lächeln, weil irgendwie bin ich noch glücklich, ganz gleich, was in den letzten Stunden vorgefallen ist. Tom scheint mir das nicht übelzunehmen, seine braune Tiefen leuchten etwas auf, als hätte er nur auf mein Lächeln gewartet.

„Ich bin zu sehr damit beschäftigt gewesen, meinen Vater kennenzulernen", beende ich schließlich meinen Satz, und plötzlich höre ich das Klappern von Geschirr. Ich wende den Blick zu meinem Bruder und sehe, wie die Tasse in seiner Hand sich schüttelt und rüttelt, weil seine Hand so zittert.

„Dein Vater ist also ein guter Mann?", fragt Tom nach und seine Stimme wird wieder so honigrau, dass mein Herzschlag automatisch schneller wird. Er ist nicht wütend auf mich, zumindest habe ich bis jetzt noch keinen Zorn erhascht. Weder in seinem Ton noch in seinem Blick. Ab und zu habe ich die Verletzung wahrnehmen genommen; der Schmerz der Ungewissheit und der Sorge, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet habe. Ich weiß, dass ich das hätte vermeiden können, und doch habe ich es zugelassen, dass ich ihn verletze. Es ist schwer für mich zu verstehen, warum er mir nicht zornig auf mich ist, aber ich nehme an, er geht damit anders um als ich es von anderen gewöhnt bin.

Tom ist wohl einer dieser seltenen Personen, die das Hier und Jetzt mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Vergangenen. Das hat er mir schon oft bewiesen. Und ich bin überaus froh darüber, dass er mir mein falsches Handeln nicht vor dem Kopf hält, weil er kennt mich wirklich. Er weiß, dass ich denselben Fehler nicht noch einmal begehe, und genau deswegen scheint er es mir nicht vorzuhalten. Oder er wartet auf etwas und ich weiß es einfach nicht. Aber daran will ich nicht denken. Das wäre nicht der Tom wie ich ihn lieben gelernt habe.

„Er ist mehr als gut", antworte ich mit erwärmten Herzen und blicke zurück in sein schönes Gesicht, das aufgeweckter, lebendiger wirkt als vor wenigen Sekunden. Er hat einen kleinen Bartwuchs über der Lippe und seinem Kinn bekommen, als hätte er ganz vergessen, sich zu rasieren. Aber es lässt ihn reifer wirken, und ich mag es, diese Männlichkeit von ihm zu sehen, weil so bemerke ich, dass – wenn ich wirklich ein Pinguin wäre – Tom derjenige wäre, den ich für den Rest meines Lebens lieben will. Mit all seinen Makeln und Kleinigkeiten, die ihn einzigartig machen, weil ich jede einzelne davon liebe. Es ist nicht einfach er, es sind Dinge wie diese, die ihn erst so liebenswert machen. „Mein Vater ist zwar ein gebrochener Mann, aber trotzdem hört er nicht auf jene zu lieben, die ihm etwas bedeuten. Und das bewundere ich sehr an ihm."

Tom rückt so zu mir heran, dass die erschaffene Distanz von mir nicht weiter existiert, und sein Knie berührt meines. „Er ist nicht der Totenschreiber?", fragt er aufgeregt, und ich muss darüber grinsen, dass er wie ein kleines Kind wirkt, das man gerade eine spannende Geschichte erzählt. Er hört mir ganz aufmerksam zu, und doch sind es die weichen Tiefen eines jungen und liebenden Mannes, die mich ansehen.

Ich schüttle den Kopf und meine unverletzte Hand findet seine so schnell, als wären sie magnetisch voneinander angezogen worden. Ein wohliges Gefühl löst den Knoten in meinem Magen auf, als ich die geborgene Wärme und Sicherheit seiner Nähe fühle, und nun glaube ich ist es in Ordnung, wenn ich in unser Zuhause zurückkehre.

„Er ist das wahre Opfer vom Totenschreiber", versuche ich zu erklären und seine Hand drückt meine, als er sieht, wie ich wieder den Kopf hängenlasse, „und ich werde das nächste sein, wenn ich ihn nicht aufhalte. Er..." Ich beiße mir für einige energische Herzschläge lang in die Unterlippe und gewähre es Tom, dass er seinen Arm um mich legt, denn, als würde er mich gerade wieder zusammenflicken, wandert meine Wange gegen seine Schulter und mein Blick geht woandershin. „Er will mich."

Und meine Augen treffen auf den Regen, und er ist trüb und angeknackst. Aber da ist kein Anzeichen von Wut, bloß Schmerz, den ich kenne. Ich fühle ihn auch in meinem Herzen brennen, fühle ihn wie Stacheldraht, der sich zwischen meinem Bruder und mich aufgerichtet hat. Er will uns voneinander fernhalten, aber mich kann er nicht abschrecken. Lieber verdreifache ich den Schmerz als meinen Bruder noch einmal zu verlieren.

„Es tut mir leid", murmle ich und meine Knie sind wie Butter, als ich versuche, wiederzustehen. Zuerst glaube ich, Tom will mich stützen, doch dann drückt er mir nur einen zuckersüßen Kuss gegen die Wange und lächelt mich an.

„Ich helfe mal Lyn beim Schokokuchen", meint er und geht an mir vorbei. Aber ich merke es an seinem sehnsuchtsvollen Blick, wie gern er bei mir geblieben wäre, daran, wie seine Finger an meinen streifen und er sich zusammenreißen muss, sie nicht mit meinen zu verschnüren, zögernd, weil er wie ich bemerkt hat, dass unser Zuhause nichts ist ohne die andere dazugehörige Person. Doch er scheint zu verstehen, dass das folgende Gespräch nur meinen Bruder und mich betrifft, und lässt seine Sehnsucht verlieren. Er ist viel erwachsener als ich, weil ich mir wünsche, dass er meine Hand hält, mich stärkt und nicht fort geht, schließlich bin ich erst wieder nach Hause gekommen. Jedoch, ich muss das genauso hinnehmen wie er. Es ist mein einziger und letzter Versuch, wieder zu meinem Bruder zurückzufinden. Wir haben uns aus den Augen verloren, das können wir beide nicht verleugnen, und heute ist der Tag, wo wir wieder zueinander finden. Wir haben den Stacheldraht zwischen uns schon zu viel Platz gegeben, dass Herzschmerz nicht auszuschließen ist.

„Du hast ihn getroffen? Deinen Vater?" Ich sehe erst wieder zu meinem Bruder, als er zu sprechen anfängt. „Obwohl du gewusst hast, dass er eventuell der Totenschreiber ist?" Seine Stimme ist ein beunruhigendes Schwanken, worauf ich mich wieder setzen muss. Ansonsten hätten mich meine bebenden Beine nicht auf Ewig gehalten. Sein Blick verrät mir, dass er nicht verstehen kann, warum ich das getan habe, aber das heißt nicht, dass er es nicht versucht. Die Falten zwischen seinen Augen sagen mir nämlich, dass er versucht, mich zu verstehen. Und ich will ihm dabei helfen wie früher schon.

„Ich wollte wissen, ob es stimmt", antworte ich ihm und halte meinen Ton ruhig, damit er bemerkt, wie ernst ich das alles hier meine, „außerdem hat die deutsche Polizei gesagt, dass er nicht das Land verlassen hat und so..."

Tom fasst sich an die Stirn. „Er ist Deutscher?"

Ich nicke. „Meine Eltern sind beide deutsch, aber haben für eine Zeit lang in den Vereinigten Staaten gelebt. Deshalb hat er so gut und problemlos mit mir Englisch sprechen können."

„Was ist mit deiner Mutter? Haben sie sich etwa auch..." Er muss schwerschlucken, als erweckt das nächste Wort böse Erinnerungen in ihm, und ich bekomme einen Schmerz zu sehen, dem ich öfters schon begegnet bin. Der Schmerz eines Kindes, das ohne Vater aufgewachsen ist. Er hat was von Unvollständigkeit, etwas von einer Lücke im Herzen, für eine ganz besondere Person namens „Vater" bestimmt ist, aber da ist niemand, der sie einnehmen kann oder möchte. Oder der ihm das Gefühl eines Vaters verleiht. „Sind sie auch getrennt?"

Ich muss gegen den Drang ankämpfen, meinen Bruder in die Arme zu fallen, weil seine angespannte Haltung mit jedem weiteren Wort, das meinen Mund verlässt, einknickt. Wie ein Blatt im Herbst, das langsam vom Leben verlassen wird. „Der Totenschreiber hat sie umgebracht", sage ich leise und kneife die Lippen zusammen, weil ich mir das massive Gewicht dieser tragischen Familiengeschichte bewusst wird, „aber weil die DNA am Tatort mit der meines Vaters übereingestimmt hat, haben sie meinen Vater eingesperrt. Er selbst weiß nicht, wie das sein konnte, doch sie haben ihn erst dieses Jahr wieder entlassen, weil ihre Untersuchung falsch gewesen ist. Die gefundene DNA gehört zu jemand anderem."

Er seufzt und fährt sich mehrmals durch die Haare, während er sich nach vorne beugt. „Weißt du, was ich nicht verstehen kann? Wie du annehmen konntest, dass du nicht zu unserer Familie gehörst. Wir haben dir nie etwas getan und..."

Ich muss ihn unterbrechen, bevor er noch weiter auf falscher Fährte wandert. „Nein, nein. Ich habe niemals daran gezweifelt, nicht zu euch zu gehören. Es ist nur..." Eine Pause, in der ich meine Tränen zurückblinzle. „Ich bin die einzige von unserer Familie gewesen, die mit diesem Verlangen geboren worden ist. Also habe ich mich gefragt, woher das kommt, und unsere Familiengeschichte untersucht. Aber es hat keinen Hiddleston gegeben, der solch ein Verlangen besetzen hat, und so... So habe ich in der Vergangenheit weiter nach Antworten gesucht und habe herausfinden können, dass in demselben Jahr, wo ich geboren worden bin, ein bekannter Serienmörder, der Totenschreiber, in Deutschland gemordet hat. Aber er ist im ungefähren gleichen Rahmen wie mein Geburtstag gefasst worden, und dann... bin ich eines Abends in das Zimmer unserer Mutter gegangen und habe sie gesehen. Meine Adoptionsunterlagen. Schon vorher bin ich mir sicher gewesen, dass ich mit dem Totenschreiber verwandt bin, weil er seiner Opfer auf die Haut geschrieben hat, aber... Aber ich bin nicht mit ihm verwandt und leider auch nicht mit dir."

Er zieht scharf die Luft ein und sein vertrautes Gesicht ist in seinen großen Händen vergraben. Dieser Anblick lässt mich die scharfen Spitze des Stacheldrahts spüren, der sich nun um mein Herz spannt, aber ich bleibe stark und rede weiter. Ich habe noch nicht das wichtigste von allen Wahrheiten gesagt.

„Aber das ist mir egal, Thomas, weil du immer mein Bruder bleiben wirst. Ich empfinde für dich wie es eine kleine Schwester tut, die ihren großen Bruder über alles liebt, weil du bist als großer Bruder in mein Herz gewachsen und das wird so bleiben", gestehe ich ehrlich und diese Worte auszusprechen bringt den Stacheldraht zum Brechen, denn mein Herz schlägt weiter, ohne dass es nochmal stickt oder zwickt. Nur bleibt es schwer, und ich weiß, dass es noch zu viele Lasten gibt, die ich zu tragen habe. Die ich und mein Bruder loslassen müssen, damit wir wieder einander aufbauen können. „Und ich liebe dich, Tom. Du bist mein Rückenschild, mein Lancelot. Und selbst wenn ich in deinen Augen eine Mörderin bin, wird das nichts an meine Liebe für dich ändern. Du kannst mich von dir stoßen und mich als Mörderin betiteln, aber ich werde nicht aufhören, für dich da zu sein. Schließlich bin ich dein Rundbäckchen und das ist alles, was ich für dich sein möchte." Jetzt stehe ich auf und Tom nimmt seine Hände weg, um mit feuchten Augen zu mir hochzusehen. Ich fasse mir an die eifrig schlagende Brust und lächle ihn traurig an, aber doch mit einer Liebe, die nur meinem Bruder gilt. Eine Liebe, ohne die ich keine Hiddleston wäre. Und ich bin eine Hiddleston. Ja, verdammt nochmal. Und er ist mein Bruder. Wir sind eine Familie, und das schwarze Meer wird klarer mit den Erinnerungen daran, wer wir wirklich sind. Wir sind keine Fremde, kein Opfer und Täter, nur Bruder und Schwester.

„Es tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt, dass ich die Therapie bei Dr. Habicht beendet habe", fange ich an, mich für das zu entschuldigen, was ich hätte viel früher tun sollen, und es ist, als würde ich mich gerade selbst von all dem Elend befreien, dass die Lügen in mir hinterlassen haben. „Und es tut mir leid, dass ich dir nichts von mir und meinem Toms Treffen erzählt habe. Und es tut mir leid, dass ich dir nicht von meinem Vater erzählt habe oder davon, dass ich adoptiert worden bin. Und es tut mir leid, dass ich zu feige gewesen bin, um dich auf deine Probleme anzusprechen. Es tut mir so leid. So sehr..." Ich atme tief ein und aus, aber doch fühle ich, wie die Tränen meinen Wangen hinabrollen. „Es tut mir leid, dass ich eine schlechte Schwester gewesen bin, weil ich dich habe nicht beschützen können. Wäre ich nicht zu Tom gegangen, dann... dann hätte man dir nicht wehgetan. Und es tut mir leid, dass ich manchmal so schwach bin und nicht gegen das Verlangen ankomme. Ich hätte stärker sein müssen, das weiß ich. Ich hätte dir so vieles früher erzählen müssen als im Nachhinein, dann hätten wir uns nicht verloren und gestritten. Dann wüsste du, dass ich dir niemals wehtun könnte. Es..."

„Hör auf dich zu entschuldigen", schneitet er mich ab und steht nun selbst. Regen entweicht seinen Augen mit den gequälten Ausdruck und seine Schultern beben, als würde er sich gleich von seinem Ast lösen und leer zum Grund gleiten. „Es ist meine eigene Schuld gewesen, weil ich nicht gewusst habe, wie ich dir oder überhaupt jemand anderes davon hätte erzählen sollen. Ich hätte dir so gerne davon erzählt, was in meinem Kopf abgeht, aber ich habe es nicht gekonnt. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil mir einfach die Worte gefehlt haben."

Ich schniefe und hasse den Tisch zwischen unseren Beinen, der uns daran hindert, aufeinander zu zu gehen. Es ist das erste Mal, dass er nicht weiß, wie er mir etwas erzählen soll, und daran merke ich, dass es einfach nicht an mir liegt, warum er es nicht früher hat sagen können. Es gibt Veränderungen sowohl als auch Schicksalsschläge, die kann man nicht auf der Stelle einen anderen sagen, weil man sie selbst noch nicht so richtig verstanden hat. Das braucht seine Zeit, sowie manche Dinge einfach reifen müssen, bis sie gut sind. Und es ist Ordnung, solange man deshalb nicht den eigenen Kopf verliert. Mein Bruder hat das allerdings leider vergessen.

„Die Worte wofür?"

„Für alles, Emilia, für alles", murmelt er verzweifelt und lässt sich zurück in den Sessel fallen, als würden ihn die unausgesprochenen Probleme an letzter Kraft rauben. Er sieht zu mir, und da sehe ich ihn. Sein suchender, hoffnungsloser Blick nach Halt und Antworten, die ihm all das erklären können, was er selbst nicht verstehen kann. Und es bin nicht ich, es sind die Geister, die erst die Probleme in sein Leben gebracht haben. Er fasst sich an die Nase und zieht tief die Luft ein, aber die Last in seinen Regenaugen bleiben riesige, graue Wolken. Sie lassen kein einziges Sonnenlicht durch. Nicht mal den Mondschein, der eigentlich zur nächtlichen Dunkelheit gehört. Aber das ist keine nächtliche Dunkelheit, weil sie ist verwundbar und offensichtlich. Plötzlich verzieht er seine Lippen zu einem schwachen Lächeln, und es ist könnte nicht schmerzlicher sein.

„Ich bewundere dich dafür, dass du mir alles erzählt hast, weil ich... Ich kann es irgendwie nicht", säuselt er atemlos und blickt mich mit einer Entschuldigung an, die keine Worte gebraucht. Ich kann es schon in seinem grauen Regen erkennen, wie sehr ihm das alles leidtut und wie bitterlich groß der Wunsch ist, alles wieder rückgängig zu machen. Aber das geht nicht. Es gibt keine Taste in unserem Leben, die man drückt, um bestimmte Augenblicke zu löschen. So einfach ist das Leben nicht. Doch gäbe es diese Taste, so würden wir auch nie aus unseren Fehlern lernen und dadurch stärker werden.

Und genau das sage ich ihm, während ich um den Tisch herumgehe und langsam auf ihn zu.

„Es gibt einen Grund, warum ich dir das alles endlich so offen erzählen kann, Bruderherz." Bei dem letzten Wort blickt er erschrocken auf, als hätte ihn meine Worte aufgeweckt. Sein Augen sind geweitet, ganz fassungslos, aber ich kann auch viel mehr in seinem Regen sehen als bloß Schock und Trauer. Ich sehe da immer noch meinen Bruder, mit dem ich in Neuseeland unter dem Sternenhimmel und lauten Donner getanzt bin; der mir seine Hand gereicht hat, um mich aus der Dunkelheit zu holen, wenn ich mich darin verloren habe; und mein Bruder, der dieselbe innige Liebe für mich empfindet wie ich für ihn. Diese, die ein Leben lang anhalten wird. Wir sind Geschwister. Wir sind die Twin Towers. Wir sind unzertrennlich.

„Weil du mein Bruder bist und ich dir von fortan immer die Wahrheit erzählen möchte", gestehe ich ihm und bleibe vor ihm stehen, „ich habe so oft gelogen, um mich zu verstecken oder es anderen recht zu machen. Ich will mein Leben nicht weiter so leben. Ich will mich nicht verstecken. Vor keinem. Und vor allem will ich dich wieder, Tom. Ich will meinen Bruder zurück. Du gehörst zu meinem Leben dazu." Wir sehen uns an, und es kommt einfach über mich, als hätte sich etwas in mir geöffnet, das davor fest verschlossen gewesen ist. Und nun strömt alles aus mir heraus. „Weißt du, was ich am meisten gefürchtet habe? Nicht mehr deine Schwester sein zu können, nachdem du die Wahrheit erfahren hättest. Aber ich habe eingesehen, dass Furcht viel schlimmer als das Gewissen ist. Lieber will ich das Gewissen haben, für dich länger keine Schwester zu sein, als dich ganz aus meinem Leben zu verlieren. Das könnte ich nicht ertragen. Schließlich zählt das Herz mehr als das Blut. Und mein Herz sagt mir, dass du mein Bruder bist und die Wahrheit verdienst."

Plötzlich legen sich zwei Arme um mich und ziehen mich auf Toms Schoß. „Du bist meine Schwester, Rundbäckchen", säuselt er mir gegen das blonde Haar, „und du wirst es auch bleiben. Für immer. Ich weiß nur nicht, ob du tatsächlich noch ein Teil meines Lebens sein möchtest, nachdem ich mich dir gegenüber so falsch verhalten habe. Oder ob du überhaupt mein neues Leben akzeptieren wirst."

„Dein neues Leben?", frage ich verwundert und kuschle mich zeitgleich in die vertraute Wärme meines Rückenhalts, meines fast verlorenen Bruders. Ich kann gar nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, ihm wieder so nahe zu sein. Es ist, als würde sich gerade alles zusammenrücken, was vor wenigen Wochen noch zerrissen worden ist, und jetzt fügt sich alles wieder so zusammen wie es sich gehört hat. Aber es ist nicht dasselbe, was dabei entsteht. Es ist etwas Neues, etwas Standhaftes. Ein neuer Turm entsteht aus den Bruchstücken der Twin Tower. Er ist mächtiger und größer, und dieses Mal wird er nicht so schnell wieder zusammenfallen. Er besteht nämlich aus uns beiden und unseren Herzen, deren Schläge mehr zählen als der Wert unseres Blutes. Ein Turm aus vollkommener Ehrlichkeit.

„Ich werde Vater", antwortet er mir und drückt mich so von sich, dass wir uns gegenseitig in die wässrigen Augen sehen können. Und da ist kein stürmisches Meer in seinem Blick, das mich weiter von ihm treibt. Eher ziehen mich die Wellen hinauf, zurück an die Oberfläche zu ihm, als hätte er an neue Kraft erlangt. Ich bin so froh darüber, nicht ertrunken zu sein. „Und das schon bald."

Ich blinzle die letzten Tränen weg, während mir das nächste fast im kratzigen Hals steckenbleibt. „Wie...?"

Er hebt die Hand und wischt mir achtsam die Tränen von der Wange. So, als wären sie die letzten Trümmer der zerfallenen Türme, die es nicht mehr gibt. Es gibt jetzt nur noch einen einzigen. Und er ist wir.

„Ich habe letztes Jahr diese Frau kennengelernt", beginnt er zu erzählen an und meine Augen weiten sich vor Staunen wie die eines Kindes, wenn es auf dem Schoß des Weihnachtsmann sitzt und zuhören bekommt, dass er sein größter Wunsch erfüllen wird. „Wir hatten einen schweren Start, weil sie von derselben Angst wie ich betroffen gewesen ist. Auch ihr hat man das Herz so gebrochen, dass sie sich dafür entschieden hatte, nicht mehr zu lieben. Obwohl sie sich so sehr danach gesehnt hat, hat sie lieber an sich vorbeiziehen gelassen und ihr Herz in Sicherheit bewahrt. Ich habe das gekannt. Diese schmerzliche Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit; und diese Naivität, wenn man sich in jemand verliebt und alles von sich selbst aufgibt, bloß weil nichts mehr zählt außer die eine Person. Ich habe mir gewünscht, mich wieder verlieben zu können, vollkommen furchtlos und gewillt dazu, den Herzschmerz zu riskieren. Und irgendwie hat sie sich für dasselbe entschieden – und mich gewählt. Ich weiß gar nicht, wie ich sie dir beschreiben soll, weil sie so unglaublich toll ist, als hätte ich ein verstecktes Werk von Shakespeare entdeckt, das ich noch nicht gekannt habe. Und es ist das schönste und wundervollste Werk, das ich jemals von ihm gelesen habe. Es ist einzigartig, unvergleichbar, und so voller Liebe und Hoffnung. Ganz anders als ich es erwartet habe, und doch habe ich mich darin verloren. Ich könnte dieses Werk für den Rest meines Lebens lesen. Jeden Tag zur jede Stunde und zur jeder Minute. Es macht mich so glücklich wie noch kein Werk zuvor. Dieses Werk... Es muss für mich bestimmt sein. Und das Lyn. Sie ist das größte und schönste Werk in der ganzen Welt. Aber..." Jetzt weicht ihm dieses breite Grinsen aus dem Gesicht und seine Stimme sinkt, und ich vermisse es sofort, seinen Antlitz so strahlen zu sehen wie ich es nur von Tom kenne, wenn er mich anschaut. Als hätte er das Licht seiner Welt gefunden.

„Sie ist nach wenigen Monaten schwanger geworden. Ungeplant. Natürlich habe ich schon immer Vater werden wollen und mir ist klar, dass ich nicht mehr der Jüngste bin, doch... Wir sind noch nicht lange zusammen, und ich habe die Befürchtung, dass mir das alles nehmen kann, wonach ich schon so lange gesucht habe. Liebe. Aufrichtige und ehrliche Liebe wie sie in Buche geschrieben steht. Ich will das nicht. Ich will sie nicht verlieren, und deshalb habe ich es mit einer neuer Angst zu tun bekommen. Die Angst, sie zu verlieren. Und sie ist schrecklicher als die Angst vor grausamen Herzschmerz, weil mir bewusst ist, dass das, was zwischen Lyn und mir, es nur einmal geben wird und kein zweites Mal. Wenn dann sie und keine andere. Aber wie soll ich das unseren Schwestern erzählen? Unserer Mutter? Meinen Fans? Oh Gott, Emilia..." Er senkt frustriert den Kopf und drückt seine Stirn gegen meine Schulter, während ich zugleich die Finger nehme und ihm besänftigend durch die Locken streichle. Es ist seltsam, ihn wieder so zu berühren können und dabei zu wissen, dass es diese Berührung nie wiedergegeben hätte, wäre ich nicht bereit dazu gewesen, ihm zu vergeben. Vergeben ist nicht immer leicht, vor allem wenn man so tief verletzt worden ist, aber wenn man jemand liebt, dann nimmt man den Schmerz ein zweites Mal auf sich. Das habe ich gelernt. „Jeder wird mich dafür verurteilen, dass ich ein Kind mit einer Frau habe, mit der ich nicht verheiratet bin. Sie werden denken, ich bin ein Versager. Ein Arschloch. Sie..."

„Ssshhh", muss ich ihn endlich stoppen und fahre sachte mit den Fingern über seinen gepflegten Bart, der weicher ist als er aussieht. Aber ich habe auch keinen Dornenbusch erwartet. „Solange dieses Kind aus Liebe entstanden ist, ist es irrelevant, ob man verheiratet ist oder nicht. Es ist wichtig, dass du dich deshalb nicht zu etwas zwingst wie zu einer voreiligen Hochzeit, nur weil es besser in das Bild der heutigen Welt passt. Aber das muss es nicht, Bruderherz. Sie werden immer über einen reden, egal, ob man etwas richtig macht oder nicht. So sind die Leute heutzutage – aber deine Familie gehört nicht dazu. Ich weiß, dass sie dich verstehen werden und dir nicht in den Rücken fallen werden, denn nach allem wollen wir alle nur das Beste für dich. Wir wollen dich glücklich sehen, und das ist viel wichtiger als, dass du dem Faden des Lebens folgst, der sowieso albernd ist, da keiner dazu fähig ist, das Leben perfekt zu führen. Jeder von uns tut, sagt und denkt Dinge, die nicht der Norm entsprechen. Und weißt du, warum das so ist?"

Nun hält er den Kopf wieder aufrecht und blickt mich mit einem schimmernden Regen an, der mein Herz ganz warm werden lässt. Ich habe es vermisst, meinem Bruder so nahe zu sein. Ihm so schamlos erzählen zu können, was ich denke, weil er mir nicht verurteilt. Weil wir uns irgendwo verstehen und es immer tun werden. Sowie Geschwister einfach sind.

„Jemand ganz Besonderes hat mir mal gesagt, dass ich ein Individuum bin und dass das viel besser ist als ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Das ist richtig. Jeder von uns ist ein Individuum. Aber anfangs denken wir alle immer, wir müssen so aussehen und leben wie andere – bis wir bemerken, dass wir versuchen, nicht wir selbst zu sein. Und weiß man erst, wer man wirklich ist, dann realisiert man, dass für das Leben keine Anleitung und Vorschriften gibt. Man muss einfach leben und darüber hinwegsehen, was man versucht, uns vorzuschreiben. Und ich weiß, dass du das richtige tust, Bruderherz, weil du tust es, weil du liebst. Und Liebe macht nicht immer blind. Sie macht auch vieles Gutes. Wie stärker sein oder über seine Grenzen hinausgehen, weil man erkennt, dass man vielmehr kann als einem selbst bewusst ist. Weil plötzlich ist da diese eine Person in deinem Leben, die an dich glaubt und hinter dir steht, einfach nur deshalb, weil sie dich auch liebt. Sie weiß wirklich, wozu du möglich bist und zweifelt nicht an dir. Sie zeigt dir erst, wer du wirklich sein kannst, und du solltest dich nicht davor verstecken, du selbst zu sein. Das habe ich in den letzten Wochen gelernt, und genau aus diesem Grund solltest du daran festhalten. Egal, wie schwer es noch wird, halte an Lyn fest. Lass sie und das Kind zu einem Teil deines Lebens werden und du wirst sehen, dass es viel leichter wird, umso weniger du darum befürchtest, sie zu verlieren. Das wird nicht passieren, solange du sie nicht aus den Augen verlierst. Und..." Sein Daumen fängt die Träne auf, die gerade über meine Wange huscht, und sein Lächeln ist warm und voller aufrichtiger Liebe eines Bruders. „Und ich weiß, dass du nicht nur ein toller Bruder bist, sondern auch ein wundervoller und gutherziger Vater sein wirst."

„Wow", sagt er baff und seine Stimme ist immer noch tief und heiser, „jetzt schäme ich mich wirklich dafür, dass ich die Erwartung hatte, du würdest mich anschreien und für einen schlechten Bruder bezeichnen. Oder dass ich angenommen habe, dass die anfängliche Romanze zwischen dem anderen Tom und dir ein Fehler ist und er dir nicht guttun wird, weil er ist so... so herkömmlich für sein Alter und du..." Vorsichtig streicht er mir einige Strähnen hinter das Ohr und das Lächeln auf seinen Lippen schwindet nicht. Es ist dort fest verankert, und ich glaube, es fühlt sich einfach zu gut an, wieder mich anlächeln zu können, ohne dass sich der Stacheldraht um das eigene Herz zusammenzieht und fürchterlich schmerzt. „Du bist meine kleine und außergewöhnliche Schwester. So zerbrechlich, aber auch so stark und unberechenbar. Ich denke, ich hatte Angst. Angst, dass dir ein weiterer Mann so wichtig wird wie ich dir, sogar wichtiger, und dass ich dich dann verliere." Kurze Pause, in der wir uns gegenseitig in die Augen sehen und dasselbe in dem Blick des anderen auffangen. Schwere Wehmut, aber noch viel größer ist die Liebe und das Verständnis daran. Wir beide gestehen uns endlich ein, dass wir Fehler begangen haben. Fehler mit schwerwiegenden Folgen. Aber doch sind es am Ende nur Fehler von vielen gewesen. Nur nicht diese, die unsere Bindung zueinander brechen können. Kein Fehler wird das schaffen können. Dafür lieben wir einander zu sein, und wenn man jemand liebt, dann weiß man, dass Fehler gemacht werden, weil das gewöhnlich für uns ist und nicht weil man beabsichtigt hat, den anderen zu verletzen.

„Oder dass es wie bei Bill wird. Ich habe dich nicht noch einmal an das Verlangen verlieren wollen. Oder überhaupt. Meine Angst ist gestiegen, als du mich damals mitten in der Nacht angerufen hast. Ich bin wütend gewesen. Auf Tom, weil er dich hat nicht beschützen können, doch am meisten auf mich selbst, weil ich nicht viel früher dazwischen gegangen bin. Und vielleicht habe ich auch noch mehr Angst davor gehabt, dass er dir das Herz brechen wird und du denselben Schmerz lernen kennst, den ich kenne, doch dir niemals wünschen würde. Ich wünsche es keinem, dass ihm sein Herz gebrochen wird." Er atmet schwer aus, und da huschen graue Wolken über das Regenmeer, während er wieder das Gewicht seiner Lasten und Sorgen spürt. „Schließlich ist Tom auch ein berühmter Schauspieler, der noch am Anfang seiner Karriere steht. Und ich weiß, wie schwer es ist, sich zwischen Liebe und Karriere entscheiden zu müssen. Also habe ich beschlossen, dass es für Tom besser ist, wenn er sich für seine Karriere entscheidet. Doch das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte endlich aufhören sollen, mich in das Leben anderer zu mischen, während mein eigenes dabei gewesen ist, zusammenzustürzen. Jetzt will ich das beenden. Als ich zwischen Leben und Tod gestanden habe, da ist mir schließlich aufgefallen, wie unzufrieden ich tatsächlich mit meinem Leben bin und dass es nicht so weitergehen kann. Ich will neu beginnen. Mit Lyn und meiner Tochter – und..." Er hebt mit seiner Hand mein Kinn, da mein Kopf gesunken ist, als er mich an seinen Angriff zurückerinnert hat, und nun ist auch mein Herz schwerer geworden. Seine Regenaugen fangen meinen schuldbewussten Blick auf, und er lächelt mich einfach an. Es ist ein glückliches und sorgenloses Lächeln wie ich es nur aus unseren Nächten in Neuseeland kenne. Aber es nun hier in London zusehen ist etwas völlig Neues und Aufregendes. Wie ein Wunder. „Und auch du gehörst dazu, Emi, meine kleine Schwester. Es tut mir leid, dass ich dich für den Angreifer gehalten habe und dass ich versucht habe, dich daran zu hindern, sich zu verlieben. Manchmal ist dein Sturkopf wirklich vorteilhaft, denn wärst du nicht so eigensinnig gewesen und hättest dich nicht gegen mich gestellt, dann hätte ich wohl nie erfahren, dass es noch einen anderen Mann gibt, der für dein Leben bestimmt ist und in dir etwas gefunden hat, was er in keiner anderen mehr finden wird. Und damit meine ich nicht deinen leiblichen Vater, sondern Tom."

„Wie... Wie kommst du darauf?", spreche ich wieder und schaue ihn mit großen, überraschten Augen an.

„Ich kenne den Blick eines Mannes, wenn er die Frau anschaut, die er mehr liebt als seine eigene Mutter. Es gibt nur eine einzige Frau, bei der man so empfindet. Es ist diejenige, die immer noch da sein wird, wenn die eigene Mutter verstirbt. Die immer da sein wird, ob in Gedanken, im selben Raum oder im Herzen. Diejenige Frau, die dir bewusst werden lässt, dass das eine Zuhause gar nicht das eine Zuhause gewesen ist. Sie ist das eine Zuhause. Und bei ihr musst du nicht immer der stärkste und kühnste sein, bei ihr kannst du auch dumm und emotional sein und das ist okay für dich. Das nagt nicht an deiner Männlichkeit, weil du weißt, für sie wirst du immer ein Mann bleiben und nicht einfach ein Mann wie jeder anderer. Du bist ihr Mann und auch ihr Zuhause." Ich höre Schritte näherkommen, aber er redet weiter und ich lausche ihm weiter, ganz gefesselt von der Süße in seiner tiefen Stimme. „Sie ist diese Frau, mit der man eine eigene Sprache entwickelt, eine neue und gemeinsame Geschichte beginnt, und dann ist es ihre und deine eigene kleine Welt, die dort draußen gegen die andere sticht. Manchmal verliert man zusammen, doch dann steht man wieder gemeinsam auf und versucht es besserzumachen. Und schlussendlich bleibt die eigene, kleine Welt die stärkste, schönste und wärmste von allen. Da braucht man nicht viel, um glücklich zu sein. Da braucht man nur sie und man ist der glücklichste Mann der Welt. Das ist sie. So simple, aber auch so voller Tiefe und Schönheit."

„Du sprichst so darüber, als wüsstest du, wovon du sprichst." Das bin ich nicht. Es ist die Frauenstimme von vorher. Ich wende den Blick ab und muss mich zusammenreißen, um keinen überraschten Laut von mir zugegeben. Lyn ist die schwangere Frau aus dem Krankenhaus. Die mit den schönen und langen, roten Haaren, und dem kugelrunden Bauch. Es ist wahr. Mein Bruder wird tatsächlich bald Vater – sowie es wohl im Holland-Vokabular steht. Vielleicht sollte ich ihm mit dem Vokabular noch vertraut machen. Und zwar bald.

„Nun ja... vielleicht tue ich das wirklich." Mein Bruder räuspert sich verlegen. Ich gleite von seinem Schoß und gehe zurück zur Couch, weil ich mich nicht wirklich wohlfühle, ihm so nah zu sein, wenn ich ihn erkannt habe. Den Blick, von dem er mir gerade erzählt hat. Genauso sieht er Lyn an. Wie die eine Frau, die zu seinem Zuhause geworden ist. Zwar habe ich noch einige ungesagte Worte und Fragen in den Venen pumpen, aber ich muss sie nicht gleich loswerden. Ich werde mein Bruder oft genug sehen, um sie dann nennen zu können. Es eilt nicht. Dieses Mal nicht. Das wichtigste habe ich bereits gesagt, und sollte mich doch das Bedürfnis kommen, sie schnellstmöglich loszuwerden, dann werde ich sie einfach sagen. Ich weiß nun, dass er immer noch für mich da ist und zu mir gehört. Dass die Neuseelandnächte wieder schöne Erinnerungen sind und keine Albträume. Ich habe ihn nämlich wieder. Meinen geliebten Bruder.

„Du bist also Emilia." Ich sehe zu der rothaarigen Frau und stelle fest, dass sie wirklich schön ist. Mit dem schmalen Gesicht, der feinen Nase und den großen, blauen Augen mit den dichten Wimpern. Sie sieht wie einer dieser Frauen aus, die auf diversen Frauenmagazinen abgebildet sind. Eine erfolgreiche Frau mit bestimmten Zielen in ihrem Leben. Aber das Kind hat sicherlich nicht in ihre Planung gepasst. Wie bei meinem Bruder. Und das wird der Punkt sein, der sie zusammenhält. Sie beide scheinen sich zu fürchten, vor dem, was auf sie zukommen wird, aber sie beide sind gewillt dazu, ihr Bestes zu versuchen. Ihre kleine Welt gegen den Rest der Welt.

„Und du musst Lyn sein", lächle ich schüchtern und lege nervös die Hände übereinander, zucke erschrocken zusammen, als ich den Verband um meine Hand spüre. Ich hätte ihn fast vergessen. Er ist schon einigermaßen durch das Blut getränkt wird, was mich ärgert, denn das ist ein Zeichen dafür, dass die Wunde doch genäht werden muss. Die Scherbe ist tiefer eingedrungen als ich in meinem panischen Zustand wahrgenommen habe.

„Du bist verletzt", meint sie besorgt. Sie macht einen großen Schritt auf mich zu, bevor sie nach meiner Hand greift und den blutgetränkten Verband langsam entfernt. Ich beiße mir vor Schmerzen in die Unterlippe und unterdrücke ein Wimmern. Sie verzieht das Gesicht, fast so, als hätte sie das nicht zum ersten Mal gesehen. „Thomas, hast du noch meinen Koffer oben? Ich muss die Wunde auf der Stelle nähen. Und hol den kleinen Tom. Emilia wird seine Unterstützung brauchen, weil ich keine Betäubungsspritze mehr habe."

Mein Bruder steht sofort auf. „Mache ich, Schatz."

Ich blicke ihm nach. Es ist das erste Mal, dass er diesen Kosenamen zu jemand gesagt. Allmählich werden mir seine Worte bewusster, seine Erzählung und seine Gefühle für die Frau vor mir. Er liebt sie. Tatsächlich. Mein Bruder hat sich endlich wieder verliebt und der Liebe nicht weiter den Rücken hingehalten. Er hat wirklich das gefunden, wonach er sich so schrecklich gesehnt hat, auch wenn er mir nie gestanden hat, dass es dem so ist. Aber ich habe es immer gewusst; es an dem Funkeln seines Regens erkannt, dass da etwas fehlt, damit es ganz klar und hell leuchten kann. Und das ist Liebe gewesen. Nicht die familiäre Liebe von Geschwistern und Eltern oder Bekannten. Es ist die eine Liebe gewesen, die man nur mit einer einzigen Person teilt. Die Person, die irgendwann in der Zweisamkeit zu dem Licht seiner eigenen und kleinen Welt wird und mit der man einfach alles teilt. In diesem Fall ist es Lyn.

Ich bin überrascht und berührt zur selben Zeit, starre die rothaarige Frau an und schlucke. Für mich hat es schon zu einem Traum gehört, irgendwann die Frau kennenzulernen, mit der mein Bruder seine eigene Familie gründen wird, und nun ist es Wirklichkeit. Einer meiner größten Wünsche ist damit erfüllt. Auf einmal unterbricht ein Schluchzen die Stille und Lyn weicht perplex zurück, aber sie reagiert mit guten Herzen und greift nach den Taschentüchern auf dem Tisch, um sie mir mit einem sanften Lächeln hinzuhalten. Sie hat ein schönes Lächeln. Alles an ihr ist schön und strahlt Wärme aus. Als könnten erfüllte Wünsche tatsächlich scheinen.

„Alles gut?", fragt sie mich und setzt sich neben mich. „Oder tut es weh?"

Ich schüttle den Kopf und schniefe. Ich kann die Emotionen nicht ausschalten. Sie kommen einfach über mich wie eine Welle. Doch sie zieht mich nicht hinunter. Sie hält mich über das Wasser, und es ist klar und schimmert, als wäre es von Feenstaub besetzt. Die Meeresluft ist befreiend, salzig und irgendwie auch süß. „Ich... Ich freue mich nur so für meinen Bruder, dass er endlich eine Frau gefunden hat, mit der er glücklich sein kann. Das habe ich mir immer für ihn gewünscht."

„Oh." Ihre runde Wangen werden noch pinker als sie es schon sind und hält sich eine Hand gegen die Bauch. „Jetzt verstehe ich auch, warum er dich als Patentante für unsere Tochter möchte."

Ein neues Schluchzen ertönt aus meinem Mund.

„Ist... ist das schlecht?", fragt sie verwirrt und dreht den Kopf in Richtung Küche, um jemand einen hilflosen Blick zu zu werfen.

„Das...", versuche ich mit ringenden Schluchzern deutlich zu sprechen, während ich mir hastig mit dem Handrücken der gesunden Hand die Tränen von den Wangen wische, „das ist wunderschön. Also nicht, dass ich gerade heule, weil ich so berührt bin, sondern..." Ich schnappe angestrengt nach Luft und lehne mich zurück. „Sondern, dass ich – seine Adoptivschwester – die Patentante seines erstes Kindes sein darf."

„Streich das Adoptiv weg, Rundbäckchen", sagt mein Bruder mit einem weichen Lächeln und legt einen braunen Kastenkoffer vor der Couch ab, „weil du bist meine kleine Schwester und das wird kein Papier auf dieser Welt ändern können. Wir sind eine große Familie, Emi. Für immer."

Ich nicke stumm, weil mir nichts einfällt, was ich dazu sagen kann. Es ist, als hätten meine Tränen genug für mich gesprochen. Und es gibt noch einen zweiten Grund. Er kommt langsam hinter meinem Bruder hervor und geht direkt auf mich zu, als würde er von mir angezogen werden. Nun kann er wieder bei mir sein, ohne dass er noch ein weiteres Mal gehen muss.

„Lyns Schokokuchen schmeckt unglaublich gut!", strahlt er breit und zögert nicht, sich so dicht an mich zu setzen, dass sein Bein meines berührt. Dann legt er seinen Arm um meine Schulter und streichelt mir sorgsam die restlichen Tränen von der anderen Wange. Ich sehe in seine leuchtenden, braunen Tiefen und in ihnen ist so vieles zu sehen, das für mich eine Bedeutung hat. Nicht nur seine Liebe und Zuneigung. Auch die kleinen Anzeichen von Besorgnis, die Schimmer von Sänfte und Bewunderung und diesen deutlichen Willen, solange bei mir zu bleiben, bis ich wieder in Ordnung bin. Aber er weiß noch nicht, dass ich genau in dem Augenblick wieder zusammengefügt und in Ordnung bin, als ich mir seiner Nähe bewusstgeworden bin. Als ich gespürt habe, dass der wichtigste Teil meines Zuhauses zurückgekehrt ist und mit ihm die Sicherheit, die mich warm und behaglich umgibt, das ich friedlich einschlafen könnte, würde ich nicht wach sein müssen. Trotzdem hält es mich nicht davon ab, meinen Kopf gegen seine Schulter zu lehnen und seinen befreienden Geruch einzuatmen.

„Kannst du ihre Hand festhalten, Tom?", fragt Lyn und ich merke es an ihrem nervösen Ton, wie ungern sie unsere Zweisamkeit bricht, aber wir beide wissen, dass sie nur ihre Arbeit machen will. Also lasse ich es zu, dass Tom mit seinen Fingern das Handgelenk meiner verletzten Hand umfasst und festhält. „Das wird jetzt wehtun. Sehr sogar, aber du wirst es schaffen, Emilia."

Ich nicke bloß und schließe die Augen, um mich zu entspannen. Tom rückt näher heran, während ich höre, wie Plastik geöffnet wird und ein strenger Geruch sich ausbreitet, dem man nur in Krankenhäusern einatmet. Toms weiche Lippen berühren meine Stirn solange, wie der erste Stich durch meine Hand zieht, dann lehnt er seine Stirn gegen meine und drückt mich mit einen Arm an sich. Ich höre seinen aufgeregten Atem, ahme ihm nach und achte darauf, nicht zu schnell zu werden, weil ich nicht will, dass mein Herz aus dem Takt kommt. Es hat gerade erst wieder den Draht zu seinem gefunden, damit sie wieder ihre Melodie schlagen können. Ich versuche mich auf ihren Schlag zu konzentrieren, auf das Gefühl von Zuhause und Geborgenheit und ganz besonders auf Toms Nähe.

„Wie ist das passiert?", will Lyn wissen.

„Eine Glasscherbe", murmle ich so klar wie es geht, wenn ich an Tom gekuschelt bin, „ich habe in sie reingefasst, als ich bei der Demonstration vor Bill geflüchtet bin." Auf einmal spannt sich Tom an, sein Griff verliert an Schutz und wird hart.

„Wegen Bill", meint mein Bruder mit einem dunklen, fast schon verbissenen Ton, „was hast du vor?"

Ich bin erstaunt darüber, dass er mich das fragt. Ansonsten hat er immer vorgeschlagen, was wir in Krisen wie diese tun sollen, und jetzt will er das von mir wissen. Er hat nicht gelogen, was ich auch nicht gedacht habe – doch ich bin nicht daran gewöhnt, eigene Entscheidungen treffen zu können, wenn sie meinem Bruder und mich treffen. Aber damit habe ich schließlich einen festen Beweis dafür, dass er es tatsächlich ernstmeint. Er überlässt mir die Führung meines Lebens, und das ist kein leichter Schritt für ihn, weil es für ihn eine große und wichtige Rolle gewesen ist. Durchaus mehr von Bedeutung als seine Rolle als Loki. Und nun ist der Tag gekommen, wo er sich von ihr verabschieden muss. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, doch, als ich zu ihm sehe, stelle ich fest, dass er mich anlächelt. Ein warmes und zuversichtliches Lächeln mit einem kleinen Schmerz im rechten Winkel, weil ich kann es an seinen Regenaugen erkennen, wie er kämpft; sich ungern von etwas verabschiedet, woran er so festgehalten hat. Aber es ergibt keinen Sinn mehr. Früher mal, aber nicht heute.

Da ist eine kleine Wolke in seinem Regen. Sie wächst und wächst, und auf einmal ist sie nicht mehr so klein und zerbrechlich. Sie kann mit den anderen mithalten und weiß, was sie in ihrem Leben erreichen will und was sie braucht, um glücklich zu sein. Sie kann ihren eigenen Weg gehen, sich verlieben, aus Fehler lernen, eigene lebensverändernde Entscheidungen treffen und ihren Platz in dieser Welt finden.

Diese Wolke bin ich, und mein Bruder hat es akzeptiert, dass ich nicht länger ein Kind bin, das nicht weiß, wie das Leben funktioniert. In diesem Augenblick werde ich selbstständig und er muss seine kindliche Sicht loslassen, doch wir beide wissen, dass er tief in seinem Innerem immer mein Bruder sein wird, der mich gelehrt hat, an mich selbst zu glauben.

Und er weiß, dass ich niemals richtig erwachsen werde.

In unserem Herzen werden wir stets Kinder bleiben. Immer bereit dazu, ein neues Abenteuer zu erleben.

„Er wird sich in meiner Nähe aufhalten", antworte ich und Toms Finger drücken meinen Puls zusammen, „also ist es besser, wenn ich nicht alleine bin, bis der Totenschreiber gefasst worden ist. Außerdem bin ich mir nicht ganz so sicher, ob er nicht mit dem Totenschreiber in Verbindung steht. Oder es sogar ist."

„Bei wem willst du bleiben?", fragt er unruhig nach und seine Regenaugen ruhen auf den anderen Tom an meiner Seite. „Ein Zimmer steht immer frei, das weißt du, Rundbäckchen."

„Ja, ich weiß", lächle ich schwach, doch ich schmiege mein Gesicht so an Toms angespannter Schulter, dass meine Nasenspitze seinen Hals berührt, „aber ich möchte bei Tom sein. Ich will das Baby nicht gefährden." Aber die Worten reichen nicht aus, um seine Muskeln zu lockern. Er bleibt so angespannt und schweigt. Und ich habe ihn selten schweigend erlebt. Nur dann, wenn er friedlich und entspannt ist, doch das ist er in diesem Moment auf keinen Fall.

„Gleich ist es geschafft", sagt Lyn zufrieden nach wenigen Minuten und das Ziehen in meiner Hand wird stärker, stumpfer. Als könnte ich spüren, wie sie etwas zusammenzieht und verschließt. Und plötzlich ist es vorbei. „Perfekt. Und jetzt essen wir erstmal alle ein Stück Kuchen." Sie steht auf, wischt sie über die weiße Schürze und geht mit einem Grinsen zur Küche. Ich sehe neugierig zu meiner Hand und den schwarzen Fäden in dieser. Sie erinnern mich an Stacheldraht, der aus meiner Haut sticht, aber es gibt keinen Stacheldraht mehr. Weder in meinem Herzen noch sonst wo in meinem Inneren. Er hat sich aufgelöst – mit all den anderen Geistern, schwarzen Meeren und Lasten, die daran gehangen haben wie Mücken in einem Netz. Sowie die Fäden bald verschwinden werden, so hoffe ich, werden auch die restlichen Schwierigkeiten vergangen sein.

„Lyn ist Tierärztin", kommt es von meinem Bruder, der sich auf den Sessel zurückgesetzt hat, und seine hellen Regenaugen mustern mich und Tom ausgehend. Er lehnt sich nach vorne, eine gewisse Spannung bildet Falten auf seiner Stirn und der Regen leuchtet auf. „Ich möchte mich bei euch beiden noch entschuldigen." Seine Stimme ist trocken und rau, ein Zeichen dafür, dass diese Entschuldigung eine schwere Hürde für ihn ist, und es freut mich zusehen, dass er es trotzdem versucht. Mein Bruder ist zwar älter als ich, aber für ihn war es schon immer schwieriger sich Fehler einzugestehen, und das mag vielleicht daran liegen, weil er sich einst in seinem Ruhm verloren und vergessen hat, wie menschlich er in Wirklichkeit ist. Wenn alle anderen denken, dass du perfekt bist, dann glaubst du ihnen irgendwann und vergisst, dass niemand perfekt ist. Auch nicht Tom Hiddleston. Und ich denke, die Tatsache, dass er ein zukünftiger Vater eines unerwarteten Kindes wird, führt ihn auf diese Spur zurück.

Tom blickt gemeinsam mit mir auf und seine Finger wandern von meinem Handgelenk zu den Lücken meiner. Sie streicheln vorsichtig darüber, so, als wäre er sich unsicher darüber, ob es sich so gehört, und ich weiß, dass es so ist und verankere ohne Zweifel meine Finger zwischen seinen. Als würde ihn dieser selbstsichere Akt meiner Zuneigung erleichtern, drückt er meine Hand und atmet lange aus.

Mein Bruder sieht zu Tom und spricht ganz bedacht, weil er ist sich seiner Schuld bewusst und möchte es wieder gutmachen. „Es tut mir leid, dass ich geglaubt habe, du wärst nicht gut für meine Schwester, Tom. Es ist nicht richtig gewesen, darüber zu entscheiden, wer oder was für meine Schwester gut ist, wenn sie es selbst besser weiß. Ich hätte damals nicht solche gemeinen Worte zu dir sagen sollen, weil du letztlich die Wahrheit gesagt hast. Ich kann nicht wissen, was euch miteinander verbindet, aber wenn es sie glücklich macht, dann muss ich es akzeptieren. Ich werde sie dir kein zweites Mal mehr wegnehmen. Nie wieder, Tom." Er lächelt ihn zuversichtlich an und fährt sich durch die rötlichen Locken. „Du hast mein Versprechen, denn wenn es etwas gibt, das mir in den letzten Stunden klargeworden ist, dann ist es die Gewissheit, dass du sehr wohl gut für sie bist. Ich glaube, du bist sogar ein besserer Tom für sie als ich." Jetzt lacht er und Tom an meiner Seite auch. Und es klingt so, als würde der Sommer ein letztes Mal vor dem Herbst sich von seiner schönsten Seite zeigen.

Die Regenaugen werden klarer, und die letzte Wolke darin zieht vorbei. Er lässt sie los. Endgültig. Und es schmerzt und ist doch irgendwie schön zugleich, weil er weiß, dass dort, wo sie nun hingehen wird, in Sicherheit ist und glücklich sein kann. „Pass gut auf sie auf, ja?"

Tom nickt und sein Grinsen ist unbeschwert und sonnenhaft. „Emilia ist wie die zweite Hälfte meines Herzens", offenbart er honigrau und seine braune Tiefen leuchten auf, als gäbe ihm dieser ausgesprochene Gedanke Kraft und Hoffnung, „und ich werde es nicht nochmal zulassen, dass man ihr wehtut."

Ich muss das Gesicht verziehen, als ich nun zu verstehen anfange, warum er vorher so schweigsam gewesen ist. Es ist ein zweites Mal passiert. Ich habe es nicht zugelassen, dass er mich beschützen kann sowie er es sich sehnlichst wünscht. Es ist, als fühlt er sich verpflichtet dazu, mich vor allem Übel dieser Welt zu bewahren, beinahe wie die Furcht, dass ich daran zerbrechen könnte. Aber ich werde nicht zerbrechen, weil es er ist, der mich zusammenhält. Nur er. Er ist schließlich der wunderbewirkende Sonnenjunge und mein Zuhause.

„Und ich möchte mich noch dafür entschuldigen, dass ich tatsächlich angenommen habe, ihr würdet nicht zueinander passen und wärt eine gegenseitige Gefahr. Auch das ist ein falscher Ansatz gewesen", sagt mein Bruder noch und Lyn kommt mit einem großen Schokokuchen in den Händen zurück. Sie stellt ihn ab, ehe mein Bruder einen Arm um sie legt und zu sich auf den Sessel zieht, direkt auf seinen Schoß. Er schlingt seine Arme fest um sie, drückt sie so behutsam an sich, um dem Babybauch nicht zu nahe zu kommen, und drückt ihr mit einem Grinsen einen langen Kuss auf die Wange. Er liebt sie. So sehr. Ich sehe wie automatisch zu Tom und Tom beobachtet mit wehmütigen Blick das Geschehen vor sich.

„Ich stehe hinter euch beide. Das ist das, was ich eigentlich hätte von Anfang tun sollen", beendet mein Bruder seine angebrochenen Worte und Lyn drückt ihren Kopf gegen seinen, während er ihre Hände auf ihrem Babybauch mit seinen verschränkt, „und ich hoffe, dass ihr mir verzeiht. Egal, was nun auf uns zukommen wird, ich werde da sein und uns unterstützen. Es wird keine Geheimnisse und Lügen mehr zwischen uns geben. Davon hatten wir die letzten 21 Jahre genügend, oder nicht, Rundbäckchen?"

Nur widerwillig kann ich mich von Toms beunruhigenden Anblick wenden, aber die Worte meines Bruders drängen sich in mein Bewusstsein vor und holen mich aus den Gedanken. Es wird keine Geheimnisse und Lügen mehr zwischen uns geben. Ja, die Lügengeschichten sind endlich vorbei. Es gibt nur noch ein einziges Geheimnis, aber das liegt zwischen Tom und mir. Und es wird Zeit, dass Tom endlich das richtige Ende meines Labyrinths erreicht.

„Ja", stimme ich noch mit Entschlossenheit zu, „es wird keine Geheimnisse mehr zwischen uns geben."

~*~*~

Während wir den Schokokuchen, der wirklich ausgenommen lecker geschmeckt hat, gegessen habe, habe ich mich mit meinem Bruder über den Totenschreiber unterhalten. Ich habe ihm alle aktuelle und alten Informationen über ihn mitgeteilt und erklärt, dass er keine bestimmte Opfer wählt. Mein Bruder hat mir daraufhin von jenem Morgen erzählt, wo er angegriffen worden ist. Er ist einfach in der Wohnung gewesen und hat ihn so überrumpelt, dass er sich hat nicht wehren können. Er hat nach einiger Zeit von ihm abgelassen und ist geflüchtet, ohne etwas mitzunehmen oder zu sagen. Mein Bruder hat sich gefragt, warum er ihn nicht getötet oder ihm wenigstens etwas auf die Haut geschrieben hat, doch er weiß es noch nicht. Er kennt nicht all meine Werke. Aber dennoch hat er sich gewundert, warum er sich ausgerechnet meine Wohnung ausgesucht hat. Ich hätte ihn gerne gesagt, dass er mir mein Pseudonym rauben will, doch ich habe das nicht vor Tom sagen können. Nicht, bevor er die Wahrheit kennt. Also habe ich mit meinem Bruder ausgemacht, dass ich am nächsten Tag wieder zu ihm kommen werde und ihm alles genauer erkläre. Doch davor will ich zurück in meine Wohnung und mich den Geistern darin stellen, die nicht mehr so gruselig sind, weil sie bloß Geister sind und ich bin Licht.

Tom hat natürlich sofort zugestimmt, mit mir dahin zu gehen, um gemeinsam mit mir meine Sachen zu holen, damit ich mir nicht ständig neue kaufen muss. Er ist immer noch ungewöhnlich schweigsam gewesen. Selbst als er mich zu meiner Wohnung gefahren hat. Irgendein Rapper hat die Stille zwischen uns unterhalten, doch seine gereimten Wörter haben es nicht aufhalten können, dass mich erneute Schuld überkommt. Ich hätte mich sofort bei Tom melden sollen, nachdem Bill mein Handy aufgeladen hat. Ich hätte nicht einfach seine Stimme auf meiner Mailbox lauschen sollen, wissend, dass es ihm gerade nicht gutgeht. Es fühlt sich so an, als würde sich etwas zwischen unser Zuhause schieben, und ich bin mir nicht sicher, ob es nicht mehr als nur meine Schuldgefühle sind.

„Wir sind da." Tom hält an und schaltet das Auto aus. Ich steige gleich aus und will mich in meine Wohnung stürzen, als ich bemerke, dass er keine Anstalten macht, mir zu folgen. Er sitzt einfach stumm in seinem Auto und blickt ins Nichts. Ich zögere nicht, gehe zur Fahrerseite und öffne diese.

„Ich muss dir etwas zeigen", gestehe ich ihm und halte ihm meine Hand hin.

Er schaut mich zuerst einfach an, kein Leuchten in seinen braunen Tiefen, dann nimmt er meine Hand und ich nehme ihn mit in meine Wohnung. Ich glaube, dass alles wieder gut sein wird, wenn ich das letzte Geheimnis auflöse, das ihm noch im Labyrinth im Weg steht. Ich bin fest davon entschlossen, ihm endlich zu sagen, dass ich E.H. Soulshot bin, und lasse mich nicht mal von dem Absperrband vor meiner Haustür aufhalten. Ich schließe auf, und alles ist vertraut und unberührt, als hätte hier niemand meinen Bruder überfallen. Mich überkommt das Bedürfnis, mich überall umzusehen und alles nach Hinweisen abzusuchen, doch Tom drückt leicht meine Hand und er ist momentan wichtiger als die versteckten Geister.

Ich ziehe ihn durch den Flur, an der Küche und meinem Schlafzimmer vorbei, direkt in mein Wohnzimmer. Die Rollläden sind unten, sodass ich in jedem Raum das Licht anschalten muss, um etwas sehen zu können. So auch im Wohnzimmer. Doch bevor ich das tue, bleibe ich stehen und drehe mich zu ihm herum.

Er fängt meinen aufgeregten Blick auf und seine braunen Tiefen flackern auf eine Art und Weise, die ich nicht kenne. Er kämpft gegen etwas, aber ich weiß nicht, gegen was oder warum.

„Ich vertraue dir jetzt etwas an, von dem nur sehr wenige Menschen wissen", erkläre ich ihm mit nervöser Stimme und atme tief ein und aus, „und wenn du das weißt, dann bist du der erste, der alles über mich weiß. Wirklich alles." Ich warte nicht auf seine Reaktion, nehme den letzten Schritt ins Wohnzimmer und schalte mit zittriger Hand das Licht ein. Auch hier ist alles genauso wie ich es verlassen habe, nur ist niemand im Sessel und liest ein Buch. „Sieh' dir die Wände an. Und die Sachen im Regal. Dann kennst du mein letztes und größtes Geheimnis."

Daraufhin lässt er meine Hand los und geht an mir vorbei. Ich verfolge mit wildem Herzklopfen und feuchten Händen, wie seine braune Tiefen neugierig über die Auszeichnungen und Preise schweifen. Den Namen einsaugen, an dem sie alle gewidmet sind, und es ist nicht Emilia Hiddleston. Es ist E.H. Soulshot. Nun weiß er, wer wirklich hinter der Autorin steckt.

Ich halte den Atem an, als er auf einen Preis zugeht und die goldene Schreibfeder berührt, mit dem Finger über die eingravierte Widmung streicht. Dann hält er inne, schweigt und starrt einfach den Namen an.

„Ich hoffe, damit kann ich dir beweisen, dass ich dich wirklich l..."

„Du bist es", unterbricht er mich mit bebender Stimme und dreht sich zu mir um, aber ich kann den Blick in seinen braunen Tiefen nicht deuten. Er ist mir nicht bekannt. „Deshalb folgt sie mir, deshalb bin ich ihre neue Inspiration, weil... weil du es bist." Er flüstert die letzte Worte, als befürchtet er, es könnte etwas zerbrechen, wenn er es laut ausspricht. Wir blicken uns an, und seine Furcht ist berechtigt. Ich kann es nämlich auch spüren. Das Kratzen an unseren vier Wänden. Es wird tiefer, eindringlicher.

Ich mache einen unsicheren Schritt auf ihn zu, doch auch er kommt einen auf mich zu.

„Ja", hole ich lange Luft und blicke ihm tief in das flackernde Sonnenlicht, „ich bin E.H. Soulshot."

Etwas regt sich in seinem Gesicht, hier und dort erkenne ich ein paar Flecken von Schokolade, die noch von Lyns Kuchen stammen, und ich will die Hand heben, sie zärtlich wegwischen, aber da geht er an mir vorbei.

„Ich kann das nicht", murmelt er aufgewühlt und er hört sich so an, als stünde er den Tränen nahe, „das geht einfach nicht, Emilia. Ich schaffe es nicht mal, dich zu beschützen – und jetzt bist du auch noch ausgerechnet die Autorin, auf die es der Totenschreiber eindeutig abgesehen hat. Wie soll ich dich vor ihm beschützen können, wenn ich schon bei zwei Versuchen versagt habe?" Er wimmert auf und ballt seine Hände zu Fäusten. Ich will zu ihm hinüber, meine Arme beruhigend um ihn schlingen, da landet seine Faust in meinem Türrahmen und ich zucke geschockt zurück, als Putz hinabfällt. „Nein, ich kann das wirklich nicht. Du willst es sogar mit dem Totenschreiber aufnehmen. Das ist Selbstmord, Emilia. Purer Selbstmord. Ich will dich so gerne beschützen, aber ich weiß schon jetzt, dass du das nicht zulassen lässt. Ich...."

„Tom, bitte, hör auf so etwas zu sagen. Ich habe dir das alles nur aus einem Grund gesagt und zwar, weil..."

„Es tut mir leid, Emi, aber ich bin kein wunderbewirkender Sonnenjunge. Ich bin nur Tom und das ist nicht ausreichend genug, um dich beschützen zu können." Und dann geht er.

Ich fasse mir an die Brust, etwas reißt darin auf und will mich zu Boden zwingen. Ich habe dir nur sagen wollen, dass ich dich liebe, Tom. Meine Beine stolpern wie von selbst vorwärts, schleifen mich in Richtung Schlafzimmer und meine eine Hand stützt sich an der Wand ab, während die andere versucht die Blutung in meinem Herzen zu stoppen, aber da ist kein Blut. Nur Schmerz. Endloser Schmerz. Ich schalte das Licht in meinem Schlafzimmer ein, und es riecht seltsam nach Tabak und Aftershave. Der Schmerz muss schlimm sein, weil ich mir tatsächlich einbilde, dass da Bill ist. Ohne Shirt liegt er auf dem Rücken in meinem Bett, sieht zur Decke und zieht an einer Zigarette. Mein Koffer, den ich bei ihm im Hotelzimmer habe zurückgelassen, steht an der Bettkante. Mein Kopf pocht und ein Ziehen hängt sich an meine Schleife, doch ich bewege mich auf das Bett zu.

„Ich habe dich bereits erwartet", bringt Bill über seine volle Lippen und wendet den Kopf zu mir, „schließlich hast du etwas vergessen und dass ist nicht nur ein Abschiedskuss gewesen." Er richtet sich auf und lässt eine kleine Rauchwolke zur Decke steigen, während er mich grienend mustert. Sein mysteriöser See stoppt bei meiner verkrampften Hand an meiner Brust. „Hat man dir in die Seele geschossen, meine Süße?", meint er süffisant und reicht mir dann seine Hand, „soll ich deine Wunde flicken?"

„Verschwinde", zische ich und schlage seine Hand weg, bevor ich mich aufs Bett setze, „oder halt wenigstens dein dummes Mundwerk."

Er zieht nur die Brauen hoch und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. „Herzschmerz... Es ist wie Sterben. Nur langsam und mit vollkommenen und wachen Zustand." Ich sage nichts, lasse mich mit dem Rücken in die Matratze fallen, als wäre eine Kugel direkt in mein Herz gelandet, und blicke hinauf. Aber es vergeht keine Sekunde, da legt sich ein Schatten über mich und Bills glühendes Licht sieht mich ausgiebig an.

„Wie bist du überhaupt in meine Wohnung gekommen?", frage ich ihn leise, worauf er seine Lippen zu einem breiten Grinsen auseinanderzieht und mit einer Hand achtsam mein Pony zurückstreicht.

„Ich bin nicht zum ersten Mal hier, Emilia."

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