the darkness that's craving for revenge.




           

Nach diesem wirklich fiesen Cliffhanger werde ich keine lange Rede halten und wünsche euch einen tollen Sonntag und viel Spaß beim Lesen!

PS: Es erwartet euch eine kleine Überraschung :p

~*~

the darkness that's craving for revenge.

„Emilia!" Jemand reißt mir das Messer weg und schleudert es in die Spüle, bevor sich zwei schlanke Arme um meinen zittrigen Körper legen. „Was ist denn bitte in dich gefahren?!", fragt mein Bruder aufgeregt und seine Stimme kratzt vor Angst.

Ich fixiere das Messer in der Spüle. Es hat diesen schönen Glanz, als wäre es wirklich der Weg zum inneren Frieden. Es fehlt nur ein Stich. Ein einziger. Direkt in die Schusswunde, die Tom verursacht hat. So wird Schmerz mit Schmerz bekämpft.

„Hör auf!", schreit mein Bruder plötzlich, packt mich fest an den Schultern und schüttelt mich kräftig. Er glaubt offenbar, dass ich träume. Aber das tue ich nicht. Ich versuche zu überleben. „Hör auf davon zu reden, dass alles vorbei ist! Das ist es nicht! Hörst du?! Tom ist kein Heiliger gewesen!"

Auf einmal kann ich ihn wieder wahrnehmen. Den nie endenden, quälenden Schmerz von Toms Schusswunde. Ich wache doch auf, als hätte man mich in eine betäubende, verstandslose Trance festgehalten, und mein Puls steigt rapid mit klopfendem Herz. Mir wird furchtbar warm und mein Kopf tut merkwürdig weh. Ich erkenne meinen Bruder endlich richtig und schaue ihn mit großen Augen in das verzweifelte Gesicht, während ich spüre, wie all die Farbe aus meinem Gesicht weicht. Erst jetzt wird mir vollkommen bewusst, was ich dabei gewesen bin zu tun. Was ich mir und all die anderen um mich herum antun wollte.

„Oh Gott!", jauchze ich und falle haltlos zurück, doch mein Bruder hält mich rechtzeitig an den Schultern fest. Ich kann nicht genau sagen, wie ich ihn anschaue, aber sein besorgter Blick führt mich an jene Nacht zurück, wo sich mein Weg mit Bill getrennt hat. Es ist die Nacht gewesen, in der ich zum ersten Mal erlebt habe, mit welch einer enormen Macht das Verlangen in mir haust. Es kann meinen ganzen Verstand benebeln und mich aussetzen wie eine Marionette, über die es die Fäden lenkt. Wie ein Komplize seiner Lust. Allerdings scheint es gesättigt zu sein, da es nur noch eine einzige Sache will und keinen Massenmord. Sein erster, richtiger Mord, und wohl auch sein letzter, wenn ich an sein Opfer denke.

„Das Verlangen... Es möchte, dass ich mich selbst umbringe", spreche ich laut aus, da ich es nicht für wahrhalten will. Aber der Blick in die trüben Augen meines Bruders bestätigen mir, was ich am meisten befürchtet habe. Ich verliere die Kontrolle über das Verlangen.

„Was ist los?", fragt Lyn aufgewühlt vor Sorge, als sie das Licht einschaltet und sieht, wie ich mich geradewegs in die Arme meines Bruders werfe. Sie schlingt einen schwarzen Bademantel enger um die Körper, als schleicht die kalte Anwesenheit des Verlangens noch durch das Haus wie ein Einbrecher.

„Es wird eine lange Nacht", antwortet mein Bruder ihr nur und küsst besänftigend meinen Haaransatz, doch der bestürzte Ton seiner Stimme verrät ihn am Ende. Er möchte am liebsten, dass dieser Abend niemals angefangen hat, weil mit dem Verlangen kommt auch eine alte Angst zurück. Eine Angst, die ihn schon in früheren Zeiten an Schlaf und Nerven beraubt hat. Die Angst, seine jüngste Schwester zu verlieren.

„Soll ich euch beiden Tee machen?" Mein Bruder scheint Lyn über das Verlangen nicht aufgeklärt zu haben, oder sie ist so verständnisvoll und kann es nachvollziehen, wenn das Thema lieber nur wie stickige Luft im Raum hängt, ohne berührt zu werden.

„Das wäre sehr lieb von dir", erwidert mein Bruder und ich höre es sogar, wie gezwungen sein kleines Lächeln ist. Dann hält er mich am Arm fest, nimmt mich mit sich zur Sitzecke und lässt mich dort auf seinem Schoß sitzen, während er meinen Kopf an seine Brust drückt. „Das wird alles wieder", versucht er irgendetwas Aufmunterndes zu sagen, und ich frage mich, an wen er wirklich die Worte richtet. Ob an mich oder sich selbst. „Wir haben diese Situation schon einmal überwunden. Wir schaffen es auch wieder."

Ich schweige, aber ich weine auch nicht. Ich vergieße keine einzige Träne wegen dem Verlangen. Nicht ein weiteres Mal. Dafür empfinde ich zu viel Reue, weil ich mich tatsächlich dazu überredet habe lassen, mich eigenhändig umzubringen. Als gäbe es wirklich keinen Ausweg mehr als diesen. Doch es gibt einen Ausweg. Bill hat ihn mir vor wenigen Stunden noch gezeigt, ehe er sich nach der Pizza und einer Runde Mensch-Ärgere-Dich-Nicht(die er unwillkürlich verloren hat, nachdem er ständig von mir zurück ins Loch geschmissen worden ist) von uns verabschiedet hat.

„K... kannst du Bill anrufen?" Ich blicke flehend zu ihm hoch, doch er weicht mit verbitterter Mimik und tiefen Falten zwischen den Brauen meinen Augen aus. „Bitte, Bruder."

„Nein", antwortet er hart und schaltet dabei den großen Flachbildschirm an der Wand an. „Wir brauchen kein lebendiges Möbelstück von Ikea. Wir werden uns jetzt eine schlechte Shakespeare-Verfilmung ansehen und dann wird alles wieder gut."

„Thomas...", säusle ich, weiche von ihm zurück und bin fast den Tränen nahe, wenn ich erkenne, wie sein eigener Regen bald fällt. Er wirkt so verlassen von all seinen Hoffnungen und guten Gedanken. So verloren in dem dichten Nebel seiner feuchten Regenaugen. Ich scheine ihn gar nicht zu erreichen. Auch nicht, als ich ihm leicht die Schulter drücke. Ich schlucke und mir wird gleichzeitig bewusst, dass es ein zerbrechender Anblick gewesen sein, mich kurz vor meinem Selbstmord in der Küche zu finden.

„Du hast mich gerettet", flüstere ich erschüttert, ehe ich meinen Kopf gegen seine Schulter schmiege und entscheide, dass es besser ist, wenn die Stille all das versiegelt, was vor wenigen Sekunden uns beide in eine alte, beängstigende Zeit zurückgeholt hat. „Danke dafür..." Ich nehme seine Hand auf seinem Schoß und drücke sie ganz fest, signalisiere ihm damit, dass wir beide diesen Sturm wieder bezwingen können. Gemeinsam.

„Ich liebe dich, Bruderherz."

Lyn bleibt bei uns, bis der Film vorbei ist. Dann geht sie nach oben und ihre Schritte sind schwer, weil sie offenbar nicht daran gewöhnt ist, ohne meinen Bruder zu schlafen. Doch dieser ist irgendwann im Film davon gedriftet, sein Kopf gegen meine Schulter und seine Arme um mich. Nur ich bleibe als einzige wach und schaue mir irgendwelche Comedy-Serien an, die immer spät abends im Fernseher ausgestrahlt werden. Ich bin noch wach, als die Sonne bereits aufgeht. Bin noch wach, als Lyn für mich und meinen Bruder ein süßes Frühstück mit Pancakes und Muffins macht. Bin noch wach, als die beiden eine Runde spazieren gehen, und ich bin noch wach, als die beiden am Abend wieder schlafen gehen.

Die Zeit vergeht wie in einem Zug, huscht an mir vorbei und hält nicht an. Ich will auch gar nicht, dass sie stoppt. Wenn, dann soll sie das tun, was man immer über sie behauptet.

Sie soll Wunden heilen. Aber ich glaube, meine Wunden kann sie nicht heilen. Sie liegen außerhalb ihrer Reichweite, tief in meinem Herz verborgen. Dort können nur Wunder eindringen, keine Zeit.

Traurigerweise.

~*~

Noch 4 Tage

Es passiert wieder. Das Verlangen überfällt mich mitten in der Nacht. Aber dieses Mal liege ich schreiend im Bett wie ein hilfloser Embryo, die Finger fest in meinen Haaren vergraben. Mein Bruder tätschelt mir beruhigend den Rücken und flüstert mir schwache Worte von Aufmunterung zu. Ich beruhige mich allerdings nicht. Meine Angst wird lauter, schriller, und die heißen Tränen rollen über meine Wangen wie meine letzte Kraft, die aus mir fließt. Ich werde das nicht auf Dauer aushalten können. Es muss aufhören. So schnell wie möglich. Oder das Verlangen wird sein Ziel erreichen.

„Vielleicht solltest du auf sie hören, Tom." Ich sitze nach meinem ermüdenden Kampf auf der Couch, eingehüllt in einer dicken Wolldecke und die Knie an meine Brust gezogen, während Lyn sich verständlich für meine Ohren mit einem Bruder in der Küche unterhält. „Wir sehen doch beide, dass dich das kaputtmacht, und das will ich nicht. Ich will dich wieder lächeln sehen, Schatz. Also, ruf ihn an. Bitte. Es wird die richtige Entscheidung sein." Sie kennt die alte Geschichte von Bill und mir nicht, aber ich bin froh, dass sie den Mut dazu besitzt, ihn dennoch zu überreden.

Nur kann ich mir sehr gut vorstellen, wie schwer es meinem Bruder fällt, mich an jemand anderes weiterzuschicken. Wie ein verletztes Tier, um das er sich nicht kümmern kann – oder dem er nicht das geben kann, was es braucht, um gesund zu werden. Er scheint immer noch zu denken, dass er ein Zauberer ist und dass Verlangen vertreiben kann. Das Verlangen selbst ist jedoch ein dunkler und unberechenbarer Zauber. Jemand muss ihn brechen. Doch das kann niemand, außer ich selbst.

Ich brauche nur jemand, der es bereits geschafft hat, das Verlangen in einer seiner dunkelsten Stunden zu überwinden. Er wird mir helfen, die richtige Magie zu finden, um das Verlangen wieder zu schwächen, wenn nicht sogar zurück unter meine Kontrolle zu bringen.

Und das ist nunmal niemand anderes als Bill.

Mein Bruder seufzt aus und seine Stimme ist angespannt, schrecklich rau. „Ich weiß aber nicht, was er wirklich von ihr will. Was ist, wenn er das alles ausnutzt und sie zurück in die Dunkelheit bringt?"

„Das hört sich sehr idiotisch an." Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie ihn Lyn am Kinn berührt und vorsichtig über seinen Bart streichelt, um ihn wohl zu ermutigen. „Du hast vorgestern dasselbe beobachten können wie ich. Wenn es eines gibt, was dieser gutaussehende Schwede will, dann ist es, für sie dazu sein."

„Du findest ihn gutaussehend?" Toms Tonlage ändert sich und wird überrascht, aber auch lockerer.

Lyn lächelt, beugt sich zu ihm hoch und küsst ihn kurz auf die Lippen. „Nicht so gutaussehend wie du. Aber ich bin eindeutig Team Bill, wenn es um Emilias Wohl geht."

„Ich weiß nicht..." Sofort schaue ich ins Leere, als mein Bruder sich zu mir herumdreht. „Sie soll auf ihr Herz hören und das richtige in ihren Augen tun. Das ist alles, was ich mir für sie wünsche."

„Sie ist ein Hiddleston genauso wie du. Wenn nicht sogar nur wie du. Sie weiß, was richtig für sie ist. Also..."

„Werde ich das schwedische Möbelstück mal anrufen. Vielleicht hat er ja schon London verlassen", grummelt er wie ein brummiger Bär. Er will es eigentlich gar nicht, aber er scheint zu realisieren, dass es keine andere Lösung mehr gibt. Er tut das nur, weil er mich liebt. Das schätze ich unheimlich an ihm.

Bill wird allerdings zu seinem Pech noch in London sein und wird es auch bleiben, solange ich ihn nicht fortschicke. So hat er es zu mir gesagt.

„Emilia, kannst du mir Bills Nummer geben?"

Und kaum vergeht eine halbe Stunde, sitzt der genannte, junge Mann neben mir auf der Couch und hält mich so fest an sich gedrückt, als wolle er mit seiner Wärme das Verlangen eine Warnung senden. Er wird es nicht so leicht über mich gewinnen lassen, das spüre ich an der Art wie er mich festhält. Wie ein Beschützer. Ich fühle mich weniger allein, seitdem er wieder da ist, und kuschle mich so in seine Arme wie in einem warmen und geborgenen Traum, den ich nicht verabschieden will oder kann.

„Du bist derzeit in einem Hotel, oder? Wenn du willst, kannst du hier bei uns..."

Ich lasse meinen Bruder nicht aussprechen, weil ich bereits einen anderen Plan habe. Außerdem will ich ihn nicht mit Bill in ein Haus sperren. Das wäre zwar zu meinem eigenen Wohl gutgemeint, aber für ihn wäre es wie eine elektrisch geladene Spannung in seinem eigenen Haus, die ihn noch mehr wachhalten wird als ich es bereits schon tue. Das möchte ich nicht von ihm verlangen.

„Ich habe Bill bereits gesagt, dass er so lange bei mir wohnen kann, bis alles wieder in Ordnung ist."

„Du und er in deiner Wohnung? Zusammen?" Bills Griff verkrampft sich um mich, als er wie ich den entsetzten Ton meines Bruders hört. Ich löse mich nur widerwillig von Bill, um meinen Bruder einen eisernen Blick zu schenken, und dann lächle ich schief.

„Du musst dir keine Sorgen um mich und meine Jungfräulichkeit machen. Die wird selbst noch bestehen, wenn du dich kaum noch im eigenen Grab drehen kannst", sage ich frech und zeige ihm die blanke Zunge.

Mein Bruder fährt sich mit einem Seufzen durch die Locken und lehnt sich in den Sessel zurück. „Du bist also noch Jungfrau. Gut. Sonst hätte ich den anderen Tom mal gezeigt, wie sich die Hiddleston-Faust anfühlt."

Bill muss lachen, und es ist ehrlich und sanft wie der Blick, den er mir schenkt, als ich nur verdattert Augenbrauen hochziehe.

„Die Hiddleston-Faust?", will ich mich vergewissern, dass ich es auch richtig verstanden habe, und muss mich wirklich zusammenreißen, um meinen Bruder keinen „Du-bist-echt-verrückt"-Blick zu zu werfen.

„Ja, die Hiddleston-Faust!" Um seine Worte besser zu unterstreichen, hebt er tatsächlich die Faust in die Höhe und grinst mich stolz an, bevor er zusammenzuckt. Lyn steht hinter ihm und hat ihre schlanken Finger über seine Schultern gelegt, diese sie anfängt zu kneten.

„Ich glaube, das kommt von seinem Schlafmangel", lächelt sie beschämt und mein Bruder verzieht so das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Offenbar ist er nicht ihrer Meinung. „Ich bin wirklich froh, dass du schon so früh kommen konntest, Bill. Emilia wollte bereits gestern zu dir, aber der störrische Dickkopf hier...", an dem zerknautschenden Gesicht meines Bruders erkenne ich, dass sie fester zu massieren beginnt, „hat noch eine weitere schlaflose Nacht gebraucht, bis er auf mich gehört hat. Ich hoffe, du wirst das ganze besser handhaben als wir beide."

Sie spricht über mich wie ein Problem, und ich nehme es ihr nicht mal übel, dass sie das tut. Ich kann sie schließlich verstehen. Sie will einfach nicht, dass ich meinem Bruder zu sehr in das alles hineinziehe. Die letzten Tage sind bloß ein kleiner Auftakt von dem, was noch folgen wird, wenn er weiter beobachten wird, wie mich das Verlangen von innen zerreißt. Ich weiß, was das mit meinem Bruder macht und ich will ihn keineswegs ein zweites Mal verlieren. Er wird bald Vater und damit werden Herausforderungen auf ihn zu kommen, die er nur schaffen kann, wenn sie in seinem Fokus liegen. Ich will, dass er für seine Tochter da sein wird. Sie wird ihn mehr brauchen als ich.

Außerdem habe ich Bill.

Dieser schaut mir direkt in die Augen. Ein weiches und süßes Lächeln umspielt seine plumpigen Lippen so, dass die Grübchen an seinen Mundwinkeln hervortreten, und das leuchtende Irrlicht glänzt in seinen endlosen Seeaugen auf. Es scheint einen kleinen Tanz aufzuführen, so, als würde es sich freuen, mich wiederzusehen. Sofort falle ich in das blau-grüne Wasser und lasse mich dorthin treiben, wo ich geschützt werde und vergessen kann.

Ich muss mir eingestehen, dass ich mich wirklich besser, leichter, fühle, wenn ich bei ihm bin. Irgendwie gestützt und bestärkt, als bräuchte ich nur in sein hübsches Gesicht sehen, um das kraftvolle Gefühl zu ergreifen, dass das Licht gar nicht so weit entfernt ist. Es ist nah, aber noch nicht tastbar. Die warmen Funken toben in meinem wildklopfenden Herzen, lassen mich eine Magie fühlen, die nur etwas Schönes sein kann, und ich erwidere sein Lächeln vor Glück strahlend.

„Ich glaube, das werde ich ganz gut hinkriegen", antwortet Bill Lyn bedacht, ohne sich von meinem tiefgehenden Blick zu reißen, als hätte er dort etwas gefunden, von dem er sich nicht lösen kann. Ich mag diese Vorstellung. Es ist schön daran zu glauben, dass er dasselbe Wunder wie ich in seinem Herzen schlagen spürt. „Emilias Kampf zu unterstützen ist meine höchste Priorität, weil... ich sie nicht nochmal verlieren will. Und ich weiß, dass sie das packen wird. Wir sind schließlich miteinander verbunden." Er sagt das nicht zum ersten Mal. Doch er sagt diese Worte zum ersten Mal mit dieser hingebungsvollen Sänfte in seinen Augen und Stimme, dass ich anfange, auch daran zu glauben. Das entzückte Leuchten seines Irrlichts täuscht mich da nicht.

Es ist wahr.

Wir sind miteinander verbunden.

„Da habe ich keine Zweifel", sage ich leise und meine Finger wandern wie von selbst über sein Gesicht, weil ich nicht widerstehen kann. Ich muss ihn einfach berühren und dabei wie ein kleines Dummerchen lächeln. Bill ist so faszinierend und schön. Es ist nicht leicht seinem schüchternen Grinsen zu widerstehen, wenn unsere Blicke sich so tief ineinander verlieren, und es ist wie Magie. Wunderbare Magie. Ich kann mich nicht von ihm reißen. Muss ihn anschauen und berühren und sicherstellen, dass er echt ist; dass dieser Blick von ihm echt ist, der meinen so ähnelt; so mit Offenheit, Zuneigung und Hoffnung, und es ist, als wäre er das einzige, was ich brauche, um erlöst zu werden.

„Ich auch nicht", erwidert er atemlos, und dann versinke ich zurück in seine schützende Arme. Ich spüre seine Wärme wie Wellen in mir, die mich sanft durchfluten und mir dabei verhelfen, einen besseren Blick auf meine innere Zerstörung zu erhaschen. Es ist schrecklich. Fürchterlich. Nicht zu beschreiben. Doch es gibt Licht und Wunder, und so gibt es auch Hoffnung und wiedergefundenen Mut. Es wird nicht immer so aussehen. Es wird sich ändern, weil ich fühlen kann, wie ich langsam von innen bereinigt werde. Ich fühle die Kraft eines Gefühls, die meine Seele berührt und zart liebkost, und mit diesem Gefühl kommt Sicherheit und Ruhe über mich.

„Pass bitte gut auf sie auf, Bill", höre ich meinen Bruder noch sprechen und meine Augen werden schwer, „ich will sie nicht verlieren. Nicht an das Verlangen. Wenn du sie glücklich machst, dann soll es so sein. Solange sie nicht aufgibt, ist mir alles recht. Auch du."

Ich kriege es gar nicht richtig mit, wie ich in Bills Armen einschlafe. Aber kaum finde ich den Frieden zwischen den Funken unserer Herzen, treibe ich davon. Sowie es gewesen ist, als ich mich damals in Bill verliebt habe. Es ist einfach passiert. Ganz ungeplant. Zuerst langsam und fast nicht spürbar, aber dann hat er mich geküsst und ich habe alles in meinem Herzen wahrgenommen. Als hätte er meine Gefühle für ihn wachgeküsst. Ich habe nicht gewusst, wie sich Liebe anfühlt oder was Liebe überhaupt ist, aber nun weiß ich es.

Und ich habe Bill geliebt. Unheimlich. Auf eine ganz besondere Art und Weise.

Ich wünsche mir, er könnte sie ein zweites Mal wachküssen.

~*~

Noch 12 Stunden

„Hätten wir deinen Bruder vielleicht erzählen sollen, dass wir nach Los Angeles gehen?"

„Er hätte gedacht, du würdest mich entführen." Wir sind am Flughafen in London. Zum zweiten Mal in dieser Woche. Ich spiele nervös mit einer Hand am Saum meines Schals, die andere Hand ist fest von Bill seiner umschlossen. „Und dann auf grausamste Weise foltern."

Bill zieht den Kragen seines dunklen Mantels höher und blickt wie ich auf das Laufband, wartend auf unserem Koffer. Nach unserem sehr kurzen Aufenthalt in der Stadt der Schönen und Sternchen, scheint keiner von uns beiden das kalte Wetter vermisst zuhaben.

„Das hätte mir wohl ein Treffen mit der Hiddleston-Faust eingebracht", grinst er schelmisch und bewegt sich hastig nach vorne, als unser Koffer endlich über das Band rollt. Wir haben uns einen zusammengeteilt. Weder er noch ich haben für die 3 Tage in Los Angeles viel benötigt, also haben wir uns die Kosten für einen weiteren Koffer gespart. (Auch wenn wir uns das hätte leisten können, ist es so deutlich einfacher gewesen.) Der Koffer ist nicht besonders auffällig. Einfach nur schwarz.

Aber Bill ist es nicht. Nach allem, was in Los Angeles passiert ist, ist meine Faszination für den Schweden rapid gestiegen. Man kann sagen, ich kann meine Augen kaum noch von ihm nehmen, ohne dass mein Herzschlag wilder wird. Die Funken werden richtig heiß, kurz vor einer Explosion, und ich beiße mir nervös in die Unterlippe. Ich kann es nicht fassen, was geschehen ist, doch es sitzt in meinem Magen und in meinem Kopf fest und macht mich fast verrückt. Diese lebensverändernde Entscheidung ist wirklich fernab aller meiner Vorstellung gewesen. Ist es okay gewesen, sich dafür zu entscheiden?

„Bist du aufgeregt?", fragt mich Bill mit besorgter Mimik, als er vor mir zu stehen kommt und den Koffer loslässt. Er legt seine Hand an meine Wange, verzieht seine Lippen zu einem weichen Lächeln und streicht mir liebevoll über die Haut. Seine Augen leuchten auf, als ich seine Hand in meine nehme und angespannte Kreise über seine Handrücken zeichne. „Heute ist dein großer Tag, Tokfia."

„Es ist so vieles in den letzten Tagen passiert", sage ich und schnappe angestrengt nach Luft, da ich nicht mal die Hälfte davon realisiert habe, „und jetzt, in wenigen Stunden, werden alle wissen, wer ich wirklich bin. Kein Verstecken mehr. Nur blanke Offenheit. Ich weiß nicht, ob ich auf dieses neue Leben richtig vorbereitet bin."

Er beugt sich zu mir und lehnt seine Nasenspitze gegen meine, um mich völlig mit seinen fesselnden Seeaugen zu fangen. Ich kann so viel Mut und Zuversicht darin erkenne, die ich mir wünsche, auch zu haben. „Man kann sich auf das Leben nicht vorbereiten, ganz gleich, wie es sich ändern wird. Du kannst nur versuchen, es richtig zu leben. Es wird eine Erleichterung sein, wenn du erstmal deine Hülle los bist. Glaub mir, du wirst es nicht bereuen. Außerdem..." Er lächelt mich atemlos an und das Irrlicht ist klar und hell, lockt mich in die Tiefen seines warmen Blickes. „Außerdem hast du mich und das Verlangen wieder einigermaßen unter Kontrolle. Es kann also nichts Schlimmes passieren."

Er hat Recht.

Mein Leben wird viel leichter, wenn ich mich nicht mehr vor jedem verstecken muss. Und wenn der Totenschreiber gefasst worden ist, damit mein geliebtes London und auch mein Vater wieder friedlich schlafen können. Mein Vater sitzt bestimmt schon ganz in Aufregung vor dem Fernseher und wartet darauf, dass ich ins Licht trete. Ich werde ihn nicht enttäuschen. Ich will niemand mehr enttäuschen.

„Ich hoffe es, Bill." Ich schließe friedvoll die Augen, solange er meine Stirn küsst, bevor wir uns gegenseitig zurück in die leuchtenden Augen sehen. Sein Ausdruck muss das Ebenbild von meinem sein. Gänzlich verloren in der tiefen Leidenschaft und dem unleugbaren Vertrauen des anderen. Nichts ist kraftvoller als die Liebe. „Ohne dich hätte ich das alles nicht gewagt, was in Los Angeles auf mich zugekommen ist."

Er grinst zuckersüß und macht einen Schritt von mir weg, als wolle er mir seinen stolzen Blick nicht verwehren. „Du wirst eine atemberaubende Schauspielerin, Emilia. Und noch eine viel schönere..."

„Ssshh." Ich halte ihm sofort den Finger gegen die plumpigen Lippen, ehe er das letzte Worte noch aussprechen kann. Nichtsdestotrotz bringt der starke, aufgeregte Herzschlag fast meine Rippen zum Brechen. „Du weißt nicht, wo die Hiddleston-Faust überall ihre versteckten Mikrofone hat."

Das bringt ihn zum Lachen, und allmählich werde ich mir sicherer dabei, in Los Angeles die richtigen Entscheidungen getroffen zuhaben. Es kann gar nichts Schlechtes sein, wenn sie im Bezug zu Bill stehen. Nein. Auf keinen Fall. Das sind Entscheidungen gewesen, die das Herz beschlossen hat und das Herz vollbringt die Magie, zu die kein anderer Zauberer fähig ist. Das Herz ist die Quelle aller Wunder der Menschheit und ganz besonders der Liebe. Die Liebe selbst ist Magie. Das weiß ich nun.

„Oh, natürlich", grinst er, nimmt mit einer Hand den Koffer und mit der anderen mein Handgelenk. „Wir wollen dein neues Geheimnis natürlich nicht gleich in die Welt schreien."

„Genau", lächle ich zurück und nehme seine Sonnenbrille aus seinem schwarzen Rollkragenpullover, um sie ihm aufzusetzen. „Jetzt weiß nur ich, wer sich unter diesem hübschen Gesicht verbirgt." Wir schreiten los, zurück nach London und zurück zu meiner größten Herausforderung.

„Und wer verbirgt sich dahinter?", fragt er verstohlen und sein Grinsen könnte nicht breiter sein.

„Mein Själsfränka."

~*~

Noch eine Stunde

„Findest du es nicht auch merkwürdig, dass er die Bilder von dir noch nicht gelöscht hat?"

Ich höre Natalie zwar zu, aber ich starre die ganze Zeit auf mein Handy und warte auf eine Nachricht von meinem Bruder. Er hat mir noch nicht geantwortet, seitdem ich zurück in London bin, und langsam bekomme ich einen unangenehmen Knoten im Magen. Was ist, wenn er es doch mitbekommen hat? Was wird er dann von mir denken? Dass ich wirklich den Verstand verloren habe? Ich will mir den Kopf nicht abreißen wollen, weil ich nicht aufhören kann, mir solche dummen, überdramatisierten Gedanken zu machen. Es ist nicht die Zeit dafür. Nur noch eine Stunde und dann bin ich das Versteckspiel für immer los.

Natalie und Bill, der gerade zum Starbucks gegangen ist, um uns alle drei eine Pumpkin Spice Latte zuholen, sind die einzigen, die bei mir in dem kleinen Zimmer beim Piccadilly Circus sein dürfen. All die anderen Personen, wie Manager, Verlagspersonen und sogar eine Stylistin, habe ich nach einiger Zeit aus dem Raum geschickt. Ich habe meine Ruhe gebraucht, nur vertraute Personen um mich herum. Es sind mir zu viele Fragen um mein Wohl gewesen, zu viel Anspannung anderer, und ich mag es nicht, schon Fragen zu meinem „Coming-Out" beantworten zu müssen, wenn ich die ganze Zeit über in meinem Kopf schon die Worte durchgehen muss, die ich an die ganze Welt stellen werde.

„Wen meinst du?", frage ich und die Aufregung macht meine Stimme zittrig, fast unverständlich. Ich stehe von der schwarzen Ledercouch auf, gehe zum großen Wandspiegel hinüber und mustere mich selbst im Spiegelbild. Ein Haufen von bekannten Designer haben mir einiger ihrer ganz besonderen Kreationen zu geschickt, weil es natürlich ein Highlight ihrer Karriere wäre, würde E.H. Soulshout bei ihrem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit eines ihrer Kleider tragen. Aber ich fand manche so furchtbar, dass ich bei meinem eigenen Outfit geblieben bin. Ich will ihnen nicht jemand vorspielen, der ich nicht bin.

Also trage ich jetzt meinen roten, kurzen Rock in A-Linie mit der vorderen Knopfleiste, ein schwarz-weiß gestreifter Wollpullover mit Rollkragen und meine heißgeliebten Oxfords. Bei der Kälte habe ich noch eine Strumpfhose angezogen, und ich kann es kaum erwarten meinen schwarzen Mantel mit der großen Kapuze anzuziehen, um darunter mein Gesicht zu verstecken. Vorerst, bis ich auf der Bühne mitten im Piccadilly Circus stehe und sich alle Kameras auf mich richten. Sie haben mir tatsächlich eine Bühne zur Verfügung gestellt und mir gesagt, dass alles live ausgestrahlt wird. Das macht mich letztlich bloß noch nervöser als ich schon bin.

„Na, wer wohl?" Natalie kommt vom Hocker vor dem Stylisten-Spiegel zu mir hinüber und hält mir ihr iPhone vor die Nase. „Tom Holland! Er hat deine Bilder auf seinem Instagram behalten."

Ein stumpfes Stechen wie ein Messerstich lässt mein Herz sich zusammenziehen. „W-was?", stammle ich mit einem spitzen Stein im Hals und will ihr nicht glauben. Doch, als ich auf den Bildschirm sehe und sie durch Tom Hollands Feed scrollt, reiße ich vor Schock die Augen auf. All diese Fotos von mir. All diese schrecklich-schönen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit. Sie sind noch da. Sie sind kein Teil von Vergessenem. Nein. Sie existieren noch. Genau in diesem Augenblick. Genau in diesem holprigen Herzschlag in der Gegenwart. Ich kann es nicht glauben. Warum hat er sie nicht gelöscht? Wieso tut er mir das an?

„Sein letzter Post ist sogar von eurem letzten Abend", meint Natalie stutzig und scrollt wieder hoch, um einen einzelnen Post anzuklicken. „Ist das nicht verrückt? Ich weiß nicht warum, aber ich habe ein komisches Gefühl dabei. Als wolle er dir zeigen, dass du immer noch ein Teil seines Lebens bist."

„Nein", murmle ich und greife mir ins blonde Haar, während ich vereinzele Schritte zurückgehe. „Das muss ein Irrsinn. Ein anderes Profil. Er kann dieses Bild nicht hochgeladen haben..."

„Es gibt nur einen Tom Holland, der auf Instagram verifiziert ist – und das ist dieser Account. Er hat es hochgeladen, Emi." Natalie folgt mir auf die Couch und hält mir wieder das Bild vor die Nase, als wolle sie mein Herz tatsächlich zum Brechen bringen. Sie hat diesen ernsten Ausdruck in ihren himmelsblauen Augen, der mich erschreckt. Sie hat mich noch nie so angesehen. Als wäre sie wütend auf mich. Aber sie ist auch ziemlich aus der Fassung gewesen, als ich ihr von meinem letzten Abend mit Tom erzählt habe. Sie beharrt auf ihrer Meinung, dass Tom einfach von allem, was mich umgeben hat, zu stark eingeschüchtert gewesen ist. Ich halte daran fest, dass ich nicht das richtige Mädchen für ihn bin. „Er liebt dich immer noch. Ob du es glauben willst oder nicht, aber diese Bilder sprechen für sich."

„Welche Bilder und über wen redet ihr überhaupt?" Ich fahre schockiert auf, als ich Bills Stimme vernehme und er mit einem Starbucks vierer Karton in dem Raum steht. Anhand dem tiefen V zwischen seinen Brauen erkenne ich, dass er schon eine Vermutung hat, die ihm gar nicht zu gefallen scheint. Dennoch kann er seine Sorge nicht zurückhalten, als er meinen aufgelösten Blick auffängt, bevor er zu uns hinüberkommt und sich neben mich setzt. „Hier..." Er überreicht mir und Natalie mit einem ermutigenden Grinsen unsere Starbucksbecker. „Ich glaube, ihr müsst beide bei dem Schock erstmal etwas trinken. Ich habe extra mit viel Sahne bestellt. Heute wird auf nichts verzichtet."

Er ist so fürsorglich und guter Dinge. Aber mir ist bewusst, dass dieser Sonnenschein bald brechen wird, sobald er erfahren wird, was Sache ist. Und ich weiß nicht, was es aus meinem Herzen machen wird. Ich habe wirklich gedacht, Tom hätte uns aufgegeben, und jetzt...

Jetzt ist alles anders.

„Also, über wen habt ihr gesprochen?"

[...]

Ich muss schon den Verstand verlieren. Oder mir hängt noch länger der Hangover im Kopf, als ich es tatsächlich wahrnehme. Das kann aber nicht sein. Er ist mindestens zwei Tage alt. Ich blinzle irritiert und reibe mir mehrmals über das Gesicht, doch es bleibt dieselbe, bekannte Gestalt vor dem Haus meiner Familie. Ist das irgendein dummer Streich von ihr? Nimmt man so Rache an dem Jungen, der einem das Herz gebrochen hat? Verdammt, ich habe es wirklich getan. Ich habe ihr das Herz gebrochen, und nun sehe ich sie überall. Ihrem Geist ist es offenbar nicht ausreichend genug gewesen, mich in meinen Träumen zu besuchen und so wachzuhalten, jetzt muss er auch noch in unserem Vorgarten stehen.

Warum kann sie nicht einfach verschwinden? Mich in meiner Trauer allein lassen? Glaubt sie denn, sie ist der einzige von uns beiden, der mit einem gebrochenen Herz weiterzuleben hat? Ich hasse es, dass sie so egoistisch sein muss und mir zur selben Zeit ein schlechtes Gewissen macht, weil sie dort draußen steht und es regnet. In richtigen Strömen wie man das britische Wetter eben kennt. Sie wird sich noch erkälten, und dann wird sie ihren großen Tag nicht haben können, weil sie krank im Bett liegt. Bloß, weil sie verrückt ist und mich damit anstecken will. Aber ich möchte nicht, dass sie ihren großen Tag riskiert. Nicht meinetwegen.

Ich fühle mich schuldig genug, nicht dabei sein zu können. Und bei all ihren anderen großen Tagen auch nicht. Ich werde diese Möglichkeit nie mehr haben. Am meisten macht es mich fertig, dass ich das habe tun müssen. Sie verlassen. Für immer. Nicht nur für einen Monat wie ich es mir mal eingebildet habe. Für immer ist schlimmer. Für immer ist nämlich endgültig. Ein endgültiges Aus von dem außergewöhnlichem Feathergirl und dem wunderbewirkenden Sonnenjungen. Wir hätten es besserhaben können. Wir hätten ein Happy End verdient, das weiß ich.

Aber ich kann nicht an der Seite eines Mädchens bleiben, das bald sterben wird. Das wäre ein viel schrecklicher Schmerz gewesen als das kurze und endgültige Aus, weil da habe ich es selbst erzwungen und man hat sie mir nicht einfach weggenommen. Ich habe den Fäden über uns gesponnen und gesagt, es ist vorbei. Da ist kein Totenschreiber gewesen, der sie töten und mir entreißen wird, weil sie mir nicht länger gehört und es kein zweites Mal tun wird. Es wird keine zweite Chance geben. Kein Wiedersehen. Wenn ich London für die Dreharbeiten in Europa verlasse, dann werde ich das Land rechtzeitig hinter mir haben, bevor das Schönste davon vergehen wird. Ich werde es bloß in den Nachrichten lesen. E.H. Soulshot ist vom Totenschreiber ermordet worden. Und dann ist es wirklich vorbei. Doch diese Erleichterung ändert nichts daran, wie furchtbar dreckig ich mich fühle. Als hätte ich mir das eigene Herz herausgerissen.

Ich schnaube bei ihrer Sturheit, wie sie weiterhin im Garten steht und mittlerweile pitschnass sein muss. Ich kann das nicht weiter mitansehen. Sie darf nicht krankwerden. Sie braucht ihre Kraft, um der ganzen Welt zu zeigen, wer sie wirklich ist. Sie darf sich nicht weiter vor ihr verbergen, dafür ist sie zu schön, zu eigenartig und außergewöhnlich als weiter in ihrem Schatten zu leben. Das will ich nicht. Ich bin es ihr schuldig, ihr auf den richtigen Weg zu helfen, nachdem ich ihr schon das Herz gebrochen habe. Außerdem will ich, dass mein Stolz angemessen ist. Ich möchte nochmal stolz auf sie sein können.

Ein einziges und letztes Mal, wenn sie vor der Kamera stehen und allen erzählen wird, wer sie ist. Ich möchte nochmal sehen, wie ihre endlosen und tiefen Augen eines verborgenes Walden aufleuchten und man das Gefühl bekommt, als würde sich gerade das einzige Reh darin hinaustrauen, um sich zu zeigen. Mit stolzem und mutigem Haupte, weil es nichts fürchtet. Einfach nichts. Und ich will nochmal ihr Lächeln sehen. Ihr wunderschönes Lächeln, das jedes Licht im Universum in den Schatten stellt, weil nichts seine Schönheit und Ehrlichkeit übertreffen kann. Weil es rein und aus purem Herzen kommt, weil sie nicht davor zurückschreckt, Emotionen zu zeigen. Sie ist zwar zerbrechlich, aber umso stärker und gewillter dazu, ihren Platz in dieser Welt zu finden. Dafür habe ich sie immer beneidet.

Und wir beide haben mal angenommen, ihr Platz wäre bei mir. An meiner Seite. Nirgendwo anders.

Mein Herz wird unglaublich schwer, als ich die Treppenstufen hinuntergehe und mir einen roten Regenschirm aus dem Ständer bei den Schuhen nehme. Rot ist ihre Lieblingsfarbe. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte. Besser wäre es, ich würde drinbleiben und sie dabei beobachten, wie sie krankwird und im Bett bleiben muss. Doch mein Herz ist schwach. Ich bin schwach. Und meine Gefühle für sie viel zu stark.

„Wohin gehst du?", fragt mich Harry und mustert mich ausgiebig, „du willst bei dem Wetter doch nicht raus. Du weißt, dass du heute Abend nach Prag fliegst."

„Ich gehe nur kurz um den Block. Den Kopf freikriegen", sage ich und husche schnell hinaus, bevor er mich aufhalten kann. Hätte er Emilia im Vorgarten gesehen, hätte er mich garantiert nicht herausgelassen. Meine ganze Familie sorgt sich um mich. Bei meinen Freunden muss ich gar nicht erst anfangen, sie haben schließlich vor eigenen Augen gesehen, was die Trennung bei mir ausgelöst hat. Schmerz. Nur Schmerz. Und er hat einen Geist von Emilia in mir gepflanzt, der mich dauernd verfolgt. Egal, wo ich bin und was ich tue. Wie ein sicheres Zeichen dafür, dass ich einen Fehler begangen habe. Natürlich habe ich das. Ich verleugne ihn nicht. Ich liebe sie. Und ich habe sie auch geliebt, als ich unsere gemeinsame Geschichte einfach beendet habe.

Nur ist mir nichts anderes übriggeblieben. Keine andere Option, um die Situation besserzumachen. Ich habe sie nicht verlieren wollen. Nicht an den Tod. Nicht auf diese schmerzvolle Art und Weise. Es hat mich fertiggemacht hat, zu wissen, in welcher Gefahr sie sich begibt, wenn sie sich der Öffentlichkeit stellt. Sie ist praktisch eine tickende Zeitbombe gewesen, die explodieren wird, sobald der Totenschreiber ihr Gesicht kennt und weiß, wen er umbringen muss. Ich würde mich vor sie werfen, nur um sie zu beschützen.

Aber da habe ich bemerkt, dass ich das nicht kann. Ich kann sie nicht beschützen und mich selbst opfern, weil sie schon eine wichtige Person an den Totenschreiber verloren hat und ich will nicht dazu gehören. Sie würde sich für meinen Tod verantwortlich machen, ohne zu wissen, dass ich das nur getan hätte, weil ich sie so sehr liebe und mir alles andere egal ist. Aber das habe ihr nicht antun wollen. Ich wollte es uns beiden so einfach wie möglich machen, also habe ich mich dazu entschieden, es zu beenden.

Ich glaube nur, dass es keinen Unterschied zwischen dem Herzschmerz gibt. Zu dem, den ich gerade fühle, und dem, den ich gefürchtet habe zu fühlen. Er wird nicht besser, er wird schlimmer. Stündlich, wenn nicht sogar minütlich, weil meine Gedanken ständig um sie rasen. Ich sehe immer wieder ihr Gesicht vor mir. Diesen entsetzlich traurigen Gesichtsausdruck in ihrem hübschen Gesicht, als sie realisiert hat, dass es vorbei ist. Dieser Ausdruck, wenn die eigene Welt zusammenbricht. Er ist nicht zu beschreiben, nur voller Schmerz und angehaltener Zeit. Er ist endlos. Er wird immer in meinem Kopf bleiben, und ich denke, ich werde ihn auch nicht vergessen können. Ich wünsche mir, ich könnte sie lächeln sehen. Ein letztes Mal. Dann würde ich das alles vielleicht leichter verkraften, da ich wissen würde, sie würde wieder glücklich sein. In der kurzen Zeit, die ihr bleibt. Und ich hoffe so sehr, dass ich einfach nur zu viel Angst habe und der Totenschreiber sie am Leben lässt.

Was will er überhaupt von ihr? Warum ausgerechnet sie? Warum m... mein außergewöhnliches Feathergirl?

Ich bin in wenigen Sekunden schon bis auf die Knochen nass und eile zu dem blonden Mädchen auf dem Rasen. Sie trägt einen großen und breiten Hut, der ihr Gesicht vollständig im Schatten hält. Wie auf einer Beerdigung. Ich hasse es, dass sie das alles so überdramatisieren muss. Und andererseits kann ich es verstehen. Sie muss dasselbe in mir gesehen und gefunden haben wie ich in ihr. Fast so, als hätten wir in unserer gemeinsamen Zeit ein Labyrinth durchlaufen, bis zu dem Punkt, wo uns offenbart worden ist, was uns miteinander verbindet. Was für uns beide bestimmt. Da haben wir auf einmal gewusst, was wir füreinander empfinden, was wir in dem jeweilig anderem gefunden haben.

Ich habe meine große Liebe gefunden, und sie...

Sie muss vielmehr als ihre große Liebe gefunden haben.

Ich kann in meinem Gesicht nicht zwischen Regen und Tränen unterscheiden, aber meine Sicht wird unklar, als ich ihr den Regenschirm reichen will. Ich will etwas sagen, irgendetwas, auch wenn es nur ihr Name ist, doch ich bringe kein einziges Wort heraus. Ich starre sie nur einfach an und wünsche mir, ich könnte zu dem Moment zurückkehren, als ich das erste Mal realisiert habe, dass ich mich in sie verliebt habe.

Wir sind in SeaWorld gewesen, vor den Pinguinen, und sie hat mir davon erzählt, dass sie lieber nur einmal als mehrmals lieben würde. Vielleicht ist es wirklich so. Vielleicht liebt sie nur einmal und hat sich dazu entschieden, mich zu lieben. Für ihr ganzes Leben lang. Sowie ich es mir in diesem Moment gewünscht habe. Ich wollte derjenige sein, den sie so liebt wie er nun mal ist. In meinen schwachen sowohl auch starken Momenten. Mit meinen Makeln, Misserfolgen und Träumen. Mit allem, was ich bieten kann, und mit allem, was ich gewillt bin für sie zu tun, weil ich sie liebe. So sehr. Ich wollte, dass sie mit mir all ihre erste Male teilt und mich kennen wird wie kein anderer. Ich wollte für sie die eine Person sein, die so fühlen lässt, als würde sie in ihr sicheres und geborgenes Zuhause kehren. Ich wollte ihr Zuhause sein. Ihr alles. Und vor allem ihr wunderbewirkender Sonnenjunge.

Sie will sich umdrehen, da schlinge ich plötzlich meine Arme um ihre Mitte und presse mich an sie. Ich schluchze gegen ihren schwarzen Mantel und schließe die Augen, als ich fühlen kann, wie ihre Finger durch meine Haare streichen. Ich habe es vermisst. Diese Berührungen und ihre beruhigende Wirkung auf mich. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich einfach nur träume oder schon wahnsinnig bin.

Ich will mich vergewissern, ob das tatsächlich Wirklichkeit ist, und hebe den Kopf an, bereite mich darauf vor, wieder erneut in Tränen auszubrechen, wenn ich in ihr wunderschönes Gesicht sehe und den Schmerz darin erkenne, den ich dort hinterlassen habe. Ein unverzeihlicher, tiefer Schmerz.

„Es..." Ich komme nicht dazu meine Worte zu beenden. Sie drückt irgendetwas Weiches gegen mein Gesicht, das ganz eigenartig riecht, und plötzlich wird mir ganz schwindelig. Ich kralle mich an ihr fest, blicke irritiert in ihr Gesicht – und da stelle ich es endlich fest. Das ist nicht Emilia. Nicht meine Emilia. Das ist jemand anderes.

Sie lächelt mich zufrieden an und weicht so zurück, dass ich ins Gras falle. Ich werde schwacher, meine Augenlider drücken sich so zusammen, als stecke eine andere Macht dahinter. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Mein Körper schlägt sich gegen mich. Mit einem Mal wird mir klar, dass ich verloren habe.

Alles.

Ich hätte auf mein Herz hören sollen.

„Jetzt habe ich meine wertvollste Trophäe. Es wird Zeit, dass meine geliebte Emilia endlich erkennt, wofür sie tatsächlich bestimmt ist. Und du, du erbärmlicher Dreckskerl, wirst mir dabei helfen. Ich werde dir zeigen, wie schön das Verlangen ist und dann wirst du es auch sehen. Das Verlangen ist in jedem von uns."

Stille.

Nichts.

Nur Endgültigkeit.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top