Kapitel 3

Rauchwolken schlagen mir entgegen, als ich die wenigen Stufen zurück ins A-Gebäude hüpfend nehme. Im Gegensatz zu unseren ‘historischen’ Bibliothek sind unsere Vorlesungsräume wirklich purer Luxus, wenn man von der fensterlosen Dunkelkammer der letzten Stunde absieht. Die Außenwand besteht in diesem Raum komplett aus Glas und ich kann all jene Kommilitonen beobachten die das große Los haben schon in die Richtung der Parkplätze zu schlendern, welche die meisten von ihnen wohl nach hause führen. Meine Füße tragen mich weiter die Schräge des Bodens hoch, welche mich immer an die Sitzreihen eines Kinosaals erinnern, auf meinen angestammten Platz in der letzten Reihe. Durch die Leere im Raum hallt jeder Schritt von den Wänden wieder, als würde Kingkong persönlich einen Wolkenkratzer besteigen. Erst als das Gemurmel der Anderen den Raum füllt, legt sich auch dieses Symptom, wenn die letzten armen Schweine eintrudeln um ihren Nachmittag stillschweigend und natürlich vollkommen freiwillig hier verbringen. Ja klar… niemand ‘zwingt’ einen zum Studieren, abgesehen von dem Druck der Eltern und die Angst um einen guten Job, aber das Gefühl von Freiheit und Spaß stellt sich bei mir jedoch nicht unbedingt ein, wenn ich an die Anwesenheitsliste denke, welche in Fächern ohne Klausur oft herum geht.

Bei mir ist es wohl nicht viel anders als bei etlichen meiner Sitznachbarn in der letzten Reihe, der Druck der Eltern.

Die Stimmen um mich werden leiser als Prof. Dr. Dreher mit seinen Unterlagen unter dem Arm die Tür zum Vorlesungsraum schließt und die beiden Stufen zum Rednerpult besteigt. Ich weiß gar nicht genau was Herr Dreher genau ist oder war, bevor er sich entschlossen hat an der Uni zu unterrichten, aber jetzt ist er auf jeden Fall unser Kummerdoktor. In der Bravo würde es jetzt heißen: ’Dem Arzt dem die Studenten vertrauen!’. War doch so- Oder so ähnlich?

Das Mikrophone an seinem gelblichen Hemdkragen kratzt als der Mann mit dem lichten Deckhaar, beginnt in seiner lockeren, fast jugendlichen zeitgenössischen Art die Stunde zu beginnen. Man glaubt es kaum, aber ihm höre ich sogar manchmal zu. Wohl einer der wenigen Professoren die es überhaupt ermöglicht haben, dass ich es bis zu den Prüfungen im vierten Semester geschafft habe. Mein Blick fällt auf die große Uhr über der Tür. Das Zifferblatt ist eben so klinisch rein und frei von Schmuck wie alles andere in meinem Studiengang und obwohl ich die Art von diesem Prof. sehr gerne habe, ändert das wohl kaum etwas an meinem Desinteresse an der Materie.

Etliche Begriffe hallen durch den Raum, wiedergegeben von den Lautsprechern an der Decke und mir wird bitter bewusst, dass die meisten von ihnen mir nicht im Geringsten etwas sagen. In der Kombination mit prüfungsrelevant und äußerst wichtig hinterlässt der Dreher heute gar nicht den freundlichen Beigeschmack, welchen seine lockere Art sonst mit sich bringt, sondern ich habe eher das Gefühl einer sich anbahnenden Magenverstimmung für welche mir gerade ebenfalls das Fachwort entfallen ist. Auch der lateinische Begriff für Rippenbogen will mir einfach nicht mehr einfallen. Gerne würde ich es auf eine Amnesie schieben, doch diese Ausrede glaubt mir hier wohl keiner. Um mich herum höre ich das wilde Einschlagen in die Tasten des Laptops, kratzende Kugelschreiber und das Umschlagen von Papier. Sehe ich vor mich auf den Tisch, erblicke ich jedoch nicht einmal einen knittrigen Collegeblock, nein vielmehr glaube ich nicht mal, dass ich einen Kugelschreiber oder ähnliches dabei habe. Auf meinem kleinen heruntergeklappten Tisch liegt mein Handy und die angefangene Packung Gummibärchen von heute Morgen. Bevor ich überhaupt richtig gecheckt habe, was alle um mich so wild notiert haben und ich tatsächlich wenigstens ein Doc Dokument auf meinem Handy geöffnet habe ist die Vorlesung vorbei und ich bleibe orientierungslos in der letzten Reihe zurück.

“Krass wie du hier in aller Ruhe deine Gummibärchen isst, ich lern schon seit Wochen und hab das Gefühl mir will gar nichts mehr einfallen”, mit diesen Worten spricht mich die kleine Brünette mit der Brille neben mir an und ich habe einen Moment das Gefühl dass alle roten Blutkörperchen sich schlagartig aus meinem Körper verflüchtigen. Mir fehlt die Stimme für eine Erwiderung als mir bewusst wird, dass ich rein gar nichts für diese winzige, aber über alles entscheidende Prüfung gelernt habe. Nein nicht, nicht gelernt… es konsequent ignoriert trifft meinen geistigen Stand wohl eher und auch ein gutes Wort meines lieben Herr Dreher wird mir dieses Mal nicht den Arsch retten. “Naja ich muss”, verlässt mich auch die letzte Chance an Informationen zu gelangen und ich bleibe in meiner Starre noch einige Atemzüge allein zurück.

Das Abendrot blendet mich als ich weniger energievoll die Stufen zurück zu dem roten Backsteinhaus, welches sich Bibliothek nennt, hinter mich bringe. Meine Eltern enterben mich, wenn sie erfahren dass ihr perfekter Sohn volle lotte durch das Physikum gerasselt ist. Vielleicht mildere ich ihren Hass, wenn ich ihnen gleich mehrere schlechte Nachrichten aufeinmal überbringe. Sowas wie… Hey Mom...Daddy… ich bin durch das Physikum gerasselt und Moment! Ich bin schwul! Und- hier muss ich mir noch etwas überlegen, was die beiden vorhergegangenen Punkte übertrifft und ihren Hass auffängt, wobei meine sexuelle Vorliebe wohl bereits bekannt sein sollte, wenn sie sich wirklich auch nur einen Atemzug lang für mich und nicht für meine Leitungen in der Bildung interessieren würden. Vielleicht ist es ihnen aber auch egal, solange meine Noten stimmen und sie bei unseren immer äußerst unangenehmen Familienübereinkünften sagen können. ‘Joe-Nohas Werdegang läuft äußerst zielstrebig voran und wir sind uns sicher dass er ein namentlicher Arzt wird.’ Als wäre ich eine Trophäe welche man nur zu solchen Anlässen mal abstaubt und doch habe ich nicht die Eier in meiner lockeren Jeans um ihnen zu sagen dass ich keinerlei Bock auf ein Dasein als Arzt habe. Schon als Kind musste ich meine Zeit in irgendwelchen langweiligen Kliniken verbringen, wenn ich meine Eltern überhaupt mal sehen wollte, jetzt würde ich gerne mal etwas anderes als weiße Wände und den Geruch von Sterillium um mich haben.

Etwas traurig darüber dass Till nicht mehr im Gruppenarbeitsraum ist, betrete ich das von mir viel zu selten gesehene Innere der Ansammlung an Wissen unserer Universität. Ich kann diese Stille hier drin einfach nicht leiden, wenn selbst das Herausziehen der Geldbörse bereits einen Lärm verursacht, welcher arbeiten mit einem Presslufthammer gleich kommt, will ich garnicht erst noch den Reißverschluss meines Rucksackes schließen um das alte Leder wieder weg zu packen. Die Frau am Empfang sieht gelangweilt auf ihren Monitor, welcher wohl in der Optik des Hauses gehalten wurde, denn der Röhrenflimmerkasten, scheint mit ihr gemeinsam hier angefangen zu haben. Kurz vor Rente… beide… Als hätte sie meine Gedanken gehört, sieht sie plötzlich zu mir und das weiße Licht des Bildschirms lässt ihre Haut noch fahler wirken und ich habe einen Augenblick das Gefühl mich im Obduktionsraum verlaufen zu haben. Ich presse unschuldig die Lippen aufeinander und gehe ohne ein Wort an ihr vorbei. Alles ist voll Studenten. Wirklich alles! Egal wohin ich mich drehe jeder der freien Computer ist besetzt von einem völlig übernächtigten Studenten. Oft kann man bereits an ihrem Erscheinungsbild ihren Studiengang auswerten, schwierig fällt es mir jedoch bei den ‘Schlafanzugstudenten’, diese Art Student wandelt vor Prüfungen vermehrt ohne Schuhe und in Schlafanzug ähnlichen Outfit aus allen Bereichen durch die Reihen an gestapelten Wissen.

Hinter einem Berg an Büchern, angestrahlt von seinem Laptoplicht erkenne ich sogar das schwarz gefärbte Haar eines Kommilitonen aus meinem Semester, meine Gelegenheit doch noch ohne viel Arbeit und ohne eigenen Rechner an die wichtigstens Bücher zu gelangen. Mein gefärbter Emo, ist jedoch so gestresst, dass der Informationsaustausch in ein paar gewisperten Worten endet und er mir drei Bücher unter die Nase schiebt deren Platznummer und Titel ich mir kurzerhand mit dem Handy abfotografiere. Ein genervtes Zischen ist die erste Folge unserer Zweisatz-Unterhaltung und ich rolle ebenso angepisst von den anderen mit den Augen, bevor ich mich mit einem Lächeln von dem schwarzen Kerl dessen Namen ich vergessen habe, falls ich ihn jemals wusste, verabschiede. Ich ziehe mich am Geländer die Stufen nach oben und spiele weiter mein Spiel, ‘welcher Studiengang bist du?’

Die Tussi mit den aufgeschürften Knien und den völlig ungepflegten schwarzen Rändern unter den Fingernägeln. Biologin? Zumindest irgendwas mit Naturwissenschaft… Der weiße fleckige Kittel, welcher dem Kerl mit den viel zu langen Haaren über die schlaksigen Schultern hängt. Der gehört wohl auch dazu. Ich schiebe mich an den Beiden vorbei als mir ein Kerl im viel zu großen Hudi mit den massiven neongrünen Kopfhörern ins Auge fällt, welcher gerade dabei ist irgendwelche Bücher zurück zu sortieren. Ich brauch sein Gesicht nicht sehen um zu sagen dass es einer der verrückten Künstler an der Uni ist, wer sonst würde mit einem total farbverpfleckten Kapuzenpulli im Sommer herumrennen? Meine Reise durch den Sammelpool an Fachrichtungen geht weiter und als nächstes fällt mir das Mädchen mit dem Mundschutz um den Hals auf. Unübersehbar eine von uns, wobei ihr Hintern in der strahlend weißen Hose wirklich gut zur Geltung kommt. Joe… 4 zu 0 für dich! Aber noch keines der Bücher gefunden für welche ich mich extra hier herumschleppe, statt nach hause zu radeln.

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