Ich bin nicht nach Hause gekommen

Ich bin nicht nach Hause gekommen.

Zuerst wusste es meine Mutter, die um 23 Uhr verzweifelt die sich stetig fortbewegenden Zeiger beobachtete, sich jede Sekunde fragend, ob ich nicht doch bald durch die Tür stolpern würde. Betrunken und mit einer schlechten Ausrede. Zunächst stellte Sie sich vor, wie sie mir eine Moralpredigt halten würde, wie sie mir Hausarrest geben würde und mein Handy erst in zwei…nein mindestens drei Wochen wieder das Licht der Welt erblicken würde. Doch dann schwenkten ihre Gedanken um und sie stellte sich nur noch vor, wie sie mich fest in die Arme nehmen würde und mir erzählen würde, ihr nie wieder so einen Schrecken einzujagen.
Sie sah immer wieder auf ihr Handy, hoffend, dass ich endlich eine Nachricht schreiben würde. Schon drei Mal hatte sie die Nummer der Polizei gewählt nur um den Eintrag wieder zu löschen. Man kannte das ja aus dem Fernsehen, die Polizei tat nichts, bis eine Person nicht mindestens 24 Stunden verschwunden war. Doch dann siegte die Sorge, spätestens als sie sich nicht mehr vorstellte, wie sie mich umarmte, sondern nur noch, wie sie mich in einer Pathologie identifizieren sollte.

Dann wusste es die Polizei. Um genau zu sein eine Polizistin die auf der Wache schon fast eingeschlafen wäre, weil es sich um einen sonderlich ruhigen Abend handelte. Sommerferien, da waren sogar die Verbrecher im Urlaub und nachts wurden sie höchstens gerufen, weil eine Party aus dem Ruder lief. Aber an diesem Abend war, bis zu dem Zeitpunkt an dem das Telefon klingelte und meine Mutter am anderen Ende verzweifelt erklärte, dass es so gar nicht zu ihrem Sohn passte, dass dieser nicht Bescheid gab, wenn er länger wegblieb, alles ruhig gewesen.
Das Fernsehen hatte unrecht gehabt. Eine Person musste gar nicht 24 Stunden schon verschwunden sein bevor die Polizei etwas tat. Die Polizistin am Telefon musste nur für einen kurzen Moment die Müdigkeit aus ihren Knochen schütteln, dann war sie voll da. Sie versuchte meine Mutter zu beruhigen, mit Statistiken darüber, dass die meisten Teenager wieder von selbst zurückkamen, versprach aber bei der Party, zu der ich aufgebrochen war nachzusehen, ob dort jemand wusste wo ich war. Nachdem sie sich alle wichtigen Personalien durchgeben lassen hatte legte sie auf und ging in das Büro nebenan, um ihren Kollegen einzusammeln, der Träge auf dem Dienstrechner Solitär spielte.
Gemeinsam fuhren sie los. Ohne Blaulicht, zu der Adresse von der schon von weitem tiefe Bässe zu vernehmen waren.

Als Nächstes wussten es meine Klassenkameraden. Zumindest die, die auf der Party gewesen waren und die von dem plötzlich anfahrend Streifenwagen aufgeschreckt wurden. Joints wurden ausgedrückt und die ein oder andere Pille verschwand in der Toilette. Hatte ein Nachbar die Polizei gerufen, weil es so laut war? Verdammt wieso hatte Jonas die Anlage lauter gedreht, jetzt war der Abend gelaufen. Doch dann, Glück gehabt. Die Polizei fragte nur nach mir. Ob ich da gewesen wäre, ja. Ob ich noch da wäre, nein. Wann ich gegangen sei, hab‘ ich nicht mitbekommen. Hatte Streit mit jemandem? Nein. Die Polizistin ging wieder, als sie keine weiteren Informationen mehr herausfinden konnte, wollte die naheliegenden Straßen abfahren, ob ich dort irgendwo lag, angetrunken, orientierungslos und eine Weile blieb ich noch das Gespräch auf der Party.
Nachrichten wurden mir geschickt. Dass die Bullen nach mir suchten. Dass ich mich mal bei meiner Mutter melden soll. Dann als die Nachrichten nicht durchgingen, dass sie sich Sorgen machten. Doch schließlich wurde beinahe kollektiv beschlossen, dass ich sicher irgendwo pennte wo ich kein Netz hatte. War ich nicht schon sehr angetrunken gewesen? Ja, so wird es gewesen sein…ey, hast du noch nen Joint?

Danach wusste es das ganze Dorf. Nachdem ich die ganze Nacht nicht aufgetaucht war und es auch am Morgen noch kein Lebenszeichen von mir gab, wurden die Leute nervös. Meine Mutter begann die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie fragte Nachbarn, tauchte selbst in meiner Schule auf, fragte Lehrer, Mitschüler, eigentlich jeden. Ich wohnte in keinem sonderlich großen Dorf und so verbreitete sich die Nachricht schließlich wie ein Lauffeier, welches auch die örtliche Polizei ansteckte. Alles verfügbaren Polizisten wurden auf die Sache angesetzt. Es wurden Suchaktionen organisiert und bald gingen tagelang alle im Dorf die laufen konnten, durch die Straßen und Wälder, meinen Namen rufend, mit Stöcken bewaffnet und von Hunden begleitet. Mein Name schallte von jeder Hauswand wieder, von jedem Baum und verlor sich schließlich als Echo im Wald.
Flyer wurden verteilt, Facebook-Posts gemacht, Diskussionen geführt. Immer neue Erkenntnisse kamen herein, die sich schließlich allesamt im Sande verliefen. Man hatte mich mit jemandem streiten gesehen, aber der war nachweislich den ganzen Abend mit Freunden unterwegs gewesen. Man fand eine Weste die stark meiner glich, aber nein, diese lag noch in meinem Zimmer, die Weste die man am Wegesrand gefunden hatte musste also jemand Anderem gehört haben.
Jeder Hinweis war ein Stückchen Hoffnung, dass wieder im Keim erstickt wurde.
Mit jeder Minute wurden die Leute nervöser. Man kannte das ja aus Filmen. Wenn jemand verschwand zählte jede Minute. Und dieses Mal handelte es sich dabei um die Wahrheit.
Die Chance, dass ich lebend wieder auftauchte schwand um jede Minute. Jetzt lag die Wahrscheinlichkeit mich zu finden noch bei 90%, dann bei 80…70…50…

Daraufhin wusste es das ganze Land. Nicht nur die lokalen Nachrichten hatten das Thema an sich gerissen, auch die überregionalen berichteten bald Tag und Nacht von mir. Sondersendungen, Interviews mit meiner Mutter die in die Kamera hineinflehte ich solle doch zurückkommen. Dass sie auch nicht böse auf mich sei. Dass ein möglicher Kidnapper für immer anonym bleiben konnte, würde er mich nur frei lassen. Die Bevölkerung wurde dazu aufgefordert Tipps abzugeben, eine Belohnung wurde auf jeden Tipp ausgesetzt der der Polizei dabei helfen würde mich zu finden. Der Fall lag schon längst nicht mehr bei der örtlichen Polizei meines Dorfes, sondern wurde von der Landespolizeibehörde übernommen. Die Polizistin die damals zu der Party gefahren war konnte endlich wieder schlafen…oder hätte besser gesagt die Zeit dazu gehabt, denn tatsächlich Ruhe fand sie nicht. Sie wurde verfolgt von den Fehlern die sie gemacht hatte, oder die sie glaubte gemacht zu haben. Das Internet war voll von Anschuldigungen. Wenn dies und jenes gemacht worden wäre, wäre ich bestimmt nochmal aufgetaucht. Es war das Versagen der Polizei, dass ich nicht wieder zu Hause war.
Doch genauso haltlos wie die Anschuldigungen an diese arme Polizistin waren, die wirklich nur ihr Bestes gegeben hatte und alles richtig gemacht hatte, so verliefen auch die Tipps der Bevölkerung ins Leere. Es war nicht so, dass sich niemand meldete, aber die Spreu vom Weizen zu trennen war schon immer schwer, wenn es darum ging, dass die Bevölkerung Hinweise geben sollte, wenn es um die Aufklärung eines Falles ging. Insbesondere dann, wenn Geld im Spiel war. Den Leuten in meinem Dorf hatte ja noch etwas an mir gelegen, oder an meiner Mutter. Sie nahmen die Sache ernst, aber für die restlichen Menschen im Land, oder zumindest für die Meisten von ihnen, war ich nur eine Chance ein paar Scheinchen zu machen. Klar hatten sie mich gesehen, ich war an dieser Tankstelle gewesen, ich hatte diesen Laden besucht, diese Straße überquert. Doch jedem Tipp musste nachgegangen werden. Denn was, wenn man den einen richtigen übersah.
40%. 30%. 25%. 15%. 10. 9. 8. 7. 6. 5. 4. 3. 2. 1.

Und schließlich, wusste es keiner mehr. Die Nachricht über mein verschwinden war vergessen. Die Leute gingen ihrem Leben wieder nach als wäre nichts gewesen oder widmeten sich anderen Themen, die ihnen wichtiger erschienen. Ein Krieg, eine Naturkatastrophe, ein anderes vermisstes Kind oder die neusten Sportergebnisse. Ich blieb eine dumpfe Erinnerung in den Köpfen der Leute. War da nicht mal dieser eine Junge? Ja stimmt, das hatte ich total vergessen.
Nur meine Mutter hielt sich an dem Gedanken fest, dass ich noch leben könnte und irgendwo auftauchen würde. Sie würde nie die Hoffnung verlieren. Doch Hoffnung kann trügerisch sein. Sie mag die Menschen zwar beflügeln, doch genauso gut konnte sie einen verzehren, bis nichts mehr von einem übrig blieb als dieser einzige Funken Hoffnung, der in einer leeren Hülle brannte und all den Platz für sich vereinnahmte.

Doch ich bin nicht nach Hause gekommen. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top