Faded (5/5)

Das zweite Mal, dass er Gewissensbisse bekam war, als Milling ihm die Leitung der Entführung einer Schulklasse anvertraute. War das wirklich recht, was Milling hier tat? War das richtig? Half Julian das in irgendeiner Weise, zu seiner Familie zurückzukehren, oder diente es nur Milling diabolischen Zwecken? Es war Juni und der große Tag, von welchem Milling immer sprach rückte bedrohlich näher. Und Julian sollte Milling unterstützen. Leider hatte Julian noch immer nicht das nötige Geld zusammen, was er brauchte. Immer wieder hatte Milling ihm versichert, dass es bald reichen würde, und immer wieder hatte es nicht gereicht.

Aber Julian gab nicht auf. Diesmal, ja, diesmal würde er es schaffen, seine Familie vor den Menschen zu retten. Er würde sie nicht noch einmal verlieren. Anders als vor achtzehn Jahren würde er jetzt handeln, anstatt nur wie paralysiert zuzusehen. An den Menschen würde nicht erneut das Blut seiner Familie kleben. Das würde er nicht zulassen! Er sehnte sich so nach seiner Familie. Fast ein Jahr war es her, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte. Wie ging es ihnen? Wie war Charlotte damit klargekommen, dass ihr Vater auf einmal weg war? Jedes Mal, wenn er das Foto der zwei Bären anblickte, welches er aus Kanada mitgenommen hatte, stach ein Messer direkt in sein Herz und hinterließ dort eine klaffende, tiefe Wunde. Was würde er nur alles dafür geben, sie wiederzusehen? Manchmal ertappte er sich sogar bei dem Gedanken daran, aufzugeben und zurückzukehren. Doch was würde Dawn von ihm halten? Er konnte sie nicht enttäuschen, er würde sein Versprechen halten. Er musste hier und jetzt weiterkämpfen, egal wie schwer es ihm fiel. Bald hätte er genug Geld zusammen, um das Territorium aufzukaufen, das wusste er.

Aber würde er dies durch Millings Mittel schaffen?
Früher wollte Julian immer etwas Großes werden. Eigentlich hatte er diesen Traum schon aufgegeben, doch als Milling ihn als seinen Stellvertreter ernannte, flammte er wieder in Julian auf. Hatte er es geschafft? War er zu etwas Großem geworden? Die Antwort auf diese Frage wusste er nicht sicher, doch sein Vertrauen in den einflussreichen Mann schien ihm Lösung genug zu sein. Milling verachtete die Menschen, genau wie Julian. Beide waren sie ihrer Familie beraubt wurden. Vielleicht war es Schicksal, dass die beiden sich getroffen hatten. Aber die Schuldgefühle, welche sich nachts, wenn er schlafen wollte, heimlich einen Weg in sein Bewusstsein bahnten, machten ihn verrückt. Du hast viele Menschen ihres Eigentums beraubt, Julian, du hast sie um ihre Kinder bangen lassen, du wolltest zwei Kinder sogar TÖTEN, flüsterten sie. Julian versuchte sie weites gehend zu ignorieren, aber ganz konnte er es nicht.

Ein Splitter. Ein Splitter war es, was noch von Julian übrig blieb. Alles, alles war aus. Zu Ende. Er fühlte sich betäubt. Benebelt. Kalt. Er hatte es nicht geschafft. Er hatte nichts geschafft. Wie konnte er nur so töricht gewesen sein, Milling zu vertrauen?! Noch immer hallten Lissa Clearwaters Worte in seinem Kopf wieder, prallten gegen leere, verblasste Wände. Andrew Milling hat euch alle getäuscht. Er hat nie versucht, die Wildnis zu bewahren oder euch vor den Menschen zu schützen. Wir haben herausgefunden, dass er ein großes Wildnisgebiet verkauft hat, das anschließend durch Rohstoffabbau zerstört worden ist. Zuerst hatte Julian es nicht glauben wollen. Nein, so etwas würde Milling nicht tun. Doch dann wurde ihm schmerzlichst bewusst, dass die Adlerin die Wahrheit sagte. Ein Gemisch aus Wut, Verzweiflung und Trauer kam in Julian hoch und zerstörte ihn. Er zitterte. Alles um ihn herum drehte sich, verblasste. Er blendete alle Geräusche aus. Nur seinen eigenen, schnellen Herzschlag hörte er noch, dröhnte ihm in den Ohren. Milling hat gelogen. Nie wollte er Julian unterstützen. Er hatte ihn nur

ausgenutzt. Jetzt gab es keine Hoffnung mehr. Er war verloren. Sein Revier war verloren. Seine Familie war verloren. Ein weiteres Mal. Und wieder hatte Julian nichts daran ändern können, obwohl er alles, alles versucht hatte. Ein weiteres Mal würden die Menschen sie töten.
Warum? Warum nur.

Er lachte. Es war kein glückliches Lachen. Julian versuchte irgendetwas zu überspielen. Seine Beine gaben nach, er brach zusammen, stützte sich mit seinen Händen auf den trockenen Waldboden. Etwas löste sich aus seinen Augen, etwas nasses. Eine Träne rollte seine Wange hinunter und landete am Boden.
Das war das zweite Mal, dass Julian sich alleine fühlte.

Er presste die Augen zusammen. Er durfte nicht weinen. Nicht vor all diesen Leuten. Die Wut überkam ihn. Die heiße Wut auf alles und jeden, vor allem aber auf Andrew Milling. Dieser elende Verräter! Nichts von seinen Worten war ernst gemeint gewesen. Etwas durchzuckte seinen Körper, wie ein brennender Blitz schlug es ein. Julian wusste nicht, wie ihm geschah. Alles wurde größer, und er kleiner. Seine Sicht veränderte sich und er spürte auf einmal mehr Gliedmaßen an seinem Körper.

Eine ungewollte Verwandlung. Wie damals, vor achtzehn Jahren. Das war der Grund gewesen, weshalb er seine Mutter und seine Schwester nicht retten konnte. Und sie würde auch der Grund sein, weshalb er Dawn und Charlotte nicht retten können würde. Etwas Schweres traf seinen Körper. Zerquetschte ihn unter dem Gewicht. Was es war, sah Julian nicht. Er sah gar nichts mehr. Alles wurde schwarz. Seine anderen Sinne verschwanden. Sein Leben zog vor seinem inneren Auge vorbei, bevor es verblasste.

Das war das Ende. Das absolute, endgültige Ende. Nichts hatte Julian erreicht, in seinem jämmerlichen, kleinen, wertlosen Leben. Es hatte nichts gebracht. Er hatte sie nicht beschützen können.
Es tut mir leid.
Ich konnte mein Versprechen nicht halten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top